Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit

Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 1997

5. Ziele und Wege

  1. Auf der Grundlage der theologischen und ethischen Darlegungen sowie der Verständigung über einen neuen Grundkonsens für eine zukunftsfähige Gesellschaft stellt sich die Frage nach konkreten Veränderungen. Dabei geht es um Veränderungen, die geeignet und notwendig sind, den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen gerecht zu werden. Es ist nicht Sache der Kirchen, die Ziele und Wege detailliert vorzuschreiben. Sie wollen vielmehr Richtungshinweise geben. Sie wollen zum Handeln ermutigen und so deutlich machen, daß es Lösungswege gibt.
  2. Über die Ziele und Wege besteht in Deutschland wenig Einigkeit. Es genügt deshalb nicht, lediglich berechtigte Forderungen zu erheben. Vielmehr muß erkennbar werden, daß die Verwirklichung dieser Forderungen im wohlverstandenen Interesse auch derjenigen ist, welchen damit Opfer oder Verzichte abverlangt werden. Ein politischer und gesellschaftlicher Grundkonsens kann dabei einen tragfähigen Rahmen bilden, innerhalb dessen sich das gemeinsame Ringen und die unvermeidlichen Auseinandersetzungen um geeignete Lösungswege bewegen.

5.1 Arbeitslosigkeit abbauen

  1. Die Arbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Schicksal, dem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hilflos ausgesetzt wären. Es bestehen durchaus Voraussetzungen dafür, die Massenarbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren. Produktion und Volkseinkommen sind in Deutschland so hoch wie nie zuvor. Deutschland verfügt über eine moderne, gut ausgebaute Infrastruktur und eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit leistungsfähigen großen wie kleineren und mittleren Unternehmen. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind hoch qualifiziert und motiviert. Die Sozialpartnerschaft funktioniert, es herrscht sozialer Friede. Die Preise sind stabil und die Zinsen niedrig. Es besteht deshalb kein Anlaß, den "Standort Deutschland" schlechtzureden. Vielmehr kommt es darauf an, daß die Soziale Marktwirtschaft unter Beweis stellt, daß sie ein Problem wie die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit lösen kann und damit einer Wirtschaftsordnung ohne soziale Verpflichtung überlegen ist.
  2. So lange die Erwerbsarbeit die existentielle Grundlage für die Sicherung des Lebensunterhalts, die soziale Integration und persönliche Entfaltung des einzelnen ist, ist es die Aufgabe einer sozial verpflichteten und gerechten Wirtschaftsordnung, allen Frauen und Männern, die dies brauchen und wünschen, den Zugang und die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu eröffnen. Ihnen sollen die mit der Erwerbsarbeit verbundenen Chancen der Teilnahme, der sozialen Integration, der Existenzsicherung und der persönlichen Entfaltung eröffnet werden. Diese Verpflichtung richtet sich gleichermaßen an die Politik und die Tarifvertragsparteien, aber auch an die Industrie- und Handelskammern, die Handwerkskammern, die Bundesbank sowie die einzelnen Unternehmen und die Vielzahl der Einrichtungen, die als Träger von Beschäftigungsinitiativen in Frage kommen, nicht zuletzt an die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände. Ohne einen breiten Grundkonsens in der Gesellschaft, ohne konzertierte Bemühungen, ohne ein gemeinsames Zusammenwirken der unterschiedlichen Verantwortungsträger kann es keine Fortschritte geben. Um deutlich mehr Arbeitslose in Beschäftigung zu bringen, gibt es keine einfachen und bequemen Lösungen. Es müssen mehrere und unterschiedliche Wege beschritten werden.
  3. Neue Arbeitsplätze müssen zunächst von einer erfolgreichen, effektiven und wettbewerbsfähigen Wirtschaft am regulären Arbeitsmarkt erwartet werden. Wenn Arbeitslosigkeit abgebaut werden soll, dann müssen deshalb vor allem wettbewerbsfähige Arbeitsplätze geschaffen werden. Insbesondere in Jahren anhaltend hoher Massenarbeitslosigkeit und unübersehbar verschärften internationalen Wettbewerbs erscheint es ökonomisch geboten und sozial vertretbar, für Lohn- und Gehaltszuwächse einzutreten, die sich am Produktivitätsfortschritt orientieren und die Lohnstückkosten nicht erhöhen. Arbeitsmarktpolitik ist auf die positiven Beschäftigungseffekte des dynamischen wirtschaftlichen Strukturwandels angewiesen.
  4. Alle Träger der Wirtschaftspolitik sollten daher den Strukturwandel durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen der Wirtschaft fördern. Vordringliche Aufgabe ist dabei eine umfassende Reform der Steuer- und Abgabensysteme mit dem Ziel, die Steuer- und Abgabenbelastung zu vermindern und zugleich das Steuer- und Abgabensystem insgesamt arbeitsplatzfördernder und sozial gerechter zu gestalten. Notwendig ist weiter eine Verstärkung der Anreize für technologische und wirtschaftliche Innovationen. Nur so können technologisch hochwertige Produkte hergestellt werden, und nur so kann die Wirtschaft auf veränderte Marktbedingungen schnell reagieren. Erforderlich ist es, zusätzliche Beschäftigungspotentiale und Beschäftigungsfelder zu erschließen. Diese Beschäftigungspotentiale sind im wesentlichen im Bereich neuer Techniken und technologischer Innovation (Mikroelektronik, Biotechnologie, neue Medien, Anwendung neuartiger Werkstoffe, Umwelttechnologien, Verkehr) und im Bereich der industrienahen sowie der privaten Dienstleistungen zu suchen. Notwendig ist schließlich die Verbesserung des Ausbildungssystems. Bildung und Ausbildung sind als lebenslange Aufgabe zu begreifen; sie dürfen nicht auf einzelne Lebensabschnitte begrenzt bleiben.
  5. Gefördert werden müssen darüber hinaus Selbständigkeit und unternehmerische Initiative. Arbeitsplätze wurden und werden überwiegend in den beschäftigungsintensiven kleineren und mittleren Betrieben des Handwerks und Mittelstandes erhalten und geschaffen. In ihnen arbeitet nicht nur die Mehrzahl der Beschäftigten; sie stellen auch die weitaus meisten Ausbildungsplätze bereit. Mit jeder Existenzgründung werden in Deutschland im Durchschnitt vier Arbeitsplätze eingerichtet. Hier gilt es, eine neue Kultur der Selbständigkeit anzuregen. Vor allem der Bereich des Handwerks und des Mittelstandes bietet große Chancen für Betriebsgründungen und eine selbständige Existenz. Junge Menschen sollten bereits im allgemeinen und beruflichen Bildungswesen ermutigt und befähigt werden, eine selbständige Existenz aufzubauen, zumal auch der Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin der Zukunft in allen Wirtschaftsbereichen zu selbständigem und eigenverantwortlichem Arbeiten fähig sein müssen.
  6. Der Grundgedanke vom Teilen der Erwerbsarbeit war den Kirchen in der Diskussion um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stets wichtig. Sie haben nie behauptet, daß sich Arbeitslosigkeit allein oder vorrangig durch das Teilen von Erwerbsarbeit überwinden lasse. Aber es gilt, auch diesen Weg zu nutzen. Arbeitszeitverringerungen ohne vollen Lohnausgleich können dazu beitragen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Männer und Frauen zu erhöhen. Auch mehr Teilzeitarbeitsplätze und der Abbau von Überstunden sind geeignet, die vorhandene Arbeit breiter zu verteilen. Arbeitszeitflexibilisierung, die (bei Wahrung der Interessenlage von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und der familiären Erfordernisse der Arbeitnehmer) sowohl kürzere als auch längere Arbeitszeiten ermöglicht, kann ebenfalls zur Minderung der Arbeitslosigkeit beitragen. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht dem Verzicht auf Einkommen bzw. Einkommenszuwächse eine Erhöhung der Freizeit und der eigenen Zeitsouveränität gegenüber. Die Unternehmen können höhere Kosten mit den Einsparungen verrechnen, die sich aus einer Arbeitszeitflexibilisierung mit möglichen längeren Betriebsnutzungszeiten ergeben. Verbesserungen der betrieblichen Ergebnisse sind auch von einer partnerschaftlichen Unternehmensverfassung und partizipativen Betriebsführung zu erwarten, da sie eine höhere Motivation und Kreativität der Beschäftigten sowie eine höhere Identifikation mit dem Betrieb fördern.
  7. Aus ethischer Sicht steht bei der Frage des Teilens der vorhandenen Arbeit eine schwierige Aufgabe des Interessenausgleichs an: zwischen den Arbeitslosen, den Arbeitnehmern mit niedrigem Einkommen, den Arbeitnehmern mit höherem Einkommen, den Haushalten mit mehreren Besserverdienenden und den Unternehmen, aber auch zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten sowie zwischen den Geschlechtern. So bedeutet geteilte Arbeit eben auch geteilten Lohn. Andererseits ist zu bedenken, daß nicht alle ihr Einkommen teilen können, insbesondere nicht die, die ohnehin ein geringes Einkommen beziehen. Die Auswirkungen vermehrter Teilzeitarbeit und unregelmäßiger Erwerbsverhältnisse auf die soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit und im Alter erfordern die Gewährleistung von Untergrenzen der sozialen Absicherung. Geringfügige Beschäftigungen, sofern sie reguläre Arbeitnehmertätigkeiten umfassen, sollten dabei in die Sozialversicherungspflicht einbezogen werden. Nichtversicherte Arbeitsverhältnisse müssen die Ausnahme bleiben. Teilzeitbeschäftigung sollte in stärkerem Maße auch für Männer angeboten und von ihnen in Anspruch genommen werden, um eine weitere Spaltung des Arbeitsmarktes zu Lasten der Frauen zu vermeiden. Betriebe und öffentliche Verwaltungen sind insbesondere zu ermutigen, auch im Bereich höherwertiger Tätigkeiten Teilzeitarbeit zu ermöglichen.
  8. Erforderlich ist schließlich auch, die aktiven Instrumente der gestaltenden Arbeitsmarktpolitik auszuschöpfen und weiter zu entwickeln. Dazu zählen u. a. die Qualifizierung von Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten und die Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen. Hier hat der gesamte Sektor öffentlich geförderter Arbeit eine wichtige Funktion: angefangen von der Förderung von Beschäftigungsgesellschaften bis hin zur Unterstützung von sogenannten Sozialen Betrieben und Programmen wie z. B. "Arbeit statt Sozialhilfe" sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Beim Einsatz dieser Instrumente geht es vor allem darum, daß die verschiedenen staatlichen Ebenen und die verschiedenen arbeitsmarktpolitischen Träger gemeinsam ihre Verantwortung beim Abbau der Massenarbeitslosigkeit wahrnehmen. Auch angesichts knapper öffentlicher Kassen bleibt es sinnvoller, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Arbeit ist genügend vorhanden. Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, den gesellschaftlichen Reichtum so einzusetzen, daß sie auch bezahlt werden kann. Im Bereich der Umwelt- und Landschaftspflege, der haushalts- und personenbezogenen Dienstleistungen und der Jugendhilfe, der Stadtsanierung und der geringfügigen Reparaturen gibt es erheblichen Bedarf. Öffentlich geförderte Arbeit ist - auch bei Vorrang des regulären Arbeitsmarktes - unverzichtbar, denn das Menschenrecht auf Arbeit kann in absehbarer Zeit nicht im Bereich des regulären Arbeitsmarktes allein verwirklicht werden. In Kooperation mit den Betrieben der privaten Wirtschaft sollten deshalb durch eine bessere Verzahnung von Arbeits- und Sozialeinkommen Formen öffentlich geförderter Arbeit entwickelt und Anreize für ein erleichtertes Überwechseln aus der Arbeitslosigkeit oder auch aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in reguläre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden. Dabei wird es notwendig sein, daß eine vergleichsweise geringe, vom Arbeitgeber zu zahlende Entlohnung durch ein zusätzliches Sozialeinkommen ergänzt wird, damit die Beschäftigten nicht in Armut geraten.
  9. Die Förderung von lokalen Beschäftigungsinitiativen, die in enger Zusammenarbeit zwischen Kommunen, freien Initiativen, Unternehmen und gesellschaftlichen Institutionen wie Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Industrie- und Handelskammern oder Handwerkskammern entstanden sind, sollte ausgebaut werden. Eine dezentralisierte Arbeitsmarktpolitik kann situationsangemessene Strategien zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten entwickeln, z. B. Arbeitgebern anbieten, Angehörige von Problemgruppen des Arbeitsmarktes probeweise kennenzulernen.
  10. Bei der Lösung der Beschäftigungskrise kommt es schließlich darauf an, die "Dominanz der Erwerbsarbeit" zu überwinden und die verschiedenen Formen von Arbeit gesellschaftlich anzuerkennen und zu unterstützen. Arbeit wird nicht nur im Erwerbsbereich geleistet, sondern auch in der Familie und in sog. ehrenamtlichen Tätigkeiten. Gerade im Raum der Kirchen und im öffentlichen Leben spielen diese Arbeitsformen eine bedeutende Rolle. An dieser Stelle ist besonders auf die Zwischenformen zwischen der arbeitsvertraglich geregelten Erwerbsarbeit und Familienarbeit und ehrenamtlichen Tätigkeiten hinzuweisen. Sie erhalten auf dem Hintergrund längerer Freizeit, erschwerter Zugänge zum Arbeitsmarkt, besserer Bildung und Ausbildung und eines steigenden Bedarfs an gesellschaftlich notwendiger Arbeit eine immer größere Bedeutung.

5.2 Den Sozialstaat reformieren

5.2.1 Die sozialen Sicherungssysteme konsolidieren

  1. Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland haben sich bisher als tragfähig erwiesen und sich gerade auch in den jüngsten Jahren angesichts wachsender wirtschaftlicher Anspannungen, anhaltender Massenarbeitslosigkeit und der Zunahme persönlicher Notlagen und Hilfsbedürftigkeit weitgehend bewährt. Ihre Aufgabe ist es, jeder Person Entfaltungschancen zu eröffnen, sie gegenüber den elementaren Lebensrisiken (Krankheit, Invalidität, Alter) abzusichern und ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten, nicht jedoch, alle persönlichen Nachteile und Wechselfälle des Lebens materiell auszugleichen. So wenig es deshalb angeht, den Sozialstaat als Garanten für die Bewältigung aller persönlichen Wechselfälle des Lebens mißzuverstehen, so wenig wäre es mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar, die staatlichen Aufgaben bei der sozialen Sicherung zu vernachlässigen. Angesichts der gegenwärtigen Umbrüche steht dem deutschen Sozialstaat seine entscheidende Bewährungsprobe aber noch bevor.
  2. Kern des Sozialstaats ist in Deutschland das beitrags- und leistungsbezogene, am Erwerbseinkommen anknüpfende Sozialversicherungssystem. Der im demokratischen Konsens selbst auferlegte Zwang zur solidarischen Vorsorge hat dazu geführt, daß heute der überwiegende Teil der Bevölkerung im Risikofall eine wirksame soziale Sicherung erhält. Wer z. B. krank wird, soll deshalb nicht sozial absteigen müssen. Ein solches Sozialversicherungssystem bleibt - trotz des erheblichen privaten Vermögenszuwachses in Westdeutschland - auch in Zukunft unverzichtbar. Denn Geld- und Grundvermögen ist in zunehmendem Maß ungleich verteilt, so daß die breite Bevölkerungsmehrheit auch in Zukunft nicht über ein ausreichendes Vermögen zur Absicherung der elementaren Lebensrisiken verfügen wird. Kennzeichen des Sozialsystems ist weiterhin ein das Sozialversicherungssystem ergänzendes, steuerfinanziertes Transfersystem, das nicht zuletzt der Armutsbekämpfung dient.
  3. Der Sozialstaat ist und bleibt verpflichtet, jedem Menschen in Deutschland ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die Sozialhilfe dient dabei als letztes Auffangnetz im System der sozialen Sicherung. Sie legt den Standard fest, der Hilfsbedürftigen in Notlagen zukommt. Ihre Prinzipien "Bedarfsdeckung, Individualisierung, Nachrangigkeit" müssen erhalten bleiben. Das Bundessozialhilfegesetz hat sich seit seiner Einführung im Jahre 1961 bewährt. Belastet wurde dieses Auffangnetz in den letzten Jahren dadurch, daß es für immer größere Personengruppen zu einer Regelversorgung geworden ist. Wenn die vorrangigen sozialen Sicherungssysteme (wie z. B. Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Familienlastenausgleich u. a.) tatsächlich, ihrem Auftrag entsprechend, in den allermeisten Leistungsfällen wirkliche Not verhinderten, hielte sich auch der Reformbedarf innerhalb der Sozialhilfe in Grenzen. Die Sozialhilfe könnte wesentlich entlastet werden, wenn die vorrangigen sozialen Sicherungssysteme "armutsfest" gemacht werden. Dabei ist insbesondere an eine Sockelung des Arbeitslosengeldes, der Arbeitslosenhilfe und letztlich auch der gesetzlichen Rente auf die Höhe des soziokulturellen Existenzminimums bei einem steuerfinanzierten Ausgleich für die Sozialversicherungen zu denken. Ein entscheidender Schritt zur Bekämpfung der verdeckten Armut wäre getan.
  4. Die Regelsätze der Sozialhilfe sind so auszugestalten, daß sie am Bedarf orientiert bleiben und jährlich fortgeschrieben werden unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten, der Veränderung des Verbrauchsverhaltens und der durchschnittlichen Nettolohnentwicklung aller Arbeitnehmer (nicht nur der unteren Lohngruppen). Der Lohnabstand zwischen Sozialhilfe und unteren Lohngruppen ist gegenwärtig gewahrt. Nur wegen des ungenügenden Familienlastenausgleichs nähert sich bei Familien mit mehreren Kindern die Sozialhilfe den unteren Nettolöhnen. Hier ist das Lohnabstandsgebot jedoch kein sachgerechter Maßstab, da die Kinderzahl in einem leistungsorientierten Lohnsystem nicht berücksichtigt wird. Um so dringlicher wird eine bedarfsgerechte Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs.
  5. Die Sozialhilferegelsätze sollten nicht "eingefroren" werden, weil damit nicht nur reale Kürzungen des Existenzminimums verbunden sind, sondern (wegen der damit verbundenen Rückwirkungen auf den Familienlastenausgleich) auch die Familien benachteiligt werden. Weder für Deutsche noch für Ausländer sollten Sachleistungen an die Stelle finanzieller Zuwendungen treten. Arbeitseinkommen sollten nur zu einem bestimmten Teil auf die Höhe bedarfsorientierter Leistungen angerechnet werden, damit sich für ihre Empfänger die Aufnahme einer legalen Erwerbstätigkeit lohnt. Das Problem liegt weniger darin, Sozialhilfeempfänger zur Erwerbsarbeit zu motivieren, als ihnen geeignete Arbeitsmöglichkeiten bereit zu stellen. Schließlich sollte bei künftigen Reformen der Sozialhilfe berücksichtigt werden, daß die besondere Art und Praxis der derzeitigen Bedarfsprüfungen für viele Anspruchsberechtigte eine so hohe Barriere darstellt, daß sie trotz dringenden Bedarfs auf ihren Anspruch verzichten.
  6. Für eine erfolgreiche Bekämpfung der Armut kommt einer sozialen Wohnungspolitik besondere Bedeutung zu. Die derzeitigen wohnungspolitischen Instrumente - steuerliche Förderung, Objektförderung im sozialen Wohnungsbau, Individualförderung mit Wohngeld - erreichen die sozial- und einkommensschwachen Haushalte nur unzureichend oder gar nicht. Ein großes Problem besteht darin, daß das Wohngeld seit Jahren nicht angepaßt worden ist. Die direkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus kommt häufig auch Beziehern mittlerer Einkommen und Wohlhabenden zugute. Hier müssen Fehlsteuerungen vermieden werden. Die direkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus sollte mit dem Ziel einer größeren Verfügungs- und Einkommensgerechtigkeit weiterentwickelt und mit den übrigen Förderinstrumenten stärker verzahnt werden. Es sollte geprüft werden, auf längere Sicht die Objektförderung grundsätzlich durch eine bedarfsorientierte Subjektförderung für sozial Schwache zu ersetzen. Das Wohngeld ist regelmäßig und zeitnah an die Einkommens- und Mietpreisentwicklung anzupassen, um die Wohnkostenbelastung für die einkommensschwächeren Haushalte tragbar zu halten. Zur Beseitigung struktureller Armutsursachen gehören ferner wirksame Hilfen, die Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit vermeiden und damit vor dem Verlust des Hauses oder der Wohnung schützen.
  7. Die Wiederherstellung des Vertrauens in die Rentenversicherung ist von großer Dringlichkeit. Die demographische Entwicklung, d. h. die höhere Lebenserwartung und die geringere Kinderzahl bewirken eine Verschiebung im Verhältnis von Beitragszahlern und Rentnern. Mit der Rentenreform 1992 konnte die Alterssicherung zunächst stabilisiert werden, indem die Renten an die Nettolohnentwicklung angepaßt wurden. Außerdem ist die Anhebung der möglichen Renteneintrittsgrenze vorgesehen. Die neue Rentenformel verknüpft Rentenhöhe, Rentenversicherungsbeitrag und Bundeszuschuß zur Rente und ermöglicht so eine größere Anpassungsfähigkeit der Rentenversicherung und eine faire Verteilung der demographischen Risiken auf Beitragszahler und Rentner.
  8. Weitere Reformschritte sind notwendig. Dem absehbaren Anstieg des Beitragssatzes infolge der demographischen Veränderungen muß entgegengewirkt werden. Die zu erwartende Zuwanderung stellt dann eine positive Einflußgröße dar, wenn die Zugewanderten im erwerbsfähigen Alter sind und ihnen gesicherte Arbeitmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Welches Niveau der Renten auf Dauer gehalten werden kann, ist von der Entwicklung der Beschäftigung, der Höhe der Einkommen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängig. Notwendig ist auch eine Reform der Beamtenversorgung und der Sicherung der Angestellten im öffentlichen Dienst. Eine Reform in diesem Bereich, die vor allem eine stärkere Eigenbeteiligung der Beamten an ihrer Altersvorsorge vorsieht, ist auch aus Gründen sozialer Gerechtigkeit überfällig.
  9. Schwieriger als erwartet gestalten sich die Strukturreformbemühungen im Gesundheitswesen . Nach wie vor besteht Reformbedarf. Auch in Zukunft müssen eine vollwertige medizinische Versorgung für jedermann und ein freier, von der Einkommensituation unabhängiger Zugang aller zur Gesundheitsfürsorge unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Bedürfnisse gewährleistet sein. Die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und die Versorgung auf einem hohen medizinischen und pflegerischen Niveau dürfen nicht preisgegeben werden. Solidarität und Gerechtigkeit im System müssen gewahrt bleiben. Ausgabenbegrenzungen im Gesundheitswesen dürfen nicht dazu führen, Medizin und Pflege auf technische Vollzüge zu reduzieren; menschliche Zuwendung und Patientennähe sind unentbehrliche Kennzeichen einer humanen Gesundheitsversorgung. Schon das geltende Recht der gesetzlichen Krankenversicherung sieht eine Vielzahl von Eigenbeteiligungen und Zuzahlungen vor. Damit wurden zu Lasten der Patienten zusätzliche Beitragserhöhungen abgewendet. Maßnahmen zur Begrenzung des Kostenanstiegs auf Seiten der Anbieter von Gesundheitsleistungen müssen ausgewogen sein und dürfen die Vielfalt der Leistungserbringer und Einrichtungsträger nicht gefährden. Bei weiteren Maßnahmen zur Sicherung der Gesundheitsversorgung ist darauf zu achten, daß sie nicht einem Entsolidarisierungsprozeß Vorschub leisten und Einkommensschwache in unvertretbarer Weise benachteiligen. Kommt es zu allzu rigiden Begrenzungen, so werden die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten wesentlich höher sein als die kurzfristig erzielten Spareffekte, und der gesetzlich verankerte Vorrang von Prävention, Rehabilitation und ambulanter vor stationärer Hilfe würde gefährdet.
  10. Das soziale Sicherungssystem ist auf eine Ergänzung durch private Vorsorgeleistungen angewiesen. In Form der Bildung von Wohneigentum ist dieses auch in großem Umfang geschehen. Eine Ergänzung durch Maßnahmen der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand könnte eine zusätzliche Sicherung bedeuten, auch wenn man das quantitative Ausmaß derartiger Schritte nicht überschätzen darf. Das für die Ausgestaltung des deutschen Sozialstaats zentrale Subsidiaritätsprinzip kann bei der Ergänzung durch private Vorsorgeleistungen einen wichtigen Hinweis geben. Die Absicherung durch die gesetzlichen Sozialversicherungen könnte bei denjenigen Bürgerinnen und Bürgern reduziert werden, die sich eine Eigenvorsorge ohne starke Einschränkungen des Lebensstandards leisten können. So zeigt u. a. die Entwicklung des privaten Vermögens in Deutschland, daß auch die höheren Einkommensschichten bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu einer stärkeren eigenen Altersvorsorge in der Lage sind. Auf keinen Fall ist es vertretbar, die soziale Sicherheit durch den Sozialstaat bei denjenigen zu senken, die auf diese Leistungen angewiesen sind. Angesichts der sehr ungleichen Verteilung des gewachsenen Vermögens bleibt das gesetzliche Sozialversicherungssystem auch in Zukunft für den Großteil der Bevölkerung unverzichtbar.
  11. Finanzierungsprobleme und Leistungsdefizite des Systems sozialer Sicherung tragen gleichermaßen zur Krise des Sozialstaats bei. Das in der Öffentlichkeit weithin akzeptierte Ziel, die Sozialquote nicht zu steigern und die Lohnnebenkosten angesichts der Beschäftigungskrise zu senken, schließt es aus, Leistungen zu erhöhen oder neue Leistungen einzuführen, ohne zugleich andere Leistungen zu reduzieren. Andererseits verweist die zunehmende Armut in Deutschland darauf, daß es derzeit auch sozialstaatliche Leistungen gibt, die ihr Ziel, sozialen Abstieg und Armut zu verhindern, nicht erreichen. Um so wichtiger ist es deshalb, die Diskussion über die Finanzierungsfragen des Sozialstaates nicht nur quantitativ als finanzpolitische Spardebatte zu führen, sondern vor allem als gesellschaftspolitische Gestaltungsdebatte. Die Grundlagen und die Finanzierung dieses Sozialsystems werden dann erhalten und gesichert werden können, wenn eine breite und nachhaltige Einkommenserzielung in der Volkswirtschaft gewährleistet ist, verbunden mit einer flexiblen Abstimmung von Beiträgen und Leistungen.
  12. Die wichtigste Voraussetzung für die Finanzierbarkeit des sozialen Sicherungssystems bleibt eine Beschäftigungspolitik, welche den Anteil der Beitragszahler erhöht und den Anteil derjenigen, die auf Transferleistungen für ihren Lebensunterhalt angewiesen sind, reduziert. Aus verteilungs- und beschäftigungspolitischen Gründen kommt es darauf an, daß die Lohnnebenkosten gesenkt und die notwendigen Mittel für die versicherungfremden Leistungen von den Steuerzahlern aufgebracht werden. Solange wesentliche Bevölkerungsgruppen nicht zur Finanzierung der Sozialversicherungssysteme beitragen, ist es fragwürdig, gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie z. B. die Qualifizierung oder Beschäftigung von Arbeitskräften oder die Folgekosten der Vereinigung über Versicherungsbeiträge zu finanzieren.
  13. Dagegen ist ein gewisser Lastenausgleich (z. B. Möglichkeit der Mitversicherung von Kindern) innerhalb der Versichertengemeinschaft durchaus mit den Prinzipien der Sozialversicherung vereinbar. Es ist ja gerade der Sinn der Sozialversicherung, auch solche Risiken abzusichern, die von der Privatversicherung als "schlechte Risiken" ausgegrenzt werden. Voraussetzung für die Beitragsfinanzierung der Leistungen ist jedoch, daß der Kreis der Leistungsempfänger mit demjenigen der Beitragszahler und deren Familien weitgehend übereinstimmt.
  14. Der notwendige Umbau des Sozialstaates läßt sich nicht ohne Einsparungen und Einschnitte bewerkstelligen. Die öffentlichen Haushalte dürfen nicht durch eine noch höhere Verschuldung belastet werden. Eine nachhaltige Finanzpolitik verbietet eine Staatsverschuldung zu Lasten künftiger Generationen. Auch darf die Steuer- und Abgabenlast nicht weiter erhöht werden. Die derzeitigen Finanzierungsschwierigkeiten gehen überwiegend auf die hohe Arbeitslosigkeit und ihre Folgen zurück und erschweren es gerade in dieser Situation, die Lebensbedingungen der Schwachen in der Gesellschaft zu sichern. Nicht der Sozialstaat ist zu teuer, sondern die hohe Arbeitslosigkeit. Der Sozialstaat und die sozialstaatlichen Leistungen sind nicht die Ursache für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. Es kann deshalb auch nicht davon ausgegangen werden, daß die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn die sozialstaatlichen Leistungen eingeschränkt werden. Eine dauerhafte Konsolidierung des Sozialstaats läßt sich - bei allem notwendigen Reformbedarf - nicht ohne einen nachhaltigen und energischen Abbau der Arbeitslosigkeit erreichen. Probleme des wirtschaftlichen Erfolges und der Beschäftigung können nicht durch das Transfersystem gelöst werden. Ebensowenig ist es auf Dauer möglich, den Sozialstaat der anhaltenden Arbeitslosigkeit anzupassen und damit im Trend immer weniger Erwerbstätigen die Versorgung von immer mehr Nichterwerbstätigen zu übertragen. Eine ursachengerechte Reform der beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme muß demgegenüber darauf ausgerichtet sein, den Zusammenhang zwischen Beitragsleistung und Versicherungsanspruch wieder zu festigen, die individuelle Eigenverantwortung zu stärken, die Sozialversicherungen von versicherungsfremden Leistungen zu entlasten und die Basis der Solidargemeinschaft zu verbreitern.
  15. Die Bevölkerung ist bereit, notwendige Einsparungen mitzutragen, wenn sie sieht und davon ausgehen kann, daß die Lasten und die Leistungen gerecht verteilt sind, dabei die Gesamtheit der Solidargemeinschaft erfaßt wird und soziale Gerechtigkeit und Solidarität nicht nur bei den Ausgaben und Leistungen, sondern bereits auch bei der Aufbringung der Mittel gewahrt bleiben. Wo dies nicht geschieht und wo ungleiche Belastungen vorgenommen werden, ist offener und engagierter Widerspruch berechtigt. Korrekturen sind beim Sozialstaat insbesondere notwendig im Blick auf die gerechte Verteilung der Finanzierungslasten, die Gleichbehandlung gleicher sozialer Tatbestände, die Beseitigung von Mißbrauch und die Begrenzung unangemessener Vorteile. Solidarität und soziale Gerechtigkeit gebieten es allerdings, Steuervergünstigungen und Subventionen in gleicher Weise zu überprüfen, insgesamt mehr Steuergerechtigkeit herzustellen und Steuerhinterziehung, die mißbräuchliche Inanspruchnahme von Steuervergünstigungen und Subventionen sowie die Korruption entschiedener zu bekämpfen. Der Bundesrechnungshof hat in seinem Jahresbericht 1996 zum wiederholten Mal den ungleichen Umgang mit den Steuerbürgern kritisiert und "schlagkräftigere steuerliche Betriebsprüfungen" angemahnt.

5.2.2 Solidarität in der Gesellschaft stärken

5.2.2.1 Die Familien fördern

  1. In der Familie erfahren Menschen Erfüllung, geschieht die personale Entfaltung von Kindern, werden soziale Verantwortung und Solidarität eingeübt, Erfahrungen und Traditionen weitergegeben. Belastungen für die Familie, Erschwerungen ihres Lebensalltags und Beschränkungen der Entfaltungschancen treffen in besonderer Weise die Kinder. Die Familie ist wegen ihrer Bedeutung für die Gesellschaft besonders schutzbedürftig. Sie steht mit der Ehe mit Recht "unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" (Art. 6 Abs. 1 GG). Der Auftrag, Ehe und Familie in besonderer Weise zu schützen und zu fördern, richtet sich über Staat und Rechtsordnung hinaus an die gesamte Gesellschaft. Um den vielfältigen berechtigten Belangen und Interessen von Familien gerecht zu werden, ist ein Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte, der Politik, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der Verbände, der Kirchen und Medien und nicht zuletzt auch der Familien selbst und ihrer Interessenvertretungen unerläßlich. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt den Vorrang der sozialstaatlichen Aufgabe, für einen gerechten Ausgleich der Belastungen und wirtschaftlichen Nachteile zu sorgen, die Familien durch die Erziehung von Kindern in Kauf nehmen. Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit verlangt dabei, daß auch Personen, wie z. B. Alleinerziehende, die außerhalb der Ehe vergleichbare familiale Leistungen erbringen, nicht zuletzt im Interesse der Kinder einen entsprechenden Anspruch haben.
  2. Familie und Wirtschaftssystem sind wechselseitig aufeinander angewiesen, jedoch sind unter den gegenwärtigen Bedingungen die Familien einseitig zu Anpassungen an die Erfordernisse der Erwerbsarbeit gezwungen, die zu Lasten des Familienlebens und gemeinsamer Familienzeit gehen. Eine halbwegs zufriedenstellende Lösung des Problems der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit ist für junge Paare häufig ausschlaggebend bei der Entscheidung für oder gegen Kinder und für eine befriedigende Gestaltung des Lebens mit Kindern. Die Arbeitswelt und die Betriebe müssen sich deshalb stärker auf die Bedürfnisse der Familien einstellen; Familienfragen dürfen auch in Zeiten einer angespannten Konjunktur und Arbeitsmarktlage kein Randthema bleiben, sondern müssen Bestandteil jeder Unternehmenspolitik sein. So sind z. B. mehr qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze notwendig, die für Männer und Frauen gleichermaßen zugänglich sind und nicht nur Anreize für weniger Qualifizierte bieten. Vorstellungen, die vor allem Männern die Erwerbsanforderungen und Frauen die Familienanforderungen zuweisen, werden weder dem gewandelten Rollenverständnis von Mann und Frau in der Gesellschaft noch den gleichberechtigten Beziehungsformen in den Partnerschaften gerecht. Auch durch eine Erhöhung der Zeitsouveränität von Eltern im Wege der Flexibilisierung der Arbeitszeit und der Arbeitsformen läßt sich die Erwerbsarbeit insgesamt familienfreundlicher gestalten. Wird die Wahlfreiheit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit ernst genommen, sind Kindertageseinrichtungen notwendigerweise fester Bestandteil eines solchen Konzepts.
  3. Eine wirkliche Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit setzt weiter voraus, daß beide in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Wohlfahrt und für die persönliche Lebensgestaltung als gleichrangig verstanden und nicht einander nachgeordnet werden. Angesichts der gegenwärtigen Prioritätensetzungen ist eine stärkere gesellschaftliche und politische Anerkennung der Familientätigkeit erforderlich, die sich auch in finanzieller Anerkennung niederschlagen muß. Damit wird im Interesse der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Eltern der Zwang reduziert, aus wirtschaftlichen Gründen das Familienleben der Erwerbstätigkeit nachzuordnen oder für die Berücksichtigung der Familieninteressen hohe Kosten auf sich zu nehmen.
  4. Eltern, die ihrer Kinder wegen nicht erwerbstätig sind oder eine Teilzeitstelle annehmen, dürfen im System der sozialen Sicherheit, vor allem in der Renten- und Pflegeversicherung, nicht länger diskriminiert werden. Dies ist um so wichtiger, als es wünschenswert ist, daß ein Elternteil um der Kinder willen in der Lage ist, auf eine Erwerbstätigkeit zumindest zeitweise zu verzichten, um Familien- und Erziehungsarbeit leisten zu können. Eine echte Wahlfreiheit in der Gestaltung von Familien- und Erwerbsarbeit im Familienzyklus besteht erst dann, wenn daraus keine nachteiligen Folgen vor allem im Blick auf die Altersversorgung erwachsen und sich beide Eltern sowohl für Familienarbeit als auch Erwerbsarbeit entscheiden können. Daher muß angestrebt werden, die Zeiten der Kinderziehung in der gesetzlichen Rentenversicherung noch stärker rentenbegründend und rentensteigernd anzuerkennen und die Chancen der beruflichen Wiedereingliederung von Eltern weiter zu verbessern.
  5. Familien in besonderen Lebenssituationen sind zusätzlichen Belastungen ausgesetzt und deshalb auch in stärkerem Maße auf Unterstützung angewiesen: So haben Alleinerziehende nicht nur häufig mit finanziellen Problemen zu kämpfen, sondern ihnen erwachsen bei fehlenden Hort- und Kindergartenplätzen auch erhebliche Schwierigkeiten, Familie und materielle Existenzsicherung in der Erwerbsarbeit zu vereinbaren. Eine ungewollte Schwangerschaft kann Frauen, Paare oder Familien in schwierige Konfliktsituationen führen, wenn dadurch der zukünftige materielle Lebensunterhalt und alle bisherigen Perspektiven und Hoffnungen für das eigene Leben oder soziale Beziehungen, bis hin zur bestehenden Partnerschaft, in Frage gestellt werden. In dieser Situation müssen die betroffenen Frauen und Paare nicht nur die Möglichkeit haben, eine Beratung zu finden, die ihnen die Entscheidung für die Annahme des Kindes erleichtert, sondern auch alle weitergehenden Hilfen und Unterstützungen für ein Leben mit dem Kind erhalten.

    In einer besonders belasteten Situation müssen oft Ausländerfamilien leben, da sie sich nicht nur in einer anderen Kultur und bei fremden Menschen zurechtfinden müssen, sondern vielfach zusätzlichen Vorbehalten bis hin zur Ablehnung ausgesetzt sind. Menschen anderer Nationalität müssen in Deutschland sicher sein, eine menschenwürdige Behandlung zu erfahren. Unter besonderen Schwierigkeiten leben Kinder von Ausländerfamilien, weil die sprachlichen Voraussetzungen für den Schulerfolg ungünstiger sind und sie vielfach auch schwere Spannungen zwischen den Wertorientierungen ihrer Herkunftsfamilie und dem Leben unter den Gleichaltrigen erleben. Ausländische Eltern und ihre Kinder verdienen nicht nur die gleiche Anerkennung wie deutsche, sondern darüber hinaus besondere sprachliche Förderung und Beratung.
  6. Um eine angemessene materielle Absicherung und gesellschaftliche Anerkennung von Familien zu erreichen, ist es insbesondere geboten, das Steuersystem so auszugestalten, daß Ehepaare oder Alleinstehende mit Kindern nicht schlechter gestellt werden als kinderlose Steuerzahler. Dazu müssen die existenznotwendigen Aufwendungen für Kinder in realistischer Höhe angesetzt und von steuerlichen Belastungen freigestellt werden. Das Kindergeld sowie das Erziehungsgeld sind auch der Höhe nach so auszugestalten, daß Kinder jedenfalls nicht die Ursache für Armut sein können und keine Familie auch in den niedrigeren Einkommensbereichen lediglich auf Grund der Tatsache, daß sie Kinder hat, auf Sozialhilfe angewiesen ist. Die sozialstaatlich gebotene Sicherstellung des wirtschaftlichen Existenzminimums von Familien erfordert die Anpassung der finanziellen Leistungen an die wirtschaftliche Entwicklung in angemessenen Zeitabständen. Diese staatlichen Leistungen und ihre bedarfsgerechte Anpassung müssen auch bei engen haushaltspolitischen Spielräumen verläßlich sein und dürfen nicht jeweils neuen und anderen Finanzierungsprioritäten untergeordnet werden.
  7. Ein wichtiger Aspekt für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Familien ist die Bereitstellung familiengerechten Wohnraums und eines kinder- und familienfreundlichen Wohnumfeldes. Hier liegt auch eine besondere Verantwortung bei den Kommunen, welche gezielt günstige Baugrundstücke gegebenenfalls auch in Erbpacht für junge Familien vorhalten sollten. Die wohnungspolitischen Fördermaßnahmen nicht zuletzt bei der Wohneigentumsbildung sollten vorrangig Familien im unteren und mittleren Einkommensbereich und mit mehreren Kindern zugute kommen.
  8. Über die finanzielle Förderung hinaus sind die Familien vielfach auf institutionelle Hilfe wie Tageseinrichtungen und Tagespflege für Kinder oder Angebote der Familienbildung angewiesen. Andere Hilfen sind besonders auf Familien unter belasteten Lebensbedingungen und schwierigen Situationen ausgerichtet, wie z. B. die verschiedenen Beratungsdienste, die Familienhilfe und die Familienerholung. In diesen Hilfen kommt zum Ausdruck, daß es sich bei der Unterstützung der Familien mit Kindern um eine gesamtstaatliche Aufgabe handelt, die dort ansetzen muß, wo die Familie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stößt oder aufgrund ihrer besonderen Situation auf Hilfe und Unterstützung angewiesen ist.

5.2.2.2 Chancengerechtigkeit zwischen Frauen und Männern verwirklichen

  1. Ein zentrales Anliegen vieler Eingaben des Konsultationsprozesses war es, die grundlegenden Veränderungen der Stellung der Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft stärker zu berücksichtigen. Zugleich wurde eine Vielzahl konkreter Belastungen und Benachteiligungen angeführt, die bisher immer noch in Politik, Gesellschaft, Beruf und Familie der Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Chancengerechtigkeit zwischen ihnen entgegenstehen.
  2. Die in Familie, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dominierende Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist ursächlich für die weithin noch fehlende Chancengerechtigkeit für Frauen, auch wo diese über ein den Männern vergleichbares Bildungs- und Qualifikationsniveau verfügen. Frauen wollen ihre Fähigkeiten und Anliegen in Familie und Beruf, im privaten und im öffentlichen Leben verwirklichen. Sie wollen dabei bezahlte und die überwiegend von ihnen geleistete unbezahlte Arbeit mit Männern teilen und in allen Bereichen partnerschaftlich mit ihnen zusammenarbeiten. Dies setzt nicht nur einen Wandel in den Beziehungen und Verhaltensweisen von Männern und Frauen voraus. Erforderlich sind ebenso strukturelle Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenssituationen von Männern und Frauen, von Vätern und Müttern gerecht werden.
  3. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die bisher einseitig zu Lasten der Frauen ging, muß für Frauen und Männer gleichermaßen möglich sein. Das schließt die vermehrte Beteiligung der Männer an der Haus- und Familienarbeit ein, verlangt aber auch besondere Bemühungen, die Familienarbeit in verstärktem Maße als gleichrangig neben der Erwerbsarbeit anzuerkennen. Die Chancen bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit, der beruflichen Aus- und Fortbildung und vor allem bei der Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit im Anschluß an die Kindererziehungsphase sind zu verbessern. Aufstiegschancen dürfen dabei nicht beeinträchtigt werden. Die eigenständige soziale Sicherung der Frauen ist schrittweise zu verwirklichen. Nur so ist eine tatsächliche Wahlfreiheit der Lebensgestaltung für Frauen und Männer möglich.
  4. Berufe, in denen überwiegend Frauen tätig sind, sollten in finanzieller und gesellschaftlicher Hinsicht aufgewertet werden. Gezielte Aus- und Weiterbildung sollte verstärkt werden, um Frauen ein breiteres Berufsspektrum zu öffnen und somit die geschlechtsspezifische Spaltung insbesondere auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden. Dadurch kann auch einer rascheren Entlassung von Frauen in die Arbeitslosigkeit entgegengewirkt werden, die sich durch die fortschreitende Modernisierung im Produktions- und Dienstleistungsbereich ergibt. Insbesondere sind Maßnahmen zu unterstützen, die den Anteil der Frauen in Entscheidungspositionen im Bildungswesen und in den Medien, in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sowie in der Kirche erhöhen. In allen diesen Bereichen sollten personelle und organisatorische Möglichkeiten geschaffen werden, durch die Frauen stärker an den Gestaltungsaufgaben und Entscheidungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik beteiligt werden.

5.2.2.3 Zukunftschancen der Jugendlichen sichern

  1. Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft bemißt sich nicht zuletzt daran, welche Perspektiven und Zukunftschancen sie ihrer Jugend gibt. Es geht um die Fragen: Wachsen junge Menschen in einem menschlichen Klima und unter günstigen Bedingungen auf? Erfahren sie die nötige Zuwendung, Annahme, Akzeptanz und Förderung? Haben sie die Möglichkeit, in die Gesellschaft hineinzuwachsen, gehört und beteiligt zu werden und einen beruflichen Weg anzustreben, der ihren Neigungen und Möglichkeiten entgegenkommt? Haben sie Chancen am Arbeitsmarkt? Ausgaben für Bildung und Ausbildung sind Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft. Neben der Wissensvermittlung sind die Persönlichkeitsentwicklung und die Stärkung der Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit gleichgewichtige Ziele, auf deren Einhaltung und Verwirklichung Jugendliche einen Anspruch haben.
  2. Die hohe Arbeitslosigkeit und die bestehenden Schwierigkeiten beim Zugang zu Ausbildungsplätzen und zum Arbeitsmarkt stellen für Jugendliche eine erhebliche Belastung dar, die sie empfindlicher als Erwachsene in vergleichbarer Situation trifft. Um so notwendiger ist es, für Jugendliche ein angemessenes und differenziertes Angebot an Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten bereitzustellen. Junge Menschen erwarten zu Recht, daß sie über Ausbildung und Beruf eine ökonomische und soziale Perspektive entwickeln können, die ihnen ein sinnvolles und eigenverantwortliches Leben ermöglicht.
  3. Das duale System in der Berufsausbildung hat sich in Deutschland bewährt. Es muß erhalten werden. Grundlage hierfür muß sein, daß im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft die Arbeitgeber - Wirtschaft, öffentliche Hand, Kirchen und Verbände - ihrer Verpflichtung zur Ausbildung im notwendigen Umfang nachkommen. Eine besondere Verantwortung tragen hier die Tarifvertragsparteien. Wenn Appelle und Selbstverpflichtungen nicht ausreichen, ist es Aufgabe der Politik, im Interesse der Jugendlichen steuernd einzugreifen, um möglichst allen ausbildungssuchenden Jugendlichen eine entsprechende Ausbildung zu ermöglichen. Das System der beruflichen Bildung ist zu einem ganzheitlichen System beruflicher Aus- und Weiterbildung weiterzuentwickeln mit dem Ziel, dauerhafte Beschäftigungen zu erreichen und auch während der Ausübung einer Beschäftigung anerkannte Berufsabschlüsse nachholen zu können. Es müssen neue Berufsbilder in zukunftsorientierten Arbeitsfeldern entwickelt und fortgeschrieben werden. Eine qualifizierte Berufsberatung muß den Jugendlichen möglichst früh Hilfestellung zu einer beruflichen Orientierung geben.
  4. Die Förderung von Mädchen und jungen Frauen ist integraler Bestandteil des dualen Systems mit dem Ziel möglichst hoher Qualifizierung. Die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung ist ein weiterer wichtiger Baustein zur Entwicklung eines ganzheitlichen Systems der beruflichen Bildung. Dazu gehören eine bessere Ausstattung der Berufsschulen, die Erleichterung des Erwerbs von Fachhochschul- und Hochschulzugangsberechtigungen im Rahmen der beruflichen Ausbildung und die bessere Anbindung und Verzahnung der Abschlüsse des beruflichen Bildungssystems mit den Systemen der Allgemeinbildung. Für benachteiligte Jugendliche, vor allem lernschwache, sind die bewährten Instrumente aus dem Arbeitsförderungsgesetz zu erhalten und auszubauen.
  5. Wenn in den heute diskutierten Fragen der Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland ein neuer Konsens erreicht werden soll, der auch zukünftig tragfähig ist, dann müssen junge Menschen stärker in die Mitverantwortung einbezogen werden. Nicht zuletzt benötigen Jugendliche in ausreichendem Maße angemessen ausgestattete Orte mit hohem Selbstbestimmungsgrad in der Jugend- und Jugendverbandsarbeit, durch die sie Zugehörigkeit erfahren, die eigene Persönlichkeit entwickeln und eigenverantwortliches, solidarisches Handeln lernen können.

5.2.2.4 Die Einheit Deutschlands mit Leben erfüllen

  1. Die Gestaltung der inneren Einheit Deutschlands ist eine bleibende Aufgabe. Sie kann nicht als ein in absehbarer Zeit abzuschließender Prozeß verstanden werden. Es geht dabei nicht um das Erreichen eines Gleichstandes auf allen Gebieten, sondern um die Gestaltung einer gemeinsamen sozialen Gesellschaft in ganz Deutschland, die jedem Menschen ein Leben in Würde ermöglicht, Benachteiligungen von Menschen und Regionen abbaut und sich in besonderer Weise den Schwachen zuwendet. Mit der Aufgabe, die Trennungen zwischen Ost und West in Deutschland abzubauen und gleichwertige Lebensbedingungen herzustellen, geht es auch um die Überwindung von krassen Ungleichheiten. Die Aufgabe, solche Ungleichheiten zu beseitigen, betrifft nicht nur das Ost-West-Verhältnis, sondern gilt für Deutschland insgesamt.
  2. Weder die Menschen noch die Wirtschaft in den neuen Ländern waren auf die abrupt eingeführten marktwirtschaftlichen Bedingungen vorbereitet. Den vielfältigen positiven Aspekten stehen neue Ungerechtigkeiten und wirtschaftliche Probleme gegenüber. Der tiefgreifende Umbruch in der gesamten Lebenskultur der Menschen ist in Ostdeutschland noch längst nicht verarbeitet und mancherorts in Westdeutschland noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen worden. Es handelt sich um eine gemeinsame geschichtliche Last in der Folge der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft und des Zweiten Weltkriegs.
  3. Die Entwicklung im vereinigten Deutschland ist zum Teil widersprüchlich verlaufen: Einerseits ist es zu beeindruckenden Aufbauleistungen und Solidaritätserweisen gekommen, die bis zum heutigen Tag anhalten. So belaufen sich die bis Ende 1996 in die neuen Länder geflossenen Nettotransferleistungen auf rund 750 Mrd. DM. Dies hat, gerade im Vergleich mit den anderen östlichen Ländern, die einen ähnlich drastischen wirtschaftlichen Zusammenbruch erlebt haben, für einen enormen Aufschwung gesorgt. Die meisten Menschen in den östlichen Bundesländern bestätigen das, indem sie eine deutliche Verbesserung ihrer persönlichen, materiellen Lage wahrnehmen. Andererseits haben Dankbarkeitserwartungen, unerbetene Ratschläge, westliches Unverständnis und die vielen ungelösten Probleme zu Unbehagen und zum Teil auch Spannungen geführt. Obwohl die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse noch längere Zeit beanspruchen wird, muß es schon jetzt gelingen, Vorbehalte und Unverständnisse zwischen Ost und West abzubauen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken.
  4. Die vielfältigen Belastungen, die durch den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems der DDR und die gesamtgesellschaftlichen Umbrucherscheinungen entstanden sind, werden vorerst noch anhalten und Transferleistungen und andere solidarische Formen von Unterstützung auf allen Ebenen auch weiter dringend erforderlich machen. Notwendig sind vor allem verstärkte Investitionen zum Aufbau neuer Wirtschaftsstrukturen. Wichtig ist aber auch, daß es im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht zu weiteren Kürzungen kommt. Durch solche Kürzungen würden oft genug gerade denen Chancen versagt, die arbeitsfähig, arbeitswillig und qualifiziert sind und unverschuldet arbeitslos wurden. Das Gefühl der Chancenlosigkeit birgt die Gefahr von Resignation und Verzweiflung in sich und vertieft die Spaltung in der Gesellschaft.
  5. Die deutsche Vereinigung eröffnet für viele Menschen neue Chancen und Perspektiven. Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen in Ost und West ist dankbar für die Wende. Es gibt kaum jemanden, der das Rad der Geschichte zurückdrehen möchte. Die Vereinigung Deutschlands ist nicht zuletzt das Ergebnis des bewußten Kampfes der Menschen im Osten für eine parlamentarische Demokratie und des Aufbegehrens gegen Bevormundung und Mißwirtschaft. Nun sind alle gefordert, die innere Einheit mit Engagement und Phantasie zu gestalten: Regierungen, Gewerkschaften, Verbände, Institutionen und nicht zuletzt die einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Es ist eine Aufgabe ohne Vorbilder und vergleichbare geschichtliche Erfahrungen. Dabei ist es die Aufgabe auch der Kirchen, Hilfe für den Dialog und das gegenseitige Verständnis anzubieten und für Solidarität einzutreten. Eine eigenständige und von einer besonderen Geschichte und kulturellen Tradition geprägte Entwicklung muß differenziert wahrgenommen werden.
  6. Die innere Einheit kann nur gelingen, wenn sich die Menschen in Ost und West als solidarische Gemeinschaft verstehen. Sie müssen im Interesse des Ganzen bereit sein, entsprechend ihren Möglichkeiten auch über einen längeren Zeitraum Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Die unvermeidlichen Opfer und Belastungen müssen gerecht verteilt werden, ohne dabei die Leistungsfähigkeit von Staat und Wirtschaft zu gefährden.

5.2.2.5 Eine gerechtere Vermögensverteilung schaffen

  1. Privateigentum und damit Privatvermögen sind konstitutive Elemente der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland und dienen der eigenen Daseinsvorsorge ebenso wie der gesamtwirtschaftlichen Kapitalbildung. Die Vermögenserträge ergänzen die Einkommen aus Arbeit. Vermögen und Vermögenserträge ermöglichen zugleich eine ergänzende Altersvorsorge und Vorsorge für Notfälle.
  2. Die Kirchen setzen sich deshalb seit langem für eine gerechtere und gleichmäßigere Verteilung des Eigentums und nicht zuletzt für eine verstärkte Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen ein. Das Ziel einer sozial ausgewogeneren und gerechteren Vermögensverteilung in Deutschland ist bei weitem nicht erreicht. Auch wenn es in bestimmten Bereichen der Vermögensbildung (z. B. Bildung von Geldvermögen und Wohneigentum) unbestreitbar Fortschritte gegeben hat, nimmt die Konzentration der Vermögen auf die einkommens- und vermögensstarken Schichten zu, der Abstand zwischen den reichen Haushalten auf der einen Seite und den Haushalten, die über ein bescheidenes oder gar kein Vermögen verfügen, auf der anderen Seite wird größer.
  3. Noch einmal verschärft gegenüber der Situation in den alten Bundesländern stellt sich die Vermögensverteilung in den neuen Bundesländern dar. Nicht nur, daß der Anteil der privaten Haushalte in den neuen Bundesländern am Produktivvermögen verständlicherweise aufgrund der bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung extrem gering ist. Auch ihre Geldvermögens- und Wohneigentumsbildung ist aus den gleichen Gründen niedriger als in den alten Bundesländern. Es hat sowohl beim Immobilien- wie vor allem beim Produktivvermögen eine Verschiebung in westdeutsche Hände auf breiter Basis gegeben. Etwa 80 % der Privatisierungen durch die Treuhand-Anstalt gingen an westdeutsche Unternehmen. Es ist versäumt worden, den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern und die Investitionsförderung sowie die Angleichung der Löhne und Gehälter mit dem Ziel einer breiten Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen zu verbinden und auch so zu einer gerechteren Vermögensverteilung beizutragen.
  4. Um insbesondere Fortschritte im Sinne einer breiteren Streuung des Produktivkapitals zu erreichen, ist eine sachgerechte Fortentwicklung und Ausgestaltung der vermögenspolitischen Rahmenbedingungen dringlich. Dies gilt heute um so mehr, als sich das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit auch im Blick auf die Einkommen mehr und mehr zu Lasten der Arbeit verschiebt. Die Kirchen und kirchlichen Verbände und Organisationen haben eine Vielzahl von Initiativen und Modellen entwickelt, wie die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen verstärkt und damit zugleich dazu beigetragen werden kann, Investitionen zu erleichtern, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen und so auch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu festigen. Sie haben gleichzeitig Grundsätze und Kompromißlinien aufgezeigt, wie sich bestehende Hindernisse insbesondere bei tarifvertraglicher Vermögensbildung aus dem Weg räumen lassen. Es ist primär die Aufgabe der Tarifvertragsparteien, sich zu solchen Vereinbarungen bereitzufinden und damit einen Durchbruch bei der Kapitalbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erreichen. Aber auch der Staat muß dabei seine Verantwortung wahrnehmen.
  5. Verläßliche Daten über die Vermögensverteilung und -entwicklung in Deutschland liegen in ausreichendem Umfang nicht vor. Während es eine regelmäßige Berichterstattung über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung sowohl durch den Sachverständigenrat als auch durch die Konjunkturforschungsinstitute gibt, fehlt eine solche regelmäßige Berichterstattung für den hochkomplexen Bereich der Einkommens- und Vermögensverteilung. Informationen darüber sind unerläßlich, um notwendige Entscheidungen im Beziehungsgeflecht des steuerlichen und sozialen Leistungs- und Verteilungssystems sachgerecht vorbereiten und Effizienz und Gerechtigkeit von getroffenen Maßnahmen überprüfen zu können. Es bedarf deshalb nicht nur eines regelmäßigen Armutsberichts, sondern darüber hinaus auch eines Reichtumsberichts.
  6. Nicht nur Armut, sondern auch Reichtum muß ein Thema der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig häufig die Umverteilung des Mangels, weil der Überfluß auf der anderen Seite geschont wird. Es geht deshalb nicht allein um eine breitere Vermögensbildung und -verteilung. Aus sozialethischer Sicht gibt es auch solidarische Pflichten von Vermögenden und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Die Leistungsfähigkeit zum Teilen und zum Tragen von Lasten in der Gesellschaft bestimmt sich nicht nur nach dem laufenden Einkommen, sondern auch nach dem Vermögen. Werden die Vermögen nicht in angemessener Weise zur Finanzierung gesamtstaatlicher Aufgaben herangezogen, wird die Sozialpflichtigkeit in einer wichtigen Beziehung eingeschränkt oder gar aufgehoben. In einer Lage, in der besondere Aufgaben - wie etwa die Finanzierung der deutschen Einheit - in großem Umfang durch die Aufnahme von Staatsschulden finanziert werden müssen, sollten stärker die Vermögen herangezogen werden. In welcher Form das gerecht und verfassungsgemäß geschehen kann, ist zu prüfen.

5.2.2.6 Eine neue Sozialkultur fördern

  1. Tempo und Ausmaß des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels verändern Selbstverständnis, Formen und Wirkungsweise der traditionellen Sozialkultur. Diese Veränderungen beeinträchtigen die sozialen und zivilgesellschaftlichen Netzwerke, ohne die Wirtschaft und Gesellschaft nicht existieren können. Notwendig ist eine neue Besinnung auf die Sozialkultur. In ihr liegt ein großes Potential für soziale Phantasie und Engagement. Den vorhandenen ethischen und sozialen Ressourcen in der Gesellschaft muß mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt werden. Dies betrifft vor allem soziale Netzwerke und Dienste, lokale Beschäftigungsinitiativen, ehrenamtliches Engagement und Selbsthilfegruppen.
  2. Der Staat muß auf allen Ebenen durch die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen seinen Beitrag dafür leisten, daß diese Initiativen sich entfalten können. Vorrangig ist die öffentliche Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeit. Freiwillige und unentgeltliche Dienstleistungen könnten mit Gegenleistungen wie z. B. Aufwandsentschädigungen, Weiterbildungsangeboten und Berücksichtigung bei der Bewerbung um einen Erwerbsarbeitsplatz sowie Gutscheinen (etwa für die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen bei eigenem Bedarf) honoriert werden. Freistellungen im Beruf sollten erleichtert werden. Wer sich in der Jugendarbeit betätigt hat, könnte bei der Vergabe von Studien- oder Ausbildungsplätzen bevorzugt werden. Eine Haftung für Schäden, die im ehrenamtlichen Dienst entstehen, wäre sinnvoll. Es könnte auch an ein Bildungskonto gedacht werden, das der Staat für junge Menschen einrichtet, dem das Zeitbudget entsprechen würde, das junge Menschen - irgendwann in ihrem Leben - dem Gemeinwesen zur Verfügung stellen.
  3. Ein unersetzliches Gut der Sozialkultur ist der Sonntag. Der Schutz des Sonntags ist immer mehr dadurch bedroht, daß ihm ökonomische Interessen vorgeordnet werden. Der Sonntag muß geschützt bleiben. Als Tag des Herrn hat er einen zentralen religiösen Inhalt. Er ist auch gemeinsame Zeit der Familie, der Freunde und Nachbarn und damit ein wichtiges kulturelles Gut, das nicht zur Disposition gestellt werden darf [10].

5.3 Den ökologischen Strukturwandel voranbringen

  1. Nachhaltige Entwicklung ist vom Selbstverständnis her ein Wirtschaftskonzept mit verteilungspolitischem Anspruch. Als Verteilungsregel sollte gelten: Recht und Billigkeit der Ressourcennutzung müssen sowohl unter der jetzt lebenden Weltbevölkerung als auch im Ablauf der Generationen gewährleistet sein. Die natürlichen Lebensgrundlagen sollen im Interesse der nachfolgenden Generationen erhalten werden. Von der belasteten bzw. zerstörten Umwelt sollte so viel wie möglich wiederhergestellt werden.
  2. Die Grundbedingung für eine zukunftsfähige Entwicklung ist die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, auf denen die menschliche Existenz beruht. Um die Tragekapazität der ökologischen Systeme nicht zu überschreiten, können der Natur nicht unbegrenzt Rohstoffe entnommen werden und nur so viele Rest- und Schadstoffe in sie eingebracht werden, wie sie ohne Schaden aufzunehmen vermag. Im Blick auf Rohstoffe, die nicht oder nur langsam nachwachsen, müßte ein entsprechender Ersatz geschaffen werden. Dieses Konzept läßt es offen, ob die Erhaltung der Umweltfunktionen eher durch Einsparungen oder durch eine verbesserte Ausnutzung erreicht wird.
  3. Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Wirtschaft gilt es, den Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastungen von der wirtschaftlichen Entwicklung weiter und deutlicher abzukoppeln, als dies bisher der Fall war, und die Produktionsprozesse von Anfang an in die natürlichen Kreisläufe einzubinden. Die ökonomischen Prozesse sind letztlich Teil der ökologischen Systeme, aus denen die Rohstoffe entnommen und in denen die Abfallstoffe verarbeitet werden müssen. Eine "Langzeitökonomie" muß sich also um die Erhaltungsbedingungen dieser ökologischen Voraussetzungen wirtschaftlichen Handelns und deren spezifische Gesetzmäßigkeiten kümmern. Grundsätzlich angezeigt sind damit naturangepaßte Stoffströme und Energiegewinnung, so weit wie möglich abgeschlossene, störungsfreie technische Eigenkreisläufe und deren Einfügung in den Stoffwechsel der Natur. Darüber hinaus bedeutet dies, daß Abfälle und Reststoffe nach dem Ende ihrer Gebrauchszeit so weit wie möglich wiederverwendet werden müssen. Zudem muß bei der Entwicklung und Produktion von Gütern vermehrt auf Langlebigkeit und Reparaturfreundlichkeit geachtet werden. Damit würde der Anteil der Reparatur und der Kundenbetreuung an der Wertschöpfung - in der Regel dezentral organisierte und arbeitsintensive Sektoren der Wirtschaft - steigen, die Bedeutung der Produktion sinken.
  4. Weiterhin ist es erforderlich, die wirtschaftliche Strukturanpassung des Steuersystems für ökologische Ziele zu nutzen, wie dies in der Steuerdebatte in den Gremien der Europäischen Union gegenwärtig gefordert wird. Ein seit langem diskutierter pragmatischer Vorschlag, der in seinen ökologischen, ökonomischen und sozialen Konsequenzen unterschiedlich eingeschätzt wird, besteht darin, diesen Anpassungsprozeß durch eine umweltgerechte Finanzreform (Abschaffung umweltschädlicher Subventionen, Energie- und CO2-Steuern zugunsten einer Entlastung der Lohnnebenkosten) zu unterstützen. Von einer solchen Finanzreform könnte nach Meinung ihrer Befürworter gleichzeitig ein beschäftigungsfördernder Anreiz ausgehen, da die gegenwärtig primär auf den Faktor Arbeit konzentrierte Belastung breiter gestreut und gleichzeitig das Energiesparen belohnt würde. In jedem Falle sollte der Staat im notwendigen Umfang durch Abgaben, Auflagen und Haftungsregelungen, aber auch finanzielle Anreize Rahmenbedingungen setzen, die ein ökologisch verträgliches Wirtschaften und damit einen vorsorgenden Umweltschutz unterstützen und begünstigen.
  5. Für die Erarbeitung einer umfassenden Strategie nachhaltiger Entwicklung sind besonders wichtige und auch sensitive Bereiche der Energiesektor, die chemische Industrie, die Landwirtschaft und der Verkehr. Energiepolitik muß durchgängig vom Prinzip der Risikobegrenzung geleitet werden, und zwar sowohl im Blick auf die Umwelt als auch im Blick auf die Gesundheit und die Sicherheit von Menschen. Ein zweites leitendes Prinzip ist das der Energieeffizienz, die durch eine breite Palette von Einzelmaßnahmen - von der für die Wirtschaft langfristig kalkulierbaren Verteuerung der Energie bis zur Förderung der Forschung und Entwicklung regenerativer Energieträger - gestärkt werden muß. Ähnliches gilt für die chemische Industrie, bei der eine Veränderung der Politik sich nicht nur auf die Emissionen bei der Produktion, sondern auch auf die Produkte selbst beziehen muß.
  6. Zu einer dauerhaften Verbesserung und Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Erhaltung einer umwelt- und naturgerechten Landschaft in ihrer Vielfalt gehört die stärkere ökologische Ausrichtung der Landwirtschaft. Dies schließt insbesondere ökologisches Verantwortungsbewußtsein bei der Erzeugung von Nahrungs- und Futtermitteln, dem Erhalt der natürlichen Bodenfruchtbarkeit, einer artgerechten Tierhaltung, der Sicherung des Artenreichtums, der Pflege des Waldes, der Reinhaltung des Wassers und der Bewahrung der vielfältigen Kulturlandschaft ein. Traditionell werden diese Leistungen von einer bäuerlich geprägten, neuerdings auch biologischen Landwirtschaft erbracht, die es deshalb auch durch tragfähige und sachgerechte politische Rahmenbedingungen zu fördern und zu erhalten gilt. Die Bauern und Forstwirte erbringen durch die Pflege der Kulturlandschaft wichtige gesamtgesellschaftliche Leistungen, die nicht über den Marktpreis der Produkte abgegolten werden. Die noch vorhandenen zahlreichen bäuerlichen Familienbetriebe brauchen eine ausreichende wirtschaftliche Grundlage und Zukunftsperspektive, um weiterhin existieren zu können und auch der kommenden Generation noch eine Existenzgrundlage zu erhalten.
  7. Im Bereich des Verkehrs stellen das ständig wachsende Verkehrsaufkommen und der damit einhergehende weitere Ausbau der Verkehrsinfrastruktur eine enorme Belastung des Klimas, der Landschaft sowie der Gesundheit vieler Menschen dar. Notwendige Reformen müssen auf die Verkürzung der Wege, Verlagerungen des Verkehrs auf umweltfreundlichere Transportmittel und eine umweltgerechte Überprüfung und Ausrichtung der Transportkosten zielen. Nötig ist aber auch, daß die Verkehrsteilnehmer ihr Mobilitätsverhalten und ihren Lebensstil ändern.
  8. Änderungen des Lebensstils, die Verzichte einschließen, sind aber auch in vielen anderen Bereichen notwendig. Notwendig ist der Übergang von Raubbau und Wegwerfmentatität zu langfristig tragbaren Wirtschafts- und Lebensweisen. Bei vielen der wohlhabenden Menschen in den westlichen Überflußgesellschaften ist überzogenes Konsum- und Wohlstandsdenken vorherrschend. Diese Haltung gerät zunehmend in Konflikt mit den Grenzen der ökologischen Belastbarkeit und geht zu Lasten der Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen und zu Lasten der Menschen in den sich entwickelnden Ländern. So wird das Ziel der Nachhaltigkeit ganz sicher verfehlt, wenn das durchschnittliche Konsumniveau in den Industrieländern weiter steigt. Deshalb muß das Bewußtsein dafür steigen, daß mehr Lebensqualität heute kaum noch durch "mehr" und "schneller" zu erreichen ist, sondern in wachsendem Maße durch "weniger", "langsamer" und "bewußter". Derart veränderte Lebensstile werden sich vermutlich nur dann verbreiten, wenn deutlich wird, daß ein Leben, das die Mit- und Umwelt schont, neue Qualitäten hat.
  9. Gerade bei der Aufgabe, die vielfältigen Dimensionen dessen bewußtzumachen, was wirklich den Namen "Wohlstand" verdient, was also dem dauerhaften Wohl des Menschen dient, können die Kirchen einen wichtigen Beitrag leisten: Ein christliches Leben bietet vielfältige Ansätze für eine Kritik der Gleichsetzung von "gut leben" und "viel haben". Die vielfältigen Bedürfnisse des Menschen werden nicht einfach durch höchstmöglichen Konsum befriedigt. Die Umkehr zu einem einfacheren Lebensstil kann zu einem Gewinn an Lebensqualität und kultureller Entfaltung führen. Zugleich sollte aber nicht verschwiegen werden, daß eine an der Verantwortungsfähigkeit des Menschen orientierte dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung für den einzelnen auch die Bereitschaft zu persönlichem Verzicht einschließt.

5.4 Die europäische Einigung vertiefen und erweitern

  1. In den kommenden Jahren steht die europäische Politik vor entscheidenden Weichenstellungen. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben sich im Grundsatz für eine Erweiterung der Union um eine Reihe von mittel- und osteuropäischen Staaten sowie Zypern entschieden. Diese Erweiterung ist nicht nur eine politische Notwendigkeit. Sie bietet auch erhebliche Chancen für Europa. Die Mitgliedsstaaten stehen derzeit vor der Aufgabe, institutionelle Voraussetzungen für eine handlungsfähige Union mit 25 oder mehr Mitgliedern zu schaffen. Hierbei kommt es entscheidend darauf an, das Ziel der Erweiterung mit Schritten einer vertieften Integration zu verbinden. Es geht um Fragen der politischen Handlungsfähigkeit der Union in der Außen- und Sicherheitspolitik, um eine gemeinschaftliche Innen- und Rechtspolitik und um die verbindliche Geltung von Grund- und Menschenrechten auf Unionsebene. Zu den Kernfragen gehört, ob die Mitgliedstaaten bereit sind, sich grundsätzlich vom Prinzip der einstimmigen Entscheidung zu lösen und Mehrheitsentscheidungen in politisch sensiblen Bereichen zu akzeptieren. Es geht um die Entscheidung zwischen nationalstaatlicher Souveränität und gemeinschaftsrechtlicher Zuständigkeit in zentralen Politikbereichen.
  2. Die Sozialpolitik zählt in der Europäischen Union nach wie vor zu den besonders kontroversen Themen. Es ist notwendig, daß die im Vertrag von Maastricht definierten Bereiche einer europäischen Sozialpolitik künftig für alle Mitgliedsstaaten der Union verbindlich gelten. Die Mitgliedsstaaten sind insbesondere uneins in der Frage eines weiteren Ausbaus verbindlicher sozialer Mindestregeln für alle EU-Staaten. Dieser Ausbau ist eine wichtige Voraussetzung für gleiche Wettbewerbsbedingungen und eine stärkere Konvergenz der sozialen Sicherung sowie eine Ermutigung für die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, sich durch den Aufbau eigener sozialer Systeme auf ihren Beitritt zur Europäischen Union vorzubereiten. Hierbei ist darauf zu achten, daß soziale Mindeststandards bei notwendiger Vermeidung einer Überforderung weniger entwickelter Staaten nicht zu einer Einigung auf dem niedrigsten Niveau und damit zu einer potentiellen Aushöhlung der nationalen sozialstaatlichen Gewährleistungen führen.
  3. Zu den wichtigsten Aufgaben zählt die Einführung einer dauerhaft stabilen und einheitlichen europäischen Währung. Was immer man gegen dieses Vorhaben einwenden mag, die gemeinsame Währung ergänzt notwendig den europäischen Binnenmarkt, der erst dann seine volle Wirkung wird entfalten können, wenn auch gleichzeitig ein einheitlicher Finanzmarkt besteht. Eine einheitliche und dauerhaft stabile Währung vermag nicht nur eine verläßliche Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Ausgleich auf europäischer Ebene zu bieten, sondern ist gleichzeitig auch ein Beitrag zu einer stabilen internationalen Währungsordnung und Voraussetzung dafür, daß die europäische Integration insgesamt gelingt. Wesentlich ist, daß bei notwendigen Veränderungen und Umverteilungen der soziale Schutz für die Schwächeren nicht preisgegeben und die Lasten sozial gerecht von allen getragen werden.
  4. Vieles ist bereits erreicht. Für einen großen Teil der Bevölkerung in Westeuropa sind gestiegener Wohlstand, grenzüberschreitende Niederlassungsmöglichkeiten und kontrollfreie Reisemöglichkeiten selbstverständlich geworden. Annähernd 50 Jahre europäischer Integrationspolitik haben es jedoch nicht vermocht, ein ausgeprägtes europäisches Gemeinschaftsbewußtsein und eine gemeinsame europäische Identität zu entwickeln. Die Kirchen in Deutschland sehen es als eine wichtige Aufgabe an, im Zusammenwirken mit ihren ökumenischen Partnern in Europa dazu einen Beitrag zu leisten. Das Bewußtsein eines versöhnten Miteinanders in aller Verschiedenheit, die Fähigkeit, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen, und der Wille, die Zukunft Europas gemeinsam zu gestalten, sind erforderlich, um die Herausforderungen an der Schwelle zum Jahr 2000 zu meistern.

5.5 Verantwortung in der Einen Welt wahrnehmen

  1. Mehr und mehr haben die Menschen erkannt, wie notwendig ein solidarisches und verantwortliches Miteinander der Staaten der Völkergemeinschaft ist. Dies hat zu zahlreichen inter- und supranationalen Vereinbarungen geführt. Auch die weniger entwickelten Länder, die nur wenig weltpolitische Gestaltungskraft besitzen, werden mehr und mehr in die Gesamtverantwortung eingebunden, denn das Weltgemeinwohl kann nicht allein durch jene besonders wirtschaftsstarken Nationen gewährleistet werden, die sich zur sog. G7-Gruppe zusammengeschlossen haben. Insbesondere versuchen die großen UN-Weltkonferenzen, das Bewußtsein für die Gesamtverantwortung aller Staaten zu wecken und den Kampf gegen Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung zur gemeinsamen Aufgabe zu machen. Nationale Wege, so wichtig sie im einzelnen auch sein mögen, reichen in einem System internationaler Arbeitsteilung nicht mehr aus.
  2. Inzwischen gibt es Ansätze eines solidarischen Verhaltens im Handels- und Umweltrecht, bei der Bekämpfung der Kriminalität, bei der Hilfe in Währungsturbulenzen, in Katastrophenfällen, in der Gesundheitspolitik, in der Sicherheitspolitik, bei der Bewältigung von Migrationsströmen, im Kampf gegen Erosion und Versteppung, beim Schutz der Meere, in Sicherheitsfragen der Nuklearenergie, bei der Nichtverbreitung von Kernwaffen und anderem mehr. Eine solidarische Weltgesellschaft muß also nicht neu erfunden werden, sondern kann an diese Ansätze anknüpfen.
  3. Einigkeit besteht weitgehend darin, daß die Regierungen in den armen Ländern aufgefordert sind, durch situationsgerechte interne Rahmenbedingungen eine sozial und ökologisch verträgliche Entwicklung in ihren Ländern zu fördern. Das gelingt aber nur, wenn Industrieländer wie die Bundesrepublik Deutschland, die eine erhebliche Leitbildfunktion haben, Modelle zukunftsorientierten Wirtschaftens anbieten und durch ihr außenwirtschaftliches Verhalten stützen.
  4. Es zeigt sich ein gefährlicher Trend, nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation die Mittel zu kürzen, mit denen bislang der soziale Sprengstoff zwischen Nord und Süd entschärft werden sollte. Noch immer entwickelt die Schuldenkrise in einer Reihe von Ländern des Südens eine gefährliche Eigendynamik und zerstört, was mit Entwicklungshilfe aufgebaut werden soll.
  5. Hinzukommen müssen weitreichendere internationale Absprachen und Vereinbarungen. Notwendig erscheinen eine Verbesserung des internationalen Rechts (vor allem im Handelsrecht und im Kartellrecht), ein entschlossener Abbau von Protektionismus, Schritte zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht und die Entwicklung eines internationalen Sozialrechts, wie dies in den Regelungen zur Zwangsarbeit, zur Kinderarbeit u.ä. bereits begonnen wurde. Ferner ist die internationale sozial- und entwicklungspolitische Kooperation auszuweiten. Es geht darum, die internationale Entwicklung unter den Primat der Politik zu bringen und einen Ordnungsrahmen mit wirksamen Sanktionen und Instrumenten zu schaffen. Sie sollten der gemeinsamen Verantwortung für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit auf internationaler Ebene einen neuen Stellenwert geben.
  6. Verantwortung für die Eine Welt wahrnehmen bedeutet,
    • daß alle nationalen Entscheidungen auch aus der Sicht dieser Einen Welt zu treffen sind: Das gelingt nur, wenn die Entwicklungspolitik endlich Querschnittsthema der Gesamtpolitik wird und nicht nur Aufgabe eines einzelnen Ressorts bleibt;
    • daß die Entwicklungspolitik im europäischen Kontext besser koordiniert wird: Das ist durch das Kohärenzgebot und die Koordinierungsverpflichtung im Maastrichter Vertrag bereits vereinbart und sollte zügig realisiert werden;
    • daß die Gruppe der armen Länder in internationalen Gremien ein größeres Mitspracherecht erhält, so daß es ihnen leichter fällt, sich in Aufgaben für das Weltgemeinwohl einbinden zu lassen;
    • daß im Blick auf die mit den internationalen Finanzmärkten verbundenen Risiken verbesserte Aufsichts- und Kontrollmöglichkeiten über die auf diesen Märkten international Tätigen entwickelt werden. Neue internationale Absprachen über eine wirksamere Bankenaufsicht sind ansatzweise bereits eingeleitet. Eine verbesserte Aufsicht muß vor allem auch den Wertpapierhandel sowie die Fonds- und Versicherungsbranche einschließen;
    • daß im Rahmen einer international abgestimmten, kohärenten Flüchtlings- und Migrationspolitik die Ursachen und negativen Auswirkungen von Vertreibung, Flucht und Migration vermieden und entschärft werden. Jede Maßnahme, die unmittelbar auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Entwicklungsländern selbst, auf die Beseitigung der Armut, bessere Bildungschancen und eine lebenswerte Umwelt gerichtet ist, dient zugleich auch der Verminderung von Flucht- und Migrationsursachen.

Anmerkung

  1. Zu den Herausforderungen durch Flucht und Migration ist ein eigenständiges Wort der Kirchen in Vorbereitung, das demnächst erscheinen soll.
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