Von Tod, Trauer und neuer Normalität
Pflegekräfte beschreiben ihre Arbeit in der stationären Altenhilfe in Corona-Zeiten
Schladen/Stade (epd). Es geht um Angst, natürlich um Zusammenhalt, um Tod und Trauer, um den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind, um Engagement jenseits festgelegter Dienstpläne, um Würde am Lebensende: Die Arbeit in den bundesweit etwa 14.500 Altenpflegeheimen in Corona-Zeiten fordert alle Beteiligten bis zum Anschlag, besonders die Pflegekräfte. Wortmeldungen aus zwei Einrichtungen in Niedersachsen zeigen beispielhaft, was Menschen denken und fühlen, die dort arbeiten, wo es täglich um Leben und Tod geht.
Zwei Frauen stehen dabei im Mittelpunkt: Svenja Siegel, 41, arbeitet als gerontopsychiatrische Fachkraft in der diakonischen Grotjahn-Stiftung in Schladen bei Goslar. Dort, im Hermann-Oberschmidt-Haus am Harzrand, werden 80 Ältere versorgt und begleitet. In der Stiftung sind in den vergangenen Wochen acht Menschen an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben.
240 Kilometer weiter nördlich, in Stade bei Hamburg, ist Svenja Dankers, 33, als Altenpflegerin im Johannisheim tätig. Das Haus hat 124 Plätze und gehört ebenfalls zur Diakonie. Dort starben bisher fünf Bewohner im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. In beiden Einrichtungen leben viele Menschen mit einer Demenz.
Anfang und Zusammenhalt: Als in der chinesischen Stadt Wuhan im Dezember vergangenen Jahres erste Fälle einer unbekannten Lungenkrankheit auftraten, „war das so ganz weit weg“, erinnert sich in Schladen Stiftungssprecher Benedikt Kappler, 35. „Und dann - auf einmal laufen alle mit Mundschutz rum, weil es immer näher kam. Da hat man sich dann schon intensivere Gedanken gemacht.“
Sowohl in Schladen wie auch in Stade wurden schnell Besuche verboten, um das Infektionsrisiko zu senken. Nach ersten Ansteckungen wurden sofort Isolierstationen eingerichtet. „Da hat sich ein kleines Team aufgebaut für drei Schichten, früh, spät, nachts“, berichtet Svenja Dankers aus Stade. „Zwei Nachtwachen, fünf im Tagdienst. Das Umziehen der Bewohner von einer Station zur anderen, das musste alles schnell gehen. Das war kein Dienst nach Vorschrift, es ging teilweise zwölf Stunden und länger, tagtäglich ein anderes Erleben.“ Ihre Kollegin Svenja Siegel ergänzt: „Alle waren und sind motiviert.“
Benedikt Kappler, zu der Zeit noch Pflegedienstleiter, meint: „Die Überstunden waren für niemanden ein Problem. Nach 14 Stunden allerdings fällt das Abschalten schwer und man läuft weiter auf Hochtouren.“ So war es auch in Stade, erinnert sich Heimleiterin Sylvia Balbuchta, 47: „Die große Frage für uns war, was ist wirklich dran an dieser Pandemie, was ist Panikmache?“ Ihr Eindruck: Politik und Behörden haben Corona zuerst nicht ernst genommen. „Aber warum in Gottes Namen sollte dieses Virus in China bleiben?“
Angst und Trauer: Dann kamen die ersten Infektionen und Todesfälle. „Ich war sehr mitgenommen, sehr traurig“, sagt Svenja Dankers. „Ich und meine Kolleginnen haben hier oft genug gestanden und geweint, um den Druck loszuwerden.“ Um sich selber habe sie keine Angst gehabt. „Man denkt sich ja immer: Ich selbst werde es nicht sein. Wenn ich es bekomme, stehe ich es relativ gut durch. Ich hatte aber Angst davor, dass es für die Bewohner sehr schlecht sein könnte, weil wir hier doch viele Menschen mit heftigen Vorerkrankungen haben.“
Svenja Siegel meint: „Im Hinterkopf ist da sicherlich auch mal Angst, dass wir unter Umständen in die Bredouille kommen, wenn wir mit schwerstkranken Menschen arbeiten.“ Ihr Kollege Benedikt Kappler sagt, durch den Aufnahmestopp im Isolierbereich blieben die Betten verstorbener Bewohner zunächst einmal leer, vor der Krise seien Plätze schnell wieder belegt worden. „Die Situation ist dadurch jetzt viel präsenter, die Erinnerungen bleiben länger wach.“
Er spricht aus, was viele Beschäftigte in den Heimen umtreibt: „Wir haben alles getan, um Vorsorge zu treffen. Und dass es trotzdem Infektionen und Todesfälle gab, das war für alle ein Tiefschlag“. Auch die Ansteckungswege seien bis heute nicht klar. „Einiges kann man gar nicht so beeinflussen, Krankenhaus-Entlassungen von Bewohnern zum Beispiel. Und natürlich hat jeder Mitarbeiter ein Privatleben, kauft ein, hat Kinder.“ Sylvia Balbuchta spricht von Hilflosigkeit: „Warum haben wir das gekriegt? Wir haben doch alle Empfehlungen, die das Robert Koch-Institut rausgegeben hat, früh umgesetzt.“ Die ersten vier Wochen nach Ausbruch der Pandemie im Haus, „die waren die Hölle“.
In dieser Ausnahmesituation war und ist in beiden Einrichtungen der Zusammenhalt im Team wichtig. „Es gibt viele Gespräche“, sagt Svenja Siegel, „auch in kleineren Gruppen oder unter vier Augen. Außerdem unterstützt uns die Pfarrerin im Haus.“ Svenja Dankers ist froh: „Wir haben viele tolle Leute hier, ein Team, mit dem man Pferde stehlen kann.“
Vorwürfe und Beifall: Die Reaktionen außerhalb der Einrichtung sind dagegen unterschiedlich. Benedikt Kappler hört aus dem benachbarten Wolfsburg von Angriffen. Dort sind im diakonischen Hanns-Lilje-Heim mehr als 40 Bewohner an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben. „Mitarbeiter müssen auf der Straße erdulden, bespuckt und beschimpft zu werden. Hauswirtschaftskräfte der Einrichtung, die für Ältere Einkäufe erledigen sollten, bekamen keinen Zutritt zu Supermärkten.“
Andererseits wurden Pflegekräfte zu „Helden des Alltags“ ernannt, die Beifall vom Balkon bekamen. „Ein Pizza-Bäcker aus Stade hat uns zum Dank zehn Pizzen geliefert“, freut sich Svenja Dankers. „Dann gibt es aber auch Menschen, die uns über die sozialen Netzwerke anfeinden, uns die Schuld dafür geben, dass in unserem Haus Covid-19 ausgebrochen ist. Darüber war ich am Anfang sehr traurig, denn niemand kann alle Infektionswege kontrollieren. Wer so etwas sagt, soll unsere Schuhe anziehen, soll hier herkommen, soll unsere Arbeit aufnehmen und sich dann ein Urteil bilden.“
Wie schwierig gerade anfangs Fremd- und Selbstschutz waren, zeigt vor allem ein Blick auf das bis heute knappe Schutzmaterial. „Als wir dann so viele Infektionsfälle hatten und es noch immer keine medizinischen FFP-2-Masken gab, habe ich gedacht: Mist, mein Personal ist hier Kanonenfutter“, erinnert sich Heimleiterin Sylvia Balbuchta. Sie habe überall gebettelt. Dann seien die Preise für Schutzmasken explodiert. „Von 60 Cent auf 4.90 Euro das Stück, das ist der Wahnsinn.“ Auch Schutzkittel habe es anfangs nicht gegeben. „Da haben wir Müllsäcke zusammennähen lassen, damit wir was hatten.“ Mittlerweile habe sich die Situation entspannt.
Normalität und Veränderung: Mit den ersten Infektionen wurden nicht nur Besuche verboten, sondern in den Häusern auch Treffpunkte geschlossen, Beschäftigungsangebote gestrichen, Kontakte auf das unbedingt nötige Maß reduziert. Kein gemeinsames Singen, Malen, Spielen. Nun macht sich Isolation breit, zerrt an der Psyche der Bewohner. „Das ist besonders für Menschen mit einer Demenz einschneidend“, verdeutlicht Svenja Dankers. „Die dürfen ihrem Bewegungsdrang nicht mehr so nachkommen, dürfen zum Spaziergang nicht aus dem Haus. Da müssen wir als Pflegekräfte noch mehr Zuwendung geben, das ist nicht immer ganz leicht. Dadurch wird der Dienst noch kompakter.“
Außerdem mussten sich die Bewohner an das neue Aussehen der Pflegekräfte erst gewöhnen. „Sie haben uns teilweise gar nicht mehr erkannt, wir waren ja nicht mehr die, die wir vorher waren“, beschreibt Svenja Dankers, „mit Maske, Schutzkittel und Handschuhen“. Dazu kommt: Die Maske drückt, das Atmen darunter fällt richtig schwer, Brillen beschlagen, das ewige Händewaschen und Desinfizieren tut nicht gut. Svenja Siegel: „Die Hände werden rau, trocknen aus, platzen auf.“
Und im Umgang mit den Schutzmasken ergänzt sie: „Das große Problem ist, dass man das Lächeln nicht mehr sieht.“ Ganz viel laufe bei schwerst dementen Menschen nun über Gerüche. „Wenn wir weiterhin unser bekanntes Parfüm oder Deo benutzen, wird das wahrgenommen. Aber manche reagieren eben auch mit Angst und Unruhe und fragen, ob wir oder sie krank sind. Wir versuchen das Beste draus zu machen. Ich habe gerade auf meinen blauen Schutzkittel ein großes rotes Herz gemalt - mit Augen und einem Mund.“
So entsteht eine neue Normalität: Kolleginnen und Kollegen begegnen sich mit größerem Abstand, auch im Dienstzimmer und im Pausenraum. Umarmungen, unter Kolleginnen bisher Standard, gibt es nicht mehr. Die Hand geben, ein Übergriff. Trotzdem hoffen alle, dass bald wieder mehr tagesstrukturierende Angebote möglich werden. Die Politik lockert gerade die Besuchsverbote.
Was die Beschäftigten in beiden Einrichtungen freut, bringt Sylvia Balbuchta auf den Punkt: „Ein Großteil der Angehörigen vertraut uns und begegnet uns mit Verständnis.“ Ihre Kollegin Svenja Dankers betont, man sei im Umgang mit der Krise erfahrener geworden: „Uns geht jetzt alles leichter von der Hand. Wir erkennen früher die Anzeichen einer Infektion, können schneller reagieren. Und wir lachen wieder mehr.“
Politik und Zukunft: Alle fragen sich, ob es beim Beifall vom Balkon und einmaligen Bonus-Zahlungen bleibt. „Die Politik hat die Pflege ganz klein gemacht, hat sie eigentlich immer kurzgehalten und finanziell gedrückt“, kritisiert Svenja Dankers. „Ich habe die Befürchtung, dass es nach der Krise wieder so wird.“
Claus Hinrichs, 68, Vorstandschef des Johannisheims in Stade, mahnt, die Pflege dürfe durch den Wettbewerb nicht ausgehöhlt werden. Konkurrenz sei nicht verkehrt, meint der Wasserwirtschafts-Ingenieur. Pflege sei aber Daseinsvorsorge und in dieser Hinsicht zuerst eine öffentliche Aufgabe: „Es darf nicht um billig, billig, billig gehen. Der Preiskampf darf nicht auf dem Rücken von Bewohnern und Beschäftigten ausgetragen werden. Zuallererst sind gute Begleitung und Würde am Lebensende wichtig. Dafür muss die Altenpflege ausgerüstet werden.“
Von Gunnar Müller und Dieter Sell (epd)