Themen - Beratung - Missbrauch - Unsagbares sagbar machen
I. Wege aus dem Schockzustand
Fallbeispiel
Der Superintendent erhält Besuch von zwei Frauen aus der Luther-Kirchengemeinde: die Mutter der 15-jährigen Lara und die Mutter der 17-jährigen Juliane. Laras Mutter bleibt in dem Gespräch passiv, erscheint aber deutlich betreten. Julianes Mutter erzählt, ihre Tochter habe ihr Folgendes berichtet:
Bei einer Gemeindefreizeit hätten sie und einige andere Jugendliche bei einem Nachtspaziergang gesehen, wie Pfarrer Joel mit der 15-jährigen Lara auf einer Bank am See saß. Die beiden hätten miteinander geschmust und es sei deutlich erkennbar gewesen, dass der Pfarrer mit einer Hand unter den Rock der 15-jährigen gefasst habe. Man habe sich dann wieder entfernt, ohne die Beiden anzusprechen. Julianes Mutter sagt, sie habe sofort die Eltern von Lara angerufen. Laras Mutter erklärt, dass Lara ihr gegenüber zu diesem Thema schweige. Julianes Mutter berichtet weiter, sie habe sofort etliche andere Eltern angerufen, von denen sie wusste, dass ihre Kinder an der Freizeit teilgenommen haben, sie über den Sachverhalt informiert und sich danach erkundigt, ob auch ihre Töchter vom Pfarrer belästigt worden seien.
Binnen kurzen „pfeifen die Spatzen von den Dächern“, was geschehen sein soll. Der Superintendent hat den Pfarrer vorläufig beurlaubt, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet. Es gilt, weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, die Unschuldsvermutung zu Gunsten des Pfarrers.
Im nachfolgenden Text geht es nicht um die Person des Pfarrers, sondern um die Schritte, die in und mit der Kirchengemeinde gegangen werden sollten, um das Gemeindeleben möglichst wieder in intakte und vertrauensvolle Beziehungen und Strukturen zurückzuführen.
Sexualisierte Gewalt, die nicht bearbeitet und erzählbar gemacht wird, kann über Generationen negative Nachwirkungen, wie z.B. Misstrauen und Spaltungen, bewirken. In Anlehnung an das Phasenmodell, das in der Traumabewältigung eingesetzt wird, werden im Folgenden Schritte für die weitere Bearbeitung beschrieben [2].
„Die Begleitung einer Institution bei der Verarbeitung sexueller Gewalterfahrungen unterteilt sich in die Phasen
- Intervention und Stabilisierung,
- Traumaexploration,
- Integration und Neubeginn.“ [3]
An diesen von Enders genannten Phasen orientieren sich auch die folgenden Abschnitte.
a) Intervention und Stabilisierung
Der Schockzustand
Besteht in einer Kirchengemeinde ein Verdacht auf sexualisierte Gewalt, beginnt eine oft sehr lang dauernde Phase der Unsicherheit für alle Beteiligten. Bis der aktuelle Vorfall durch ein gerichtliches Urteil bestätigt oder ggf. auch widerlegt wird, vergeht meist eine lange Zeit [4].
In der Luther-Kirchengemeinde wissen die Familien, die Julianes Mutter angerufen hat, über den Verdacht Bescheid, dass Pfarrer Joel „etwas mit einer Minderjährigen hatte“. So verbreitet sich diese Information schnell in der Kirchengemeinde. Viele Gemeindemitglieder, auch die, die sonst nicht sehr am Gemeindeleben interessiert sind, hören genau hin und die Nachricht über den Pfarrer wirkt auf alle wie ein erschütterndes und aufregendes Ereignis, das vielfältige Gefühle auslöst. Einige Kirchenaustritte sind zu verzeichnen. Die Besucherzahlen im Gottesdienst nehmen ab.
Schock, Verwirrung, Hilflosigkeit, Schuldgefühle und/oder Misstrauen sind Gefühle, die haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende einer Gemeinde oder Einrichtung haben können, wenn sie mit einem Fall von sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen konfrontiert werden. In kirchlichen Einrichtungen und besonders in Kirchengemeinden kommt hinzu, dass der Schutz und die Achtung von Kindern für das christliche Selbstverständnis zentral sind. Überdies wird Pastorinnen und Pastoren kraft ihres Amtes eine besondere Integrität zugeschrieben [5].
Auf die Aufdeckung sexualisierter Gewalt folgen psychologische – und im kirchlichen Tätigkeitsfeld möglicherweise auch spirituelle – Krisen und der „normale Alltag“ kommt mitunter vollständig zum Erliegen. Das bisherige Weltbild – sowohl im Hinblick auf eine bestimmte Person, als auch von der Institution selbst, kommt ins Wanken.
Die Eltern, die Ihre Kinder in der kirchlichen KiTa der Luther-Kirchengemeinde betreuen lassen, sprechen die dort hauptamtlich Beschäftigten auf das Geschehen an. Sie wollen wissen, was die Erzieherinnen davon halten. Diese wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen.
Um einen Weg hinaus aus diesem Schockzustand zu finden und somit auch die Aufarbeitung innerhalb der Institution voranzutreiben, hilft den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Reflexion der individuellen Wahrnehmungen und Reaktionen. Die Bewältigung der Ohnmacht und die persönliche Stabilisierung sind hierbei von größter Wichtigkeit, da die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Institution in der Regel auch diejenigen sind, die die ebenso traumatisierten Mitglieder einer Gemeinde im weiteren Prozess emotional und seelisch unterstützen sollen.
Krisenkommunikation: Die schwierige Phase kurz nach dem Aufdecken der Tat
Die wichtige Forderung nach Verschwiegenheit, das Gebot der Unschuldsvermutung und der Opferschutz können in dieser Zeit dazu führen, dass in der Gemeindeöffentlichkeit ein Informationsvakuum entsteht. Darüber hinaus kann insbesondere durch neue Medien (social media) eine oft sehr schnelle und wenig transparente Meinungsbildung vieler Personen mit je unterschiedlichen Interessen angeschoben werden. Der Umgang mit den Medien stellt damit neben der Begleitung und Klärung der Sachverhalte für die Verantwortlichen in der Gemeinde und den weiteren zuständigen Stellen eine zusätzliche Herausforderung in dieser Phase dar.
Ein Handlungskonzept auch für die Öffentlichkeitsarbeit, das die Anforderungen der Krisenkommunikation berücksichtigt, ist deshalb dringend erforderlich. Dazu gehört stets die Prüfung der juristischen Gegebenheiten. Auch wenn formal die Krisenkommunikation durch die nächsthöhere Ebene wahrgenommen oder unterstützt wird, so besteht auch vor Ort in der Gemeinde und ihrem Umfeld selbst ein Bedarf an geregeltem Umgang mit dem legitimen öffentlichen Interesse, dem Interesse der Gemeindemitglieder und den Informationsbedürfnissen der unmittelbar Beteiligten. In dieser Phase aktivieren Gemeindemitglieder häufig ihre eigenen Unterstützungssysteme – und damit entstehen Bilder und Meinungen, ohne dass angemessen auf diese eingegangen wird.
Der Mutter von Lara begegnen die Nachbarn und Gemeindemitglieder mit Scheu. Sie grüßen, aber das sonst übliche kleine „Schwätzchen“ entfällt.
Leben Angehörige, Familienmitglieder oder zum Kontext der Familie gehörende Personen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, vor Ort und sind auf der Seite der beschuldigten Person ebenfalls Familienmitglieder direkt betroffen, wie etwa die Pfarrfamilie, so bedeutet dies eine weitere Anforderung an die Krisenkommunikation.
Es ist damit zu rechnen, dass im Verlauf der Bearbeitung eines Missbrauchs Menschen in der Gemeinde tief erschüttert werden. Angesichts der Zahl von Menschen in unserer Gesellschaft, die bereits in ihrem Leben von (sexualisierter) Gewalt betroffen waren, ist davon auszugehen, dass unter Mitarbeitenden und Gemeindemitgliedern Personen sind, die durch das Geschehene besonders berührt oder sogar retraumatisiert werden können.
Auch gilt: Selbst wenn ein Missbrauch durch ein Urteil bestätigt wurde, können danach unterschiedliche Bewertungen des Geschehens im Umfeld erfolgen.
Die Krisenkommunikation sollte sich deshalb nicht auf die Basisinformationen (Suspendierung, Freistellung, (Disziplinar-)Verfahren) beschränken. Eine mit entsprechenden Kompetenzen versehene Ansprechperson vor Ort sollte die Gemeinde begleiten. Zusätzlich ist es wichtig, eine Gemeinde, bei der im Rahmen eines Verdachtsfalles die Pfarrstelle vakant wurde, nicht durch eine dem Standard der jeweiligen Landeskirche geltende Vertretungsregelung zu entlasten, sondern darüber hinaus eine Vertretungsperson mit entsprechenden seelsorglichen Kompetenzen zu finden, die die Gemeinde vor Ort begleitet. Solche begleitenden Personen sollten möglichst nicht aus der näheren Umgebung der betroffenen Gemeinde kommen, sondern direkt von der Kirchenleitung entsandt und eingesetzt werden.
Als Mittel zur Kommunikation in der Krise stehen beispielhaft folgende Instrumente zur Verfügung:
Checkliste Krisenkommunikation:
- Form der Veröffentlichung von Informationen (Gemeindebrief, Versammlung, Elternabend etc.)
- Vermeidung von Retraumatisierung durch bekanntgemachte Informationen; deshalb auf die Formulierungen achten, Persönlichkeitsschutz wahren und Handlungsschritte zur öffentlichen Kommunikation mit den Betroffenen besprechen
- Kein „Maulkorb“/“Schweigegebot“, aber Absprachen zur verbindlichen Sprachregelung für alle beteiligten Ebenen
- Schutzauftrag der Beteiligten beachten
- Beratung zur Krisenkommunikation einholen
- Entscheidung, an wen welche Informationen zu welchem Zeitpunkt weitergegeben werden sollen und wer dafür zuständig ist (eine Ansprechperson benennen)
Hilfen in der akuten Krise nutzen
Der Vorsitzende des Kirchenvorstandes der Luther-Kirchengemeinde berät mit dem Kirchenvorstand, wer welche Aufgabe in der schwierigen Situation übernehmen kann. Es zeigt sich, dass alle Verantwortlichen selbst unter Schock stehen und sich nicht in der Lage sehen, die Situation zu „managen“.
Insgesamt stellt die Bewältigung des Geschehens einen Prozess dar, der nicht allein, sondern stets in einem multiprofessionellen Team zu bearbeiten ist.
Gemeinden können und sollten sich in dieser schwierigen und komplexen Situation an die nächsthöhere Ebene wenden und Unterstützung einfordern. Eventuell kann es auch sinnvoll sein, sich Hilfe von außen zu holen und externe Beratung in Anspruch zu nehmen.
Standardisierte Hilfen der Landeskirchen, die sie ihren Gemeinden anbieten, sind:
- Landeskirchliche Beauftragte/Ansprechstelle
- Dienstvorgesetzte Ebene (Kirchenkreis, landeskirchliche Ebene)
- Personalabteilung bzw. -dezernat
- Juristische Abteilung bzw. Juristisches Dezernat
- Pressestelle bzw. Amt für Öffentlichkeitsarbeit
- Mitarbeitervertretung
- Interne und externe Beratung (Fachkraft)
- Gemeindeberatungsstellen, psychologische bzw. Familien- und Lebensberatungsstellen
b) Analyse des Geschehens: Erlebnisaufarbeitung mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Einrichtung
In der wöchentlichen Dienstbesprechung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Luther-Kirchengemeinde herrscht Ratlosigkeit. Wie konnte es zu dem Vorfall zwischen Lara und Pfarrer Joel kommen? Gab es möglicherweise noch mehr Vorfälle? In der Dienstbesprechung wird beschlossen, dass jede und jeder versucht, das Geschehene zu analysieren.
Ein wichtiger Schritt hin zur Krisenbewältigung und nachhaltigen Aufarbeitung der Erlebnisse liegt in der gemeinsamen Analyse der Ausgangssituation sowie der institutionellen Handlungsabläufe vor, während und nach Bekanntwerden der sexualisierten Gewalt.
Eine systematische Analyse der Geschehnisse und Handlungsabläufe sowie eine klare Zielsetzung zur Veränderung bestehender Strukturen ist ein entscheidender Schritt für die Aufarbeitung und somit auch für die nachhaltige Heilung einer durch sexualisierte Gewalt „traumatisierten“ Institution. Hierbei ist auf eine umfassende Partizipation zu achten und sowohl die Leitungsebene der Institution, als auch die Sicht der Betroffenen, der Mitarbeitenden, der Eltern und Kinder sowie der Gemeindemitglieder einzubeziehen.
Die Wahrnehmung sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen ist nicht einfach. Dies betrifft sowohl das eigentliche „Wahrhaben“ des Geschehenen („Bei uns doch nicht!“), als auch die faktischen Beobachtungen und die Einordnung von Verhaltensweisen. Verschiedene Personen machen hierbei oft unterschiedliche Beobachtungen. Fakten werden zum Teil vielleicht ausgeblendet oder bagatellisiert. Niemand möchte als „Nestbeschmutzer“ dastehen und häufig existieren auch keine klaren Beschwerdewege, die es Mitarbeitenden ermöglichen, ihre Beobachtung zur Leitungsebene weiterzugeben oder es fehlt das Wissen über diese. Manchmal summieren sich daher erst nach Aufdeckung einer Tat – oder im Verlauf der Strafverfolgung – die Berichte über augenscheinlich fragwürdige Situationen. Hinzu kommt, dass das Thema „Sexualität“ und „sexualisierte Gewalt“ teilweise noch immer einer großen Tabuisierung unterliegt. Dies führt dazu, dass viele haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende in dieser Hinsicht nicht sprachfähig sind, da sie für die Thematik nicht sensibilisiert und für den Umgang mit Verdachtsmomenten nicht hinreichend geschult sind.
Für alle Mitarbeitenden einer betroffenen Gemeinde oder Einrichtung ist es wichtig, sich über die Situation und das eigene Handeln klar zu werden. Hierbei kann eine Checkliste zur Selbstreflexion dienlich sein, die beispielsweise auch im Rahmen einer Supervision Hilfestellung bieten kann.
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Bei der Betrachtung der Fragen und Antworten kann ein negatives Ergebnis herauskommen. Dies ist sogar wahrscheinlich, denn „die Gefühle des Verlustes, der Demütigung und der Verletzung sind bei Missbrauch in Institutionen der Situation angemessen. Es hilft niemandem, wenn Beratende sofort alles unternehmen, damit Fachkräfte und Eltern nicht mehr durch negative Gefühle belastet werden. Deren Bearbeitung ist vielmehr ausreichend Raum zu geben, der ohnehin durch die zu bewältigenden Alltagsprobleme begrenzt ist. Nur so ist einer Versteinerung der Kommunikation innerhalb der Institution vorzubeugen.“ [6]
In der Dienstbesprechung sind sich alle einig, dass etwas geschehen muss, um sexualisierter Gewalt keinen Raum zu geben – vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit. Es kursieren die Begriffe Präventionskonzept, Krisenplan und „man muss mal ganz grundsätzlich über unsere Strukturen nachdenken“ in der Runde.
Fragen, die sich zum Beispiel für den Kirchenvorstand oder die KiTa-Leitung für die zukünftige Weiterarbeit ergeben, beinhalten u.a.:
- Welche Form der fachlichen Beratung ist notwendig (seelsorglich, juristisch, therapeutisch)?
- Wie kann man die von sexualisierter Gewalt betroffenen Personen bei der Auf- und Verarbeitung der Geschehnisse unterstützen?
- Welche Bedürfnisse bestehen bei Mitarbeitenden, Eltern, Kindern und Jugendlichen, die weiterhin in die Aktivitäten der Institution/Einrichtung involviert sind?
- Wie ausgeprägt ist das Problembewusstsein bei den Leitungsverantwortlichen und den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?
- Welche Strukturen und Kommunikationswege müssen geschaffen werden, um zukünftig den Schutz von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu sichern?
- Ist im erneuten Krisenfall ein Handlungsplan vorhanden?
- Was lernen wir für unser Präventionskonzept?
- Welche Fortbildungen muss wer besuchen?
Reflexion: Voraussetzungen für die eigene Aufarbeitung
Unabhängig davon, ob Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter im Vorfeld von der sexualisierten Gewalt gewusst haben oder nicht, entstehen dabei Ängste und Spaltungen im Kollegenkreis oder Solidarisierungen mit den mutmaßlichen Tätern oder Täterinnen. Es kommt zum Konflikt um Loyalitäten. Ist der erste Schock überwunden, wachsen bei einigen möglicherweise Zweifel an den Anschuldigungen, während andere vom Wahrheitsgehalt absolut überzeugt sind. Vielleicht fühlt man sich darüber hinaus schuldig, weil man die „Zeichen“ nicht erkannt oder nicht ausreichend beachtet hat und die Gewalt nicht verhindern konnte.
Wichtig sind insbesondere die folgenden Voraussetzungen:
- Die Leitungskräfte (Gemeindeleitung, Kirchenvorstand o.ä.) tragen die Fürsorgepflicht gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie klären den Hilfebedarf, geben Handlungsrichtlinien im Krisenfall vor und stellen Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen zur Verfügung.
- Die Angebote von Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen sowie die Zuständigkeiten der Leitungskräfte (benannte Ansprechpersonen) müssen gegenüber den Mitarbeitenden klar kommuniziert werden.
- Den Mitarbeitenden sollte ein Forum geboten werden, wo sie Informationen erhalten, ihre Gefühle mitteilen und Fragen zum Umgang mit der gegenwärtigen Situation und zur Gestaltung der zukünftigen Weiterarbeit stellen können (bspw. Formulierung eines Aktionsplans).
- Hinzuziehung einer externen, unabhängigen Fachstelle zur Beratung der Institution und zur direkten Unterstützung der Mitarbeitenden. Sinnvoll ist auch eine Vernetzung der Beratungskräfte und Ansprechpersonen in den Gemeinden oder Einrichtungen („Helferkonferenz“).
c) Integration und Neubeginn
Lara hat es schwer in der gemeindlichen Jugendgruppe. Die Gleichaltrigen haben ihr Verhalten ihr gegenüber verändert. Lara leidet darunter. Am liebsten würde sie aus der Stadt wegziehen. Die Gemeindediakonin, die Lara gut kennt, macht den Vorschlag, dass man doch irgendetwas unternehmen müsse, damit Lara wieder zurechtkomme.
Ist die Analyse der Situation und der Handlungsabläufe im Kreis des Kirchenvorstandes und der Mitarbeitenden abgeschlossen, ist bereits der erste Schritt der Aufarbeitung hin zu einem Neubeginn getan. Nun gilt es, das zerstörte Vertrauen unter allen Beteiligten, sowohl der Betroffenen als auch der Gemeindemitglieder, wieder aufzubauen, um letztendlich die Handlungsfähigkeit der Einrichtung oder Gemeinde wiederherzustellen. Dazu gehört auch, Verantwortung zu übernehmen, die Schwächen der Institution aufzudecken und so ein Klima der Offenheit zu schaffen.
Die jeweiligen Verantwortlichen in einer Gemeinde/Einrichtung können sich dabei folgender Instrumente bedienen, die hier beispielhaft genannt sind:
- Gottesdienste, Rituale, z.B. Klage [7], Schuldbekenntnis
- rundsätzliche theologische Aufarbeitung, Bibelarbeit
- Der Wahrheit Raum geben: Die eigenen Erfahrungen und Gefühle in großen und kleinen Runden der verschiedenen Beteiligten erzählen (Eltern, Kinder, Jugendliche, Gemeindegremien, Hauptamtliche)
- Beratung und Seelsorge
- Stärkung der Leitungsorgane über die gesamte Krisenzeit
- Klima der Offenheit anregen
In der KiTa der Gemeinde, die in der Vergangenheit wegen mangelnder Plätze Eltern abweisen oder auf Wartelisten setzen musste, ist die Nachfrage zurückgegangen. Eine Mutter erzählt, in ihrem Bekanntenkreis habe sie gehört, dass in „dieser“ Gemeinde ein Kind nicht sicher sei. Dem habe sie zwar widersprochen, aber welche konkreten Maßnahmen es gebe, wisse sie nicht. Sie fragt die KiTa-Leitung, ob es ein Präventionskonzept gebe.
Nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Institutionen, wie eine KiTa oder Kirchengemeinde, können sich durch einen transparent geführten Prozess der Aufarbeitung verändern. Ein wesentlicher Schritt kann die Implementierung eines Präventionskonzeptes sein. Dazu wird wie folgt berichtet:
„In der Vergangenheit konnte Zartbitter Köln beobachten, dass einige Institutionen, die zum Tatort wurden und eine intensive Aufarbeitung der Gewalterfahrungen leisteten, die bitteren Erfahrungen oftmals als eine Chance zur Qualifizierung sahen. Nicht wenige entwickelten schützende institutionelle Strukturen, die Tätern und Täterinnen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen erschweren – Präventionsarbeit, die sie im Rahmen von Selbstverpflichtungen institutionell verankerten. Sie leisteten auf allen Ebenen Präventionsarbeit.“ [8] Dies beginnt mit der Initiierung einer neuen Gesprächs- und Kooperationskultur sowie der Entwicklung eines institutionellen Leitbildes (Kultur der Achtsamkeit), der sich jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter verpflichtet.
Kodex
Mitarbeitende müssen verantwortungsbewusst mit Nähe und Distanz umgehen und es müssen Grenzverletzungen jeglicher Art konsequent verfolgt werden. Es muss klargestellt werden, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen auf körperliche und seelische Unversehrtheit zu achten sind und dass hierzu auch das Recht auf (sexuelle) Selbstbestimmung zählt. Dafür braucht es ein Klima der offenen Auseinandersetzung mit den Themen „Sexualität“ und „sexualisierte Gewalt“ und einen transparenten Umgang mit Verdachtsfällen.
Maßnahmen zur Intervention und Prävention
Teil der Aufarbeitung und Traumabewältigung nach einem Fall von sexualisierter Gewalt ist auch das Treffen von Vorkehrungen, damit derartige Fälle zukünftig verhindert werden und der Schutz von Kindern und Jugendlichen in der betroffenen Einrichtung gesichert wird. Nachdem ein Problembewusstsein geschaffen ist und man sich dem Thema sexualisierte Gewalt offen genähert hat, ist es daher wichtig, Maßnahmen der Intervention und Prävention in das System einzugliedern.
In den Landeskirchen der EKD wurden bereits eine Vielzahl an qualitätsreichen Handreichungen und Empfehlungen zur Implementierung von Präventionsmaßnahmen und Krisenplänen entwickelt. Zu den diversen Bausteinen der Prävention gehören z.B. die Fort- und Weiterbildung von Mitarbeitenden, die Etablierung klarer Beschwerdeverfahren, die Vernetzung mit Fachberatungsstellen, Berücksichtigung der Thematik im Rahmen des Personalmanagements oder die Entwicklung von Leitlinien und Selbstverpflichtungserklärungen. Dies alles sind Maßnahmen, die eine erneute Tat vielleicht nicht zwingend verhindern, die tatbegünstigenden Strukturen innerhalb einer Institution oder Einrichtung jedoch reduzieren können.
Weiter bedarf es einer grundlegenden Interventionsarbeit, bspw. in Form eines Aktions- oder Krisenplans. Hierzu gehört es, Leitungsverantwortliche klar zu benennen, verbindliche Verfahrensrichtlinien zum Vorgehen im Verdachtsfall festzulegen, Schutz und Hilfe für Betroffene und Angehörige zu ermöglichen, Mitarbeitende für den Umgang mit den Medien zu schulen und ihnen Supervision zu ermöglichen. Hier empfiehlt sich Literatur und Informationsmaterial von der zuständigen Landeskirche anzufordern. Auch die EKD stellt entsprechende Empfehlungen und Handlungsleitlinien zur Verfügung [9].
Weiterentwicklung der Organisationskultur
Ist in einer Kirchengemeinde die Krise, die durch das Aufdecken sexualisierter Gewalt entstanden ist, insoweit bewältigt, dass die erforderlichen Schritte eingeleitet wurden und der Kirchenvorstand wieder handlungsfähig ist, wird geraten, mit Hilfe einer Organisationsanalyse die gemeindlichen Strukturen in den Blick zu nehmen. Damit kann für die Zukunft das Vertrauen in die Gemeinde als Glaubens-, Lebens- und Arbeitsraum zurückgewonnen und stabilisiert werden.
Der Verlust des Vertrauens stellt Organisationen unter Handlungsdruck, um das zerstörte und verloren gegangene Vertrauen wieder zu gewinnen. Dies ist keine schnell und einfach zu lösende Aufgabe, denn Vertrauen ist nicht einfach da, sondern wird aufgebaut, Vertrauen wird nicht unbegründet geschenkt, sondern es wächst aus Erfahrungen mit Menschen sowie mit Organisationen. Enttäuschte Erwartungen und Erfahrungen führen wiederum zum Verlust des Vertrauens. Dies geschieht vor allem, wenn es sich um Organisationen und Einrichtungen handelt, deren hoher moralischer Anspruch diametral zu der Erfahrung steht, dass in der Organisation sexualisierte Gewalt geschehen ist. Für die Beantwortung der Frage „Wie kann Vertrauen in eine Organisation und in ein Miteinander neu wachsen, wenn es entzogen wurde?“ gibt es kein Patentrezept.
Hilfreich kann sein, mit dem vom Edgar Schein in den 80er Jahren geprägten Begriff der Organisationskultur zu arbeiten. „Kultur entsteht im dauerhaften Wechselspiel von Analyse und Diskussion, dem Aushandeln von Werten und Praktiken, durch Erprobung und Reflexion der Beteiligten.“ [10] Kultur entsteht durch Lernen, ist somit Erfahrungswissen. Sie verändert sich, wenn bisherige Wirklichkeitskonstrukte durch neue Erfahrungen erweitert werden können.
Jede Kirchengemeinde hat neben einer gewissen Vergleichbarkeit von Organisationsmerkmalen ihre eigenen Regeln und Ausprägungen. Für das Aufbauen einer Organisationskultur des Vertrauens gibt es jedoch Orientierung und die Möglichkeit, die eigene Organisation „Kirchengemeinde“ mit Hilfe von Fragen zu betrachten und auf diese Weise zu verstehen, wie das Miteinander bisher funktionierte. Darauf aufbauend kann erarbeitet werden, welche Veränderungen für die Zukunft in der Gestaltung des Gemeindelebens wichtig sind und welche Ziele sich die Gemeinde für ihr Gemeindeleben setzt.
Als Orientierung kann dienen: Wenn die Organisationskultur dazu beiträgt, die Balance zwischen Autonomie und Kontrolle zu halten, entsteht Raum für Vertrauensbildung und einen verantwortungsvollen Umgang miteinander. Autonomie steht hierbei für alle Formen der Selbstbeteiligung, Eigenverantwortlichkeit, Entscheidungsfreiheit und Mitgestaltung. Kontrolle steht für Verantwortungsübernahme, eine fürsorgliche Aufsicht und begleitende Achtsamkeit. Eine solche Organisationskultur ist geprägt von Transparenz und Klarheit, Lernen und Entwickeln, von Wertschätzung und Einfühlung.
Die in der nachfolgenden Arbeitshilfe aufgezeigten Organisationsmerkmale gemeindlichen Lebens können alle oder einzeln betrachtet werden. Dabei kann es hilfreich sein, innerlich einen Schritt aus der eigenen Organisation herauszutreten. Die Fragen sind beispielhaft gedacht und können im gemeinsamen Beratungsprozess erweitert oder verändert werden. Es ist empfehlenswert, für diesen Organisationsberatungsprozess eine Beraterin oder einen Berater von außen hinzuziehen.
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