Eine Schule ohne Stundenplan
Zu Besuch in der Evangelischen Jakobusschule Karlsruhe (Baden-Württemberg)
Eine Schule, in der es keinen Stundenplan gibt? Gibt es: Die Evangelische Jakobusschule in Karlsruhe. Dafür hat hier aber jede Schülerin und jeder Schüler einen eigenen, festen Schreibtisch, den sie sich so gestalten, wie es ihnen passt – ob mit Pferdepostern oder Fußballstickern. Schließlich verbringen sie viel Zeit hier: An diesem Platz erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler das, was in den sogenannten „Inputs“ angestoßen und danach individuell vertieft wird.
Einen klassischen Stundenplan gibt es nicht, dafür aber einen Wochenplan. Den haben die Lehrkräfte am Freitag in mühevoller Arbeit zusammengepuzzelt. Und nun, Montagmorgen, kurz nach acht, hängt das Angebot für diese Woche im großen Gruppenraum und die Kinder aus der Lerngruppe „Mondsteine“ stehen davor. Die Lerngruppe hier im Gemeinschaftsschulzweig (es gibt auch einen Grundschulzweig an der Jakobusschule) besteht aus zwei Klassen à 21 Schülerinnen und Schülern, in denen die Jahrgangsstufen fünf bis sieben vertreten sind. Betreut werden sie von zwei Lehrkräften, die sich hier mehr als „Lernbegleiter“ verstehen, und einem Erzieher oder einer Sozialpädagogin. Dazu kommen weitere Fachlehrkräfte und zurzeit eine Praktikantin.
Die Kids sollen sich nun ihren Plan für die Woche zusammenstellen, bestehend aus mehr oder weniger feststehenden Inputs und variablen Angeboten. So ist zum Beispiel klar, dass es nachher einen vertiefenden „Deutsch-Input“ geben wird, zu dem es keine Alternative gibt. Aber es gibt auch diverse Inputs „Film“ zur Auswahl. Es steht nämlich Ende der Woche eine Exkursion ins Kino bevor, in dem ein Film zum Thema „Flucht und Integration“ gezeigt wird. Vorbereitend dazu gibt es über die ganze Woche verteilt Angebote von verschiedenen Lehrkräften, von denen mindestens eines von jedem der Kinder besucht werden muss.
Und dann wird es wuselig: Die Schülerinnen und Schüler haben sich ihren Wochenplan in ihrem „Lerntagebuch“ zusammengestellt und eilen nun zu den Lehrkräften, um ihn gemeinsam durchzugehen und abzeichnen zu lassen. Hier findet schon mal die ein oder andere Korrektur statt, wenn etwas absolut nicht passt. Oder, wenn es notwendig ist: Ist nämlich jemand in Mathematik zum Beispiel ein bisschen hintendran, kann er oder sie durchaus eine Zeit lang mal ein bisschen mehr Mathe machen – und dafür in einem anderen Fach etwas zurückstecken. Das haben die „Lerncoaches“ im Blick: Viele Lehrkräfte betreuen nämlich zusätzlich zu ihrer „normalen“ Lehrtätigkeit noch Lerngruppen mit jeweils sechs Kindern intensiv. Mindestens einmal die Woche gibt es ein Einzelcoaching von 15 bis 20 Minuten. Das bedeutet, dass man sich gemeinsam das Lerntagebuch und die Lernnachweise anschaut, die Lernsituation bespricht und Vereinbarungen trifft.
Christina Bayer hat zuvor ihr Referendariat an einem normalen Gymnasium gemacht und ist begeistert von dieser Art der Betreuung: „Ich war dort auch in einer sechsten Klasse und hatte das Gefühl, überhaupt nur die Hälfte der Schülerinnen und Schüler zu kennen. Hier dagegen ist das eine richtige Beziehung, da weiß ich ganz viel über meine Coachees – und die auch über mich. Und da kann ich auch entsprechend darauf reagieren, wenn zum Beispiel mal zuhause etwas nicht stimmt. Wenn ein Kind in einem Fach hinterherhinkt, können wir gemeinsam schauen, dass es das nachholt und in einem anderen dafür mal langsamer macht. Am Gymnasium kannte ich das nicht, da war jeder Lehrkraft ihr eigenes Fach am wichtigsten.“
Hier hingegen arbeiten die Lehrkräfte deutlich enger im Team zusammen. Und sie unterstützen die Kinder bei ihren je eigenen Stärken und Schwächen und versuchen, die jeweiligen Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen, zu berücksichtigen. Im pädagogischen Konzept der Jakobusschule heißt es: „Unsere Schule fördert die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer individuellen Begabungen und befähigt sie, ihren Platz in der schulischen Gemeinschaft und in der Gesellschaft einzunehmen.“ Dabei orientiert sich die Jakobusschule in den Grundlagen an der Pädagogik von Maria Montessori und anderen reformpädagogischen Ansätzen. Daraus abgeleitete Prinzipien lauten zum Beispiel: „Wir stellen uns auf den Entwicklungsstand und die Bedürfnisse eines jeden Kindes ein, wir begrüßen die Heterogenität der Lerngruppe als wünschenswerte Normalität, wir trauen Kindern selbstbestimmtes und freies Arbeiten zu und wir fördern Selbstvertrauen und Eigeninitiative.“
Und das zeigt sich an einem normalen Schultag an vielen verschiedenen Stellen. So beginnt die Woche an diesem Montag – wie jede andere Woche auch – mit einem gemeinsamen Morgenkreis: Einer Andacht, die von zwei Schülerinnen vorbereitet und gestaltet wird. Alle sitzen im Kreis auf dem großen blauen Teppich in der Mitte des Raums. Das ist übrigens auch bei den "Inputs" hier nicht anders. Bei Kerzenlicht wird gemeinsam gesungen, dann tragen die beiden Mädchen die Schöpfungsgeschichte vor. Das tun sie mittels verschiedenster Gestaltungselemente (z. B. Püppchen, Wasser oder Elementen aus Pappe), die aus dem „Godly Play“ stammen, einer Erzähltechnik, die man auch hier an der Schule lernen kann. Nach dem Abschlusslied werden gemeinsam die wichtigen Dinge des Tages und der bevorstehenden Woche besprochen und aktuelle Ansagen gemacht.
Daran schließt sich die erste Runde Inputs an. Während einige direkt an ihren Schreibtisch gehen, sammeln sich 14 Kinder zum Französisch-Input der Jahrgangsstufe sechs. In der Regel sind diese Facheinheiten jahrgangsübergreifend, aber es gibt sinnvolle Ausnahmen: Sprachen zum Beispiel, bei denen die Lerninhalte stark aufeinander aufbauen. Oder Sexualkunde. In der Regel dauert so ein Input 25 Minuten (auch hier gibt es sinnvolle Ausnahmen, Sport beispielsweise). Zeit genug, um zum Beispiel in diesem Französisch-Input die Konjugation der Hilfsverben mittels Live-Kinetik einzuüben. Dabei werden die Sätze laut ausgesprochen und mit bestimmten Bewegungen verknüpft, damit sich das Erlernte besser im Gehirn festsetzt. Gut, dass hier nur ein Teppich liegt und keine Stühle und Tische mehr beiseite geräumt werden müssen. Am Ende gibt es das Material für die Freiarbeits-Aufgaben, die bis zur nächsten Woche erledigt werden sollten. Einiges davon ist komplett freiwillig. Die Übersetzung des Crepes-Rezepts aber ist die „Eintrittskarte“ für den „Crepes-Input“ nächste Woche. Ist die nicht erledigt, kann man nicht teilnehmen. „Was nehmen die Schülerinnen und Schüler aus dem Input mit? Das muss die Kernfrage jeder Planung sein“, erläutert Frau Bayer.
Die Vertiefung „Deutsch“, erkennbar am Blitz-Symbol im Wochenplan, beschäftigt sich mit dem Thema „Personenbeschreibung“. Sie ist vor allem für die Kinder wichtig, die sich auf den nächsten Lernnachweis in diesem Fach vorbereiten wollen. Benotet wird der nicht, schließlich gibt es hier Noten überhaupt nur im Abschlusszeugnis. Aber er dient als Grundlage für das Wechselspiel aus „Feedback und Feedforward“, wie es Schulleiterin Heike Schaßner-Weber beschreibt, also für die gemeinsame Reflexion des Lernfortschritts mit den Lerncoaches, der auch für die Eltern nachvollziehbar sein sollte. Deshalb ist Marko Wolny, der den Deutsch-Input leitet, auch darauf bedacht, dass die Schülerinnen und Schüler, die für heute nicht die verabredete Personenbeschreibung gemacht haben, diese noch nacharbeiten. Das führt sonst auch zu einer Notiz im Lerntagebuch, erklärt Wolny, damit die Eltern, die das Lerntagebuch regelmäßig unterschreiben müssen, davon erfahren. Nur so kann dann auch gemeinsam nach Lösungen gesucht werden, falls es zu größeren Defiziten kommen sollte. Das geht Hand in Hand hier, das Ziel ist, dass niemand „durchrutscht“, kein Problem unbemerkt bleibt. „Das ist vielleicht auch der einzige Nachteil, wenn man das so nennen will“, schmunzelt Christina Bayer: „Ich nehme meine Sorgen um die Kinder, meine Gedanken, die ich mir mache, noch mehr auch mit nach Hause, als ich das an meiner früheren Schule getan habe.“
Ein weiteres Beispiel für die Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler ist der erste „Film-Input“ zum Integrationsfilm an diesem Morgen. Er wird nämlich nicht von einer Lehrkraft gestaltet, sondern von Hasan, einem Schüler mit türkischem Migrationshintergrund. Er macht einen kleinen Türkisch-Crash-Kurs mit seinen Mitschülern. Die dürfen ihn auch mit ihren Fragen löchern. Außer zum Döner-Essen in der Türkei kommen auch ziemlich bald Fragen zur Religion: „Wie betest du als Muslim?“ will ein Mitschüler wissen. Das Gespräch, das daraus entsteht, wird nicht abgebrochen – so etwas ist durchaus erwünscht.
Genauso wie beim Input zum Unterschied zwischen Wildkaninchen und Feldhase in BNT (Biologie, Naturphänomene und Technik), der heute mit sage und schreibe vier Kindern stattfindet. Cornelius wünscht sich einen Extra-Input zum Thema „Tierschutz“, nachdem eine Diskussion um das Jagen entstanden ist. Lehrerin Sophie-Charlotte Hakenberg verspricht das gerne. Auch das ist ein Grund, warum Cornelius gerne die Jakobusschule besucht: „Ich finde meine Schule ziemlich toll“, berichtet er mit leuchtenden Augen, „und meine Freunde auch. Manchmal sind die sogar ein bisschen neidisch.“
Bei ihrer Gründung war diese Schule mal eine „Schule im Wald“ mit nur wenigen Kindern, die aber damals schon auf der Montessori-Pädagogik basierte. Das ist nun fast 10 Jahre her. Schnell war der Bedarf enorm gewachsen und der Schulträger, die Schulstiftung der Evangelischen Landeskirche in Baden, erbaute das auffällige Gebäude mit seinen Lamellen an der Stelle in der Karlsruher Nordweststadt, an der früher einmal die Jakobus-Kirche gestanden hatte. Im Namensfindungsprozess in der Schulgemeinde war das schließlich der ausschlaggebende Grund für die Benennung. Mittlerweile wird wieder gebaut: Zur früheren Grundschule ist der Gemeinschaftsschulzweig dazu gekommen, der Platzbedarf ist abermals größer geworden.
Die Lehrkräfte verfügen zusätzlich zu ihrem Lehramtsstudium noch über das Montessoridiplom oder das Zertifikat „Lerncoaching und Montessori“, das sie berufsbegleitend erwerben können. „Aktuell können wir sogar schon die zweite Inhousezertifizierung mit internen und externen Referenten anbieten, weil wir durch die Erweiterung so viele neue Lehrkräfte fortzubilden haben“, freut sich Schaßner-Weber, die sich die Schulleitungsaufgaben mit Claudia Wagenbach teilt. Bis zu zehn Prozent der Kinder sind Inklusions-Kinder, für sie gibt es regulär sonderpädagogische Fachkräfte fest vor Ort, wie an staatlichen Schulen auch.
Die Grundschule der Jakobusschule ist offiziell eine evangelische Bekenntnisschule. Das heißt nach den Regelungen des Landes, dass dort überwiegend Lehrkräfte protestantischer Konfession beschäftigt werden müssen (in der Gemeinschaftsschule reicht eine Mitgliedschaft in einer ACK-Kirche). Auch wird das Kirchenjahr aktiv erlebt und gelebt. Es gibt Gottesdienste zu den Feiertagen, zur Einschulung, zum Schulabschluss und zum Schuljahresende. Alle Kinder, die die Schule verlassen, werden gesegnet. An Ostern wird beispielsweise gemeinsam ein Passionsweg begangen, der mit einem Gottesdienst endet. Auch Taizé-Gebete werden angeboten. Und im Neubau ist ein fester Andachtsraum eingeplant.
Das ist es aber nicht alleine, was die meisten Eltern dazu bringt, ihre Kinder an der Jakobusschule anzumelden. „Ihnen ist in erster Linie die Wertevermittlung, unser Konzept sehr wichtig“, weiß Schulleiterin Heike Schaßner-Weber. „Das Erfahren von Wertschätzung, das ist für uns eine christliche Grundhaltung. Dass ich wichtig bin für andere beispielsweise, das ist eine tolle Erfahrung.“ Eine „diakonische Ausrichtung“ ist gewünscht, kann man auf der Website nachlesen. Deshalb gibt es zum Beispiel auch das Projekt „Soziale Verantwortung“ im siebten Schuljahr, bei dem die Schülerinnen und Schüler sich für ein Jahr eine soziale Einrichtung suchen, bei der sie dann mitarbeiten. „Da arbeiten zum Beispiel zwei Kinder auf einem Gnadenhof für Tiere und organisieren einen Kuchenverkauf an der Schule, um Spenden zu sammeln oder drei Jungs bauen zusammen ein Hochbeet für einen Kindergarten“, erklärt Schaßner-Weber. „Nicht immer läuft das reibungslos, manche brauchen auch einen zweiten Anlauf. Aber am Ende finden doch alle Kinder etwas für sich – und nehmen etwas mit.“
Im Konzept liest sich das so: „Das glaubende Vertrauen in die Liebe Gottes, die uns allen als Geschenk zuteil wird, prägt unseren Schulalltag vor allem dadurch, dass wir eine Kultur der Anerkennung pflegen. Bedingungslose Anerkennung, die nicht abhängt von dem, was wir wissen, können, leisten, ist Keimzelle sowohl für die Leistungsbereitschaft des Einzelnen als auch für die Achtung vor dem anderen.“ Das ist überall zu erleben, zu spüren in der Jakobusschule. Religionslehrerin Christina Bayer formuliert es im Gespräch in eigenen Worten: „Es kommt uns hier auf die Individualität der Kinder an, nicht auf die reinen Leistungen. Es muss auch nicht jeder Arzt oder Anwältin werden – es braucht auch Schauspielerinnen und Krankenpfleger.“
Claudius Grigat (evangelisch.de)
Serie von evangelisch.de