Morgenandacht
Christiane Nolting
4. Tagung der 10. Synode der EKD, Berlin, 6. - 10. November 2005
Guten Morgen. Wir beginnen diesen Morgen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Wir singen das Lied 356: Es ist in keinem Anderen Heil, die Strophen 1 und 2.
Psalm 63: Wir wollen ihn im Wechsel sprechen, Männer und Frauen. Ich bitte die Frauen zu beginnen.
Ich lese aus den so genannten Abschiedsreden Jesu, Johannes 14, 1 bis 6.
Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich.
In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?
Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wieder kommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.
Und wo ich hingehe, den Weg wisst ihr.
Spricht zu ihm Thomas: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen?
Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Amen.
Liebe Mitsynodale, liebe Schwestern und Brüder! Es gilt Abschied zu nehmen, Abschied vom Leben, von den Weggefährten, von den Freundinnen und Freunden und Abschiedssituationen sind auch immer Grenzsituationen und Entscheidungssituationen. Jesus nimmt Abschied. Die Situation spitzt sich zu in einer klaren Frage des Thomas’ und in einer klaren Antwort Jesu: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.
Mit diesem Vers habe ich eine lange Geschichte oder – besser – mit mir. Der Vers ist von mir geliebt und gefürchtet gleichermaßen. Geliebt, weil er so eindeutig ist. Er gibt mir eine klare Richtung vor, er will mich des richtigen Weges vergewissern. Ich kann gut umgehen mit dieser Gradlinigkeit, ich brauche eine klare Auskunft, und die bekomme ich hier. Der Vers gibt mir Orientierung, hier wird nicht herumgeeiert.
Gefürchtet ist dieser Vers von mir, weil er so eindeutig ist. Er lässt mir keinen Ausweg. Damit kann ich nicht so gut umgehen. Er macht mir auch Angst. Mir ist meine Freiheit lieb und teuer. Ich will mich nicht einengen lassen, der Vers lässt mir keine Wahl.
Ich frage mich: Stimmt das überhaupt so absolut? Ist es wahr, so wie er da steht? Ich kann ihn auch als Zuspitzung von christlicher Intoleranz lesen und verstehen. Doch damit hat er eine Geschichte, eine unheilvolle Geschichte von Ausgrenzung, Abgrenzung und vor allem von menschlichem Hochmut. Aber ist es wirklich wahr, dass Jesus Christus der einzige Weg zum Vater ist? Gibt es daneben keinen anderen Weg, der zum Ziel führt? Ist es wirklich wahr, dass Jesus Christus die alleinige Wahrheit über den Vater ist? Gibt es vielleicht noch eine zweite Seite der Medaille? Was ist überhaupt Wahrheit? Ist es wirklich wahr, dass Jesus Christus das allumfassende Leben ist? Gibt es ein Leben neben diesem einen?
Ja, es ist wahr, dass Jesus Christus, der Weg und die Wahrheit und das Leben ist für mich und dass ich nur durch und über ihn zum Vater komme. Das ist wahr. Es entscheidet sich also alles an ihm. Es entscheidet sich alles an dem „Ich bin“. Und damit muss ich mich entscheiden. Aber wenn ich nicht für ihn, für das Ich Jesu Christi entscheide, entscheide ich da nicht im gleichen Atemzug gegen die vielen anderen? Wenn ich mich für Jesus Christus, den Weg, die Wahrheit und das Leben entscheide, entscheide ich mich nicht gegen die vielen anderen, die diesen Weg nicht einschlagen, die die Wahrheit woanders suchen und denen das Leben woanders begegnet?
Habe ich dann nicht über andere entschieden, mein Urteil über andere gefällt? Habe ich dann nicht viele andere am Wege liegen lassen und gehe selbstzufrieden, selbst- und siegesgewiss einen letztlich einsamen Weg? Entscheidet sich alles an dem „Ich bin“ auch für mich?
Es entscheidet sich alles an dem, der sagt: „Ich bin“. Dieses „Ich“ wird durch Jesus Christus selbst qualifiziert. Der, der das sagt, geht selbst auf die Menschen zu. Er lässt niemanden am Wegesrand liegen. Er begegnet den Menschen auf Augenhöhe, er grenzt niemanden aus und stößt niemanden vor den Kopf, nur die, die glauben, es begriffen zu haben.
Römer und Juden, Männer und Frauen, Gesunde und Kranke – alle sind gleich vor ihm und er kann sehr aufgebracht werden, wenn man ihn für sich beanspruchen will. Er kann sehr böse werden, wenn man selbstzufrieden unter sich bleiben will. Seine Toleranz kann ihn sehr intolerant werden lassen. Sein Dienst gilt allen. Er überredet nicht, er überzeugt, später sogar Thomas, der nicht glauben, sondern sehen will.
Absurd der Gedanke, Jesus könne seinen Anspruch je mit Gewalt durchsetzen. Furcht ist nicht in der Liebe. Die Liebe kennt nur die Ehrfurcht. Seine Liebe trägt, duldet, erträgt, trägt uns bis ans Kreuz.
Das „Ich bin“ wird durch das „Ich“ qualifiziert, durch Jesus Christus selbst. Und so wird sich sein Anspruch immer als geduldig hoffende und tragende oder trauernde Liebe darstellen. Der Zugang zum Weg, der Wahrheit und dem Leben wird nur durch das Nadelöhr der Liebe möglich sein. Deshalb entscheide ich mich, an dieser Stelle das Wort „tolerant“ durch das Wort „Liebe“ zu ersetzen. Liebe und Glauben, das ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“, spricht Christus. Amen.
(Lied: 358, 1 Es kennt der Herr die Seinen)
Wir beten:
Gott, ich bitte dich, dass ich dich nicht mit meiner Person verdecke, dich nicht störe, wenn du die Patience der Sterne legst, dass ich nicht ständig das Leiden rechtfertige, es geschehe, dass ich nicht in der Bibel herumspaziere wie ein Pfau, nicht die Sünden zähle, die leichter sind als Schneeflocken, nicht lange ungewiss liebe, nicht die Hände ringe über die Vorsehung, dass mein Herz nicht herumtanze wie ein verbogenes Rad, dass mir das Taufwasser nicht zu Kopf steige, dass ich den armen Sünder nicht zu seinem Wohl auf den Scheiterhaufen schleppe, dass ich nicht herumtrampele auf denen, die auf halbem Weg zwischen Unglauben und Heil stehen bleiben, dass ich nicht im Schlaf murre und vor allem immer daran denke, dass die Ameise des Glaubens sogar den allergrößten Heiligen wie ein Grashalm trägt. Darum bitte ich dich. Amen.
(Lied: 358, 4 Es kennt der Herr die Seinen)
Es segne und behüte uns der allmächtige Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Amen.
10. November 2005