Schule im Krankenhaus
Zu Besuch in der Dothanschule für Kranke in Bielefeld (Nordrhein-Westfalen)
Wer denkt, Krankenhaus und Schule gehören nicht zusammen, der war noch nie in einer „Schule für Kranke“. Dort werden Kinder unterrichtet, die voraussichtlich über das Jahr verteilt wegen ihrer Krankheit mehrere Wochen nicht zur Schule gehen können. So verlieren sie trotz ihres Krankenhausaufenthaltes nicht den Anschluss an den Unterricht und ihnen wird ein Stück Normalität zurückgegeben. Und so sieht das in der Dothanschule in Bielefeld aus.
„Schlauch“, sagt René zögerlich und denkt einen Augenblick nach. „Schläuche“, sagt er dann und klatscht dabei in Hände, um die richtige Silbentrennung herauszufinden. „Bauch – Bäuche“, kommt es dieses Mal schneller. „Und aus Braut wird Bräute.“ Sobald René einmal verstanden hat, wie der Plural gebildet wird, gibt es kein Halten mehr: Er zählt alle weiteren Pärchen fehlerfrei auf. Dagmar Schreier nickt zufrieden. „Jetzt musst du das nur noch hier hinschreiben“, fordert die Lehrerin den Viertklässler freundlich, aber bestimmt auf. Doch der zögert: „Ich weiß aber gar nicht, welche Farben die anderen für die Endungen nehmen.“ Eigentlich ein kleines Problem – schnell den Sitznachbarn gefragt und schon ist das Problem gelöst. Doch so einfach ist es nicht, denn René sitzt nicht in seiner eigenen Schulklasse – er ist im Augenblick Schüler der Dothanschule und Patient der Fachklinik für Epilepsie.
„Bei uns werden Kinder unterrichtet, die wegen ihrer Krankheit voraussichtlich mindestens vier Wochen nicht in ihre Heimatschule gehen können“, erklärt Schulleiter Markus Brauer, „damit wollen wir dabei helfen, dass Kinder, die wegen ihrer oft schweren Krankheit ja sowieso schon benachteiligt sind, sich nicht auch noch Sorgen machen müssen, in der Schule zurückzufallen.“ Insgesamt verteilt sich die Dothanschule der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel auf drei Standorte: einer befindet sich im Klinikum Mara/Kidron, in dem Kinder und Jugendliche mit Epilepsie aus ganz Deutschland unterrichtet werden, ein weiterer nahe der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und der dritte in der Kinderklinik, in der überwiegend Schüler mit onkologischen oder psychosomatischen Erkrankungen unterrichtet werden. An jedem der drei Standorte arbeiten rund drei Lehrer.
Der Schulbesuch gehört beispielweise zum ganzheitlichen Behandlungskonzept des Klinikums Mara/Kidron dazu: Jede Woche werden neue Schüler aufgenommen, andere entlassen und wieder andere bleiben länger oder auch kürzer als geplant – es ist viel Flexibilität und Spontaneität im Alltag gefragt. Trotzdem gibt es einen Rahmenplan, der für eine Gruppe Unterricht von 08:30 Uhr bis 10:10 Uhr vorsieht und für die andere Gruppe von 10:15 Uhr bis 11.45 Uhr. Außerdem findet einmal die Woche nachmittags der Sportunterricht für alle zusammen statt und voneinander getrennt dürfen die Kinder und Jugendlichen einmal die Woche in der Schulküche einen Mittag gemeinsam kochen. „Für die Kinder ist die Schule in diesem Fall eine schöne Ablenkung und bringt ihnen ein bisschen Abwechslung in den Alltag“, so Brauer. Außerdem sind sie so unter Gleichaltrigen, denen sie ihre Krankheit nicht erst erklären müssen, bei denen es nicht im Vordergrund steht und die sie so nehmen, wie sie sind.
Abwechslung im Alltag haben auch die Lehrer der Dothanschule: Anders als ihre Kollegen an den Regelschulen, müssen sie sich auf alle Schulformen und Klassenstufen einstellen können. „Grundsätzlich unterrichten wir zwar nur die Kernfächer Deutsch, Mathe und Englisch, aber wenn ein Schüler uns sagt, dass er in der Woche nach seiner Entlassung zum Beispiel eine Arbeit in Geschichte oder Biologie schreibt, dann machen wir natürlich auch das mit ihm“, so Brauer. Manchmal sei es herausfordernd, in relativ kurzer Zeit eine Beziehung zu einem Schüler aufzubauen, doch in den meisten Fällen schaffe man es. Das gehört zum Konzept der Schule: man geht auf jeden Schüler individuell ein, sieht dabei den ganzen Menschen und versucht, das Optimale möglich zu machen. „Unsere wichtigste Frage ist immer: Was braucht der Schüler?“, sagt Brauer, der selbst Sonderpädagoge ist.
Die Bedürfnisse der Schüler erfahren die Lehrer durch Gespräche mit den Eltern, den Kindern selbst, aber auch Ärzten, Therapeuten und nicht zuletzt der Heimatschule. In Telefonaten leisten die Pädagogen beispielsweise Aufklärungsarbeit über Epilepsie, beantworten Fragen und reagieren auf Unsicherheiten. Hin- und wieder müssen sie die Lehrer der Heimatschulen auch etwas bremsen, wenn es um die Menge der Aufgaben geht, die sie ihrem Schützling mitgegeben haben. „Mehr als anderthalb Stunden Unterricht am Tag geht einfach nicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kinder in erster Linie aus medizinischen Gründen hier sind“, so Dagmar Schreier. Es stünden viele medizinische Termine und Untersuchungen an und oftmals seien die Kinder durch ihre Krankheit oder die Medikamente auch müde und erschöpft, das müsse man mitberücksichtigen. „Außerdem sind anderthalb Stunden konzentrierter Einzelunterricht auch viel anstrengender als ein normaler Schultag in der Klasse, wo man sich in manchen Stunden etwas mehr zurücknehmen kann“, sagt Schreier.
Das sieht auch Milo so, der gegen Ende der anderthalb Stunden schon unruhig auf seinem bunten Stuhl herumrutscht. Der Zweitklässler arbeitet gerade an Matheaufgaben, aber mit der Zeit wird er immer unkonzentrierter und es schleichen sich Fehler ein. Geduldig weist Schreier ihn darauf hin und Milo korrigiert die Flüchtigkeitsfehler. Er strahlt, als Schreier ihm einen blauen Stempel mit der Maus drauf in sein Matheheft drückt – den bekommt, wer etwas richtig gut gemacht hat. Mit René zusammen darf er schließlich den Unterrichtsraum etwas früher als eigentlich geplant verlassen und nebenan Karten spielen. „Wir versuchen hier natürlich den Kindern Schlüsselqualifikationen zu vermitteln und dafür zu sorgen, dass sie an Dingen dranbleiben, sie abarbeiten und hinterher zum Beispiel auch aufräumen“, erzählt Schreier, „aber wir wollen den Kindern gleichzeitig auch zeigen, dass Lernen Spaß machen kann. Und wenn ich sehe, dass ein Kind wirklich müde und kaputt ist, dann mache wir halt was Anderes und das ist dann auch vollkommen in Ordnung.“
Dagmar Schreier ist eine freundliche, resolute Frau, die schon seit 15 Jahren an der Dothanschule unterrichtet. Für sie ist es besonders schön zu erleben, dass Kinder, die mit so vielen verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestattet sind, so gut miteinander zurechtkommen. Das zeigt sich zum Beispiel im inklusiven Sportunterricht, an dem alle Altersklassen und auch die Kinder mit Behinderung zusammen teilnehmen. „Als wir letztens mit dem Schwungtuch gearbeitet haben, war das für die Kinder total toll und für die Jugendlich furchtbar langweilig, aber niemand hat sich geweigert mitzumachen. Die Großen haben zurückgesteckt und sich dann darüber gefreut, dass die Kleinen so großen Spaß hatten“, erzählt Schreier.
Trotzdem sei es natürlich manchmal eine Gratwanderung, den alltäglichen Unterricht so normal wie möglich zu gestalten und gleichzeitig zu sehen, was gehe und was eben nicht – schließlich arbeite man immer noch mit zum Teil schwerkranken Kindern. „Wir haben es hier zum Teil mit schwierigen Verhaltensweisen oder auch mit schwerer Epilepsie zu tun, da ist es schon oft schwer, nicht mit den Schülern mitzuleiden, sondern eine professionelle, aber zugewandte Haltung zu bewahren“, gibt Schreier offen zu. Das gelänge jedoch mit der Zeit immer besser, die Erfahrung helfe einem dabei einen kühlen Kopf zu bewahren und zu tun, was in der jeweiligen Situation notwendig sei und dem Kind das zu geben, was es gerade brauche – sei es eine tröstende Umarmung, ein Augenblick zum Ausruhen auf dem Wasserbett oder die Anwesenheit der Eltern.
Auch die Dothanschule als Ganzes soll ein Ort sein, an dem Menschen bekommen, was sie brauchen. So wie der biblische Ort Dothan, der im Alten Testament vorkommt und an dem es genügend lebenspendendes Wasser für alle gab.
Lena Ohm (evangelisch.de)
Serie von evangelisch.de