"Dem Helfen und Heilen verpflichtet - aber nicht um jeden Preis" - Vortrag zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe des Evangelischen Forums Mannheim "Menschenwürde und medizinischer Fortschritt - Impulse zur Orientierung"
Hermann Barth
Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen hat in diesem Sommer der amtierende Bundeskanzler eine viel beachtete und viel kommentierte Rede über den naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt gehalten. Darin sagte er unter anderem:
"Wir mussten ... in der Vergangenheit erleben, dass Forscher, die sich für die Arbeit mit embryonalen Stammzellen ausgesprochen haben, öffentlich als gewissenlos oder geltungssüchtig diffamiert wurden. Ich finde diese Kritik in keiner Weise akzeptabel ... Ich finde es anmaßend, die Motive dieser Biologen und Mediziner in Zweifel zu ziehen. Sie stellen ihre Forschungen in den Dienst ihrer Mitmenschen. Sie wollen anderen helfen und Krankheiten heilen. Kann es überhaupt eine großartigere Aufgabe geben?"
Und er fuhr dann - zu dem aus seiner Sicht ethisch Gebotenen übergehend und Folgerungen für sein politisches Programm ziehend - folgendermaßen fort:
"Solange das große medizinische Potenzial der Stammzellenforschung nicht ausgelotet ist, und zwar mit adulten wie mit embryonalen Stammzellen, solange die Chance besteht, Leiden lindern und heute noch unheilbare Krankheiten bekämpfen zu können, haben wir die Pflicht, diese Forschung zu nutzen. Wir müssen der Chance eine Chance geben ... Wir wollen in Deutschland eine neue Kultur der Wissenschaft etablieren. Eine Kultur der Freiheit. Eine Kultur der Forschung ohne Fesseln, aber nicht ohne Grenzen ... Ich will erreichen, dass wir bei neuen Technologien die Chancen, die sich ergeben, verantwortungsvoll nutzen. Und zwar nicht, weil ich glaube, dass alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden muss. Sondern damit alles, was gemacht werden muss, auch gemacht werden kann."
Bundeskanzler Schröder ist mitnichten der einzige, der so denkt und so redet. In Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Ethik gibt es eine ganze Reihe von Stimmen, die sich im selben Sinne äußern.
Wir sind damit mitten in der Thematik, der die am heutigen Abend beginnende Veranstaltungsreihe "Menschenwürde und medizinischer Fortschritt" gewidmet ist. Der Titel, den ich über meinen Vortrag gesetzt habe, gibt in Kurzform meine Position wieder: Wir sind zum Helfen und Heilen verpflichtet, aber wir können und dürfen dafür nicht jeden Preis bezahlen. Damit Sie schon jetzt eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, auf welchen gedanklichen Weg ich Sie mitnehmen will, nenne ich Ihnen die Überschriften der drei Teile meines Vortrags:
I. Wir sind ethisch zum Helfen und Heilen verpflichtet.
II. Nicht alle Möglichkeiten des Helfens und Heilens sind ethisch vertretbar.
III. Ethische Überzeugungen müssen auf unterschiedlichen Handlungsebenen
je spezifische Konsequenzen haben.
Ich werde mich in diesem III. Teil - um Sie noch ein wenig genauer mit der Gliederung meines Vortrags vertraut zu machen - beschäftigen mit
1. Notwendigkeit und Grenze rechtlicher Regelungen,
2. dem Problem, dass die ethischen und rechtlichen Maßstäbe, international betrachtet, höchst uneinheitlich sind, schließlich
3. dem Verständnis von Forschungsfreiheit.
I. Wir sind ethisch zum Helfen und Heilen verpflichtet.
Wer schon einmal die Hansestadt Lübeck besucht hat, der wird vermutlich auch am oder sogar im Heilig-Geist-Hospital gewesen sein. Das Lübecker Hospital, das im 13. Jahrhundert entstanden ist und zu den in Europa besterhaltenen mittelalterlichen Spitälern gehört, ermöglicht bis zum heutigen Tag eine lebendige Anschauung von den Verhältnissen damaliger Armenfürsorge und Krankenpflege. Aus dem Jahr 1263 ist eine Hospitalordnung erhalten. Sie legt fest, dass Kranke barmherzige Aufnahme finden sollen, um die notwendige Pflege zu erhalten. Rudolf Virchow, der bedeutende Wissenschaftler und Sozialpolitiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat von der Ausbreitung der Spitäler im Mittelalter gesagt, "dass man in ihr die Grundlage des modernen Krankenhauswesens suchen darf". Die Einrichtung von Spitälern - ganz gleich ob dies durch christliche Bruderschaften, durch Orden oder, wie in Lübeck, durch die Bürgerschaft geschah - galt als ein Werk der Barmherzigkeit und gehört darum in die Wirkungsgeschichte des Gebots der Nächstenliebe.
Dieses Gebot wird für uns historisch zum ersten Mal in der hebräischen Bibel, die bei den Christen Altes Testament genannt wird, fassbar. Im 3. Buch Mose heißt es in einer Sammlung göttlicher Gebote: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr" (19,18). Von diesem Quellpunkt aus hat sich das Gebot der Nächstenliebe im gesamten jüdisch-christlichen Einflussbereich verbreitet. Die Verkündigung und das Wirken Jesu kommen selbst aus dieser Tradition und sind zugleich der stärkste Faktor für ihre gewaltige Wirkung geworden. Jesus hat Gottesliebe und Nächstenliebe aneinander gebunden und das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe als Zusammenfassung des Willens Gottes gedeutet (Matthäus 22,35-40).
Dass das Gebot der Nächstenliebe in besonderer Art die Zuwendung zu den Kranken einschließt, ergibt sich in der christlichen Tradition schon daraus, dass von Jesus zahlreiche Krankenheilungsgeschichten überliefert sind. Im Matthäusevangelium heißt es über seine Wirksamkeit summarisch: "Und Jesus zog umher in ganz Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und Gebrechen im Volk" (4,23). Entsprechend lautete dann auch der Auftrag, den Jesus seinen Jüngern bei ihrer Aussendung gab: "Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus" (Matthäus 10,7f). Eine besondere Rolle bei der Ausrichtung der Nächstenliebe auf die Zuwendung zu den Kranken spielt aber noch das Gleichnis, das Jesus über das Weltgericht erzählt (Matthäus 25,31-46). In diesem Gleichnis scheidet der zum Weltgericht wiederkehrende Christus die vor seinem Thron Versammelten voneinander, "wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet". Zu denen zu seiner Rechten sagt er dann: "Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen." Das heißt: In jedem notleidenden Menschen, darum auch in jedem kranken Menschen, der Hilfe braucht, begegnet mir Gott selbst. Auf dieses Gleichnis geht im übrigen der Gedanke von den sieben Werken der Barmherzigkeit zurück: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Fremde aufnehmen, Arme mit Kleidung versorgen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und - dieses siebte Werk wurde hinzugefügt - Tote begraben.
Nicht nur das moderne Krankenhauswesen, wie Rudolf Virchow es mit Blick auf die mittelalterlichen Spitäler gesagt hat, sondern die gesamte moderne Medizin und damit auch die medizinische und naturwissenschaftliche Forschung liegen grundsätzlich in der Konsequenz des Gebots der Nächstenliebe. Wie Jesus sich der Aussätzigen erbarmte oder die Bürger Lübecks sich der Gebrechlichen annahmen, so sind wir heute gefordert von der Not von Menschen, deren Nieren nicht mehr ordnungsgemäß funktionieren und die deshalb auf eine Dialysebehandlung angewiesen sind, von der Not der an Diabetes Erkrankten, von der Not der Parkinson- und der Alzheimer-Patienten, auch von der Not der ungewollt Kinderlosen.
Insofern habe ich nicht nur nichts daran auszusetzen, sondern stimme aus ganzem Herzen zu, wenn Bundeskanzler Schröder Naturwissenschaftler und Mediziner vor Diffamierung in Schutz nimmt und wenn er feststellt: "Ich finde es anmaßend, die Motive dieser Biologen und Mediziner in Zweifel zu ziehen. Sie stellen ihre Forschungen in den Dienst ihrer Mitmenschen. Sie wollen anderen helfen und Krankheiten heilen. Kann es überhaupt eine großartigere Aufgabe geben?" Die Probleme liegen an einer anderen Stelle. Bundeskanzler Schröder hat sie angedeutet in der widersprüchlichen Formel von einer "Forschung ohne Fesseln, aber nicht ohne Grenzen". Was denn nun: "ohne Fesseln" oder "nicht ohne Grenzen"? Jede Grenzziehung schränkt ein, kann also als Fessel empfunden werden. Forschung ohne Fesseln ist, für sich genommen, eine gefährliche Losung. Wie alles menschliche Handeln so muss es sich auch die Forschung gefallen lassen, dass ihr Grenzen gesetzt werden. Es ist nicht zuletzt ihre ureigenste Aufgabe, sich selbst Grenzen zu setzen. Denn nicht alles, was der Mensch tun kann, ist ihm ethisch auch erlaubt.
II. Nicht alle Möglichkeiten des Helfens und Heilens sind ethisch vertretbar.
Eine Ethik des Helfens und Heilens diskreditiert sich selbst, wenn sie für Mittel des Helfens und Heilens plädiert, die ethisch nicht vertretbar sind. Der Zweck heiligt niemals die Mittel. Anders gesagt: Helfen und Heilen können nicht um jeden Preis geschehen.
Eines der Beispiele, mit denen ich im I. Teil meines Vortrags aktuelle Herausforderungen der Nächstenliebe illustriert habe, betraf die Not von Menschen, deren Nieren nicht mehr ordnungsgemäß funktionieren. Ihnen kann durch eine Organtransplantation geholfen werden. Aber es gibt, insbesondere in Deutschland, einen Mangel an Spenderorganen. In der FAZ von gestern (28. September 2005) wurde dieser, wie es hieß, "nationale Notstand bei der Transplantationsmedizin" unter der Überschrift "Sterben auf der Warteliste" einmal mehr thematisiert. Was tun? Es leuchtet - jedenfalls unter unseren kulturellen und rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen - ohne weiteres ein, dass es aus ethischen und entsprechend aus rechtlichen Gründen völlig inakzeptabel wäre, sich das benötigte Organ durch die Tötung eines anderen Menschen zu beschaffen. Nicht ganz so selbstverständlich, aber doch weithin unstrittig ist das Verbot des Organhandels, also einer kommerziellen Verwertung von Lebendspenden. Eine Ethik des Helfens und Heilens kann zwar mit guten Gründen dafür eintreten, die Zahl der nach dem Hirntod explantierten und für eine Transplantation verfügbaren Organe, etwa durch Bemühungen um eine Steigerung der Bereitschaft zur Organspende, zu erhöhen. Aber das Mittel des Organhandels ist - nicht nur in Deutschland - bewusst, und dies sogar mit einer gesetzlichen Regelung, ausgeschlossen worden. Obwohl feststeht, dass zu wenig Spendernieren verfügbar sind, um den gegenwärtigen Bedarf zu befriedigen, und es gleichzeitig auf der Welt genügend Menschen gäbe, die gegen Geld bereit wären, eine ihrer beiden Nieren als Lebendspende abzugeben - der Zweck heiligt auch hier nicht die Mittel. Denn man würde durch die Etablierung des Organhandels Menschen, die in Armut leben, in die Versuchung bringen, sich einem unvertretbaren gesundheitlichen Risiko auszusetzen. Und noch grundsätzlicher: Organhandel wäre - oder ist - ein Selbstmissverständnis des Menschen. Denn der Mensch hat nicht seinen Körper - so dass er ihn als Ware behandeln könnte -, er ist Körper.
Ich füge ein weiteres Beispiel an. Unter den Entwicklungen der modernen Medizin und Biologie gehört die Möglichkeit eines Eingriffs in das menschliche Erbgut zu den folgenreichsten. Bei Pflanzen und auch bei Tieren wird das bereits praktiziert: Durch gezielte Veränderungen des genetischen Bestandes werden neue Eigenschaften gezüchtet. Soll es das auch beim Menschen geben, etwa zur Heilung von Erbkrankheiten? Nun muss man gleich klarstellen: Das ist keine aktuelle Frage, es ist Zukunftsmusik. Manchmal leidet die bioethische Diskussion daran, dass zu viel und zu lange über ferne, noch gar nicht absehbare Möglichkeiten gestritten wird, statt sich auf die heute anstehenden Probleme zu konzentrieren. Dennoch - gewissermaßen vorbeugend benenne ich den Grund, der nach meiner Auffassung entscheidend gegen verändernde Eingriffe in das menschliche Erbgut spricht: Die Entwicklung neuer Methoden in Medizin und Biologie ist, wie die Erfahrung lehrt, mit vielen Experimenten und Fehlversuchen verbunden. Bevor vor gut 20 Jahren das erste extrakorporal gezeugte Kind geboren wurde, haben 283 nicht erfolgreiche Versuche stattgefunden. Eine ähnlich hohe Rate war nötig, um "Dolly" zu produzieren. Es mag noch hingehen, wenn bei der genetischen Veränderung von Pflanzen Fehlschläge auftreten. Die Sache wird schon problematischer, wenn bei Tieren die genetische Veränderung nicht gelingt und Fehlbildungen auftreten. Ethisch unerträglich wäre es jedoch, wenn in der unvermeidlichen Experimentalphase genetischer Veränderungen beim Menschen Ergebnisse zustande kämen, die die menschliche Identität und Lebensfähigkeit beeinträchtigen. Von unserem Verständnis des Menschen her kann es keine sozusagen fehlgeschlagenen Menschen geben. Sie experimentell in Kauf zu nehmen, gewissermaßen menschlichen "Ausschuss" zu produzieren ist ein monströser Gedanke.
Aber nicht immer führt die Frage nach dem Preis, der um des Helfens und Heilens willen zu bezahlen wäre, zu so relativ klaren Resultaten. Das zeigt sich besonders deutlich an der Debatte, welche Konsequenzen aus dem Tötungsverbot für die Stammzellforschung, das so genannte therapeutische Klonen oder die Präimplantationsdiagnostik zu ziehen sind.
Einer der wichtigsten, vielleicht der grundlegendste ethische und rechtliche Orientierungspunkt für den Umgang mit menschlichem Leben ist das Tötungsverbot. In den Zehn Geboten lautet es: "Du sollst nicht töten". Die Formulierung ist von äußerster Knappheit, sie bezieht sich nicht auf bestimmte Fallkonstellationen, sondern hat einen grundsätzlichen Charakter und deshalb eine große Reichweite. Das Gebot ist, wie - mit zwei Ausnahmen - der gesamte Dekalog, negativ und nicht positiv formuliert, stellt also genau genommen ein Verbot und nicht ein Gebot dar. Mit diesem Hinweis wird selbstverständlich nicht in Abrede gestellt, daß in der Negation auch eine Position steckt: Das Gebot "Du sollst nicht töten" dient positiv der Bewahrung des menschlichen Lebens. In der Auslegung der Zehn Gebote ist darum immer wieder herausgearbeitet worden, dass in den Verboten jeweils auch ein Gebot steckt. Besonders charakteristisch ist diese Tendenz für die Auslegung, die die Zehn Gebote in Martin Luthers Kleinem Katechismus erhalten. Dort heißt es: "Du sollst nicht töten. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten und seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und beistehen in allen Nöten." Die negative und die positive Formulierung repräsentieren unterschiedliche Tendenzen und Modelle ethischer Unterweisung. Die positive Formulierung benennt Aufgaben: "dem Nächsten helfen und beistehen in allen Nöten". Die negative Formulierung richtet gewissermaßen Warnschilder auf. Sie markiert einen Korridor des Handelns, aber sie schreibt nicht vor, wie im einzelnen zu handeln ist und welche Pflichten bestehen. Insofern lässt sie dem einzelnen einen größeren Raum der Freiheit.
Im Blick auf die aktuelle bioethische Debatte ist es nun die entscheidende Frage, ob sich das Gebot "Du sollst nicht töten" allein auf den geborenen Menschen bezieht oder ob es die vorgeburtliche Phase einschließt und letztlich auch den menschlichen Embryo schützt. Verfassungsrechtlich gewendet heißt die Frage so: Gelten Artikel 1 des Grundgesetzes - der Schutz der Menschenwürde - und Artikel 2 - das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit - nur für die Zeit nach der Geburt, oder erstreckt sich ihre Geltung in die vorgeburtliche Phase hinein und bezieht auch den menschlichen Embryo ein? Ich will meine Position hier deutlich markieren: Der menschliche Embryo hat nach meiner Überzeugung den Status eines embryonalen Menschen, der Würde- und der Lebensschutz, den das Grundgesetz in Artikel 1 und 2 gewährleisten, gilt auch für ihn, er darf aus diesem Schutzbereich nicht herausdefiniert werden. In der im vergangenen Herbst veröffentlichten Stellungnahme des Nationalen Ethikrates über "Klonen zu Fortpflanzungszwecken und Klonen zu biomedizinischen Forschungszwecken" habe ich darum diejenige Position mit unterzeichnet, die den Klon-Embryo wie jeden anderen menschlichen Embryo als Träger der Menschenwürde und des Lebensrechtes ansieht. Wir haben in der Stellungnahme unsere Position folgendermaßen dargestellt:
"Das menschliche Leben stellt nach ethischen Prinzipien und nach den Grundentscheidungen unserer Verfassung nicht ein Gut neben anderen Gütern, sondern das fundamentale Gut dar, auf das sich alle Grundrechte beziehen. Es wird deshalb durch die zu Eingang des Grundgesetzes normierte Unantastbarkeit der Menschenwürde ... und das in ihm ebenfalls verankerte Recht auf Leben ... in besonderer Weise geschützt ... Divergierende Antworten werden ... auf die Frage gegeben, wann der Schutz beginnt. Manche wollen ihn erst mit der Nidation oder gar erst mit der Geburt einsetzen lassen. Andere sprechen von einer stufenweisen Entwicklung des Schutzes, der erst mit der Geburt seine volle Wirkung entfaltet. Nach Ansicht derjenigen, die die vorliegende Position befürworten, sind diese Auffassungen mit dem fundamentalen Wert des Lebens nicht vereinbar. Diese erfordert nämlich, für den Beginn des vollen Schutzes den frühesten biologisch vertretbaren Zeitpunkt zu wählen." Das ist "die Kernverschmelzung ..., weil von da an die Kriterien der Potenzialität, der Identität und der Kontinuität erfüllt und damit alle wesentlichen Voraussetzungen für das Menschsein gegeben sind: das der Potenzialität, weil der Embryo bereits das reale Vermögen besitzt, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln; das der Identität, weil es sich von Anbeginn an um dasselbe Lebewesen handelt; und das der Kontinuität, weil von diesem Moment an über alle Phasen des Menschseins hinweg bis zum Tode ein Prozess im Gange ist, der jeden anderen Einschnitt als willkürlich erscheinen lässt" (S. 37).
Dies ist nicht der Ort, die Argumentation anhand der Kriterien der Potentialität, der Identität und der Kontinuität im einzelnen zu entfalten. Ich will aber den in meinen Augen entscheidenden Ansatzpunkt kenntlich machen: Im wesentlichen unstrittig ist es, dass der geborene Mensch von Anfang an Träger des Schutzes von Menschenwürde und Lebensrecht ist. Vom Zeitpunkt der Geburt ist dann aber zeitlich zurückzufragen: Ist dieses Menschenkind vor der Geburt ein anderes Wesen als nach der Geburt? Ist es vor der Geburt weniger schutzwürdig und schutzbedürftig als unmittelbar nach der Geburt? Und zu welchem Zeitpunkt hat das Leben dieses menschlichen Wesens, das, wie es so schön heißt, mit der Geburt das Licht der Welt erblickt, begonnen? Wenn ich diesen drei Fragen nachgehe, dann kann ich mich der Folgerung nicht entziehen: Jeder neugeborene Mensch war zuerst menschlicher Embryo; in der Entwicklung zwischen dem embryonalen Stadium und der Geburt gibt es zweifellos viele Zäsuren, die über Fortgang oder Abbruch dieser Entwicklung entscheiden; aber es gibt keine Zäsur, an der nach der Kernverschmelzung dieses menschliche Wesen erst das wird, was mit der Geburt ans Licht der Welt kommt. Insofern läßt sich formulieren: In der vorgeburtlichen Phase wird das menschliche Leben immer besser wahrnehmbar als das, was es ist.
Nicht verschwiegen werden soll allerdings eine Schwierigkeit bei der genauen Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem der volle Schutz von Würde und Lebensrecht des menschlichen Embryos einsetzt. Nach meiner Auffassung ist das jedenfalls mit der Kernverschmelzung der Fall. Wie steht es aber mit derjenigen embryonalen Entwicklungsstufe, die zwischen dem Befruchtungsvorgang und der Kernverschmelzung liegt? Dieses so genannte Vorkernstadium ist nach der geltenden Rechtslage in Deutschland nicht unter den vollen Schutz gestellt; die Folge ist, dass in Deutschland - im Unterschied zu anderen Ländern - zwar nicht Zehntausende von menschlichen Embryonen kryokonserviert werden, die aus In-vitro-Fertilisationen übrig geblieben sind, wohl aber Zehntausende von befruchteten Eizellen im Vorkernstadium. Ist zwischen beidem lediglich ein definitorischer oder auch ein sachlich-qualitativer Unterschied? Es gibt im Blick auf den Anfang des menschlichen Lebens offenbar eine schwer zu überwindende Unbestimmtheit. Daraus darf freilich nicht der Schluss gezogen werden, den Schutzanspruch des menschlichen Embryos willkürlich festlegen zu können; weil der menschliche Embryo zweifelsohne nicht den Anfang von irgendeinem Lebewesen, sondern den Anfang der Lebensgeschichte eines Menschen bildet, legt sich vielmehr im Sinne einer tutioristischen, also von der Vorsicht geleiteten ethischen Argumentation die Regel nahe: im Zweifel für den Schutzanspruch.
Wer die von mir vorgetragene Argumentation zum guten Sinn des Tötungsverbots und zu seiner Geltung auch im Blick auf menschliche Embryonen teilt, kann, ohne in einen gravierenden Selbstwiderspruch zu geraten, keinem Forschungsvorhaben zustimmen, das auf den Verbrauch menschlicher Embryonen angewiesen ist. Diese Folgerung sieht sich allerdings dem schwerwiegenden Einwand gegenüber, dadurch blieben wichtige Möglichkeiten ungenutzt, die Not und das Leid von Menschen, wie im Falle der Präimplantationsdiagnostik, schon jetzt zu mindern oder, wie im Falle der Stammzellforschung und des so genannten therapeutischen Klonens, durch die Entwicklung neuer medizinischer Behandlungsmöglichkeiten eventuell in Zukunft zu mindern. Ist denn, so wird kritisch gefragt, neben dem Tötungsverbot und gegen es abzuwägen, nicht auch das ethische Gebot des Helfens und Heilens zur Geltung zu bringen?
Zweifellos haben - das habe ich im I. Teil meines Vortrags ausdrücklich herausgestellt - Helfen und Heilen einen hohen ethischen Stellenwert. Ich habe auch darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Aspekt in dem Gebot "Du sollst nicht töten" implizit enthalten ist: Denn das Gebot fordert nicht nur, wie es in Martin Luthers Katechismusformulierung heißt, "dass wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun", sondern ebenso, dass wir "ihm helfen und beistehen in allen Nöten". Wie verhalten sich das Tötungsverbot und das ethische Gebot des Helfens und Heilens zueinander?
Meine Antwort auf diese Frage heißt: Außer im Falle der Notwehr, also der Abwehr gegen eine unmittelbare Bedrohung des eigenen Lebens, darf das Tötungsverbot nicht eingeschränkt und durch eine Abwägung gegen andere Normen und Ziele relativiert werden. Was ich freilich zugestehe und was wir auch offen aussprechen sollten, ist, daß wir in einem Dilemma stecken. Wer das Tötungsverbot kompromisslos gelten lassen will, gerät in Widerstreit mit den moralischen Impulsen des Mitleids und der Liebe. Wir kennen dieses Dilemma nicht nur aus der bioethischen Debatte. Es ist uns schon sehr viel länger aus der friedensethischen Debatte vertraut. Wer, hier wie dort, das Tötungsverbot kompromisslos gelten läßt, hat es zwar argumentativ leicht: Alles scheint klar und eindeutig. In Wahrheit müssen aber, um den Schein der Klarheit und Eindeutigkeit aufrecht zu erhalten, die Impulse des Mitleids und der Liebe - mit denen, die unter Unfrieden und Unterdrückung leiden, und mit denen, die unter Krankheit leiden und auf Heilung hoffen - klein geredet oder eingeschränkt werden. Und umgekehrt gilt: Wer sich ganz und gar von den Impulsen des Mitleids bestimmen lässt, steht in der Gefahr, das Tötungsverbot klein zu reden oder zu verdrängen und sich so um das Dilemma herumzumogeln.
Ehrlich mit dem Dilemma zwischen dem Tötungsverbot und dem ethischen Gebot des Helfens umzugehen würde der bioethischen Debatte in Deutschland gut tun. Das bedeutet nicht, auf einen klaren eigenen Standpunkt zu verzichten. Aber es bedeutet, sich der ungelösten Dilemmata bewusst zu sein und unterschiedliche Lösungen, jedenfalls einstweilen, nebeneinander stehen zu lassen.
In einem kleinen, aber gewichtigen Abschnitt seiner Stellungnahme "Zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen" hat sich der Nationale Ethikrat 2001 für eine "Kultur wechselseitiger Achtung" in der bioethischen Debatte ausgesprochen:
"In der Gesellschaft besteht zwar Einigkeit darüber, dass der Schutz menschlichen Lebens ein vorrangiges moralisches und verfassungsrechtliches Gebot darstellt; Uneinigkeit herrscht aber über die Reichweite des Schutzanspruchs, der menschlichem Leben während seiner frühen embryonalen Entwicklung zukommen sollte ... Der Nationale Ethikrat sieht die erste und wichtigste Voraussetzung für eine politische Lösung des Konflikts in einer Kultur wechselseitiger Achtung, in deren Geist abweichende Meinungen respektiert und vorgetragene Argumente sachlich geprüft werden. Jeder Seite muss zugestanden werden, dass sie sich ernsthaft um die Begründung ihrer Position bemüht. Diese Achtung erfordert auch, in der Diskussion auf sprachliche Wendungen zu verzichten, die geeignet sind, den Anderen zu verletzten, herabzusetzen oder bloßzustellen" (S. 11).
Ich schließe den II. Teil meines Vortrags ab, indem ich noch eine Anmerkung zum Titel der gesamten Veranstaltungsreihe mache. Zwei Begriffe werden dort verwendet: Fortschritt und Menschenwürde.
Fortschritt bezieht sich offenkundig auf den Erwerb neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und deren Anwendung in der medizinischen Therapie. Man könnte statt dessen auch sagen: naturwissenschaftlich-medizinische Entwicklung. Was ist der Unterschied zwischen beiden Bezeichnungen? Die Antwort ist leicht: Fortschritt hat noch einen zusätzlichen Klang. Der Begriff führt positive Assoziationen mit sich: Wir kommen voran, die Verhältnisse bessern sich. Aber ist es wirklich so, dass die naturwissenschaftlich-medizinische Entwicklung als solche Fortschritt bedeutet und die Verhältnisse der Welt und der Menschen und aller Geschöpfe bessert? Von einem blinden Fortschrittsoptimismus, einer naiven Fortschrittsgläubigkeit sind wir doch eigentlich seit langem geheilt. Die naturwissenschaftlich-medizinische Entwicklung hat ein Doppelgesicht. Sie bringt Chancen mit sich, aber ebenso Risiken. Wo die Chancen liegen und wie groß die Risiken sind, ist nicht von vornherein klar. Was zuerst als Fortschritt gefeiert wurde, hat sich schon manches Mal im weiteren Verlauf als illusionär oder als tief ambivalent herausgestellt. Mit anderen Worten: Bei der Verwendung des Fortschrittsbegriffs ist Vorsicht angezeigt. Wo Fortschritt draufsteht, ist nicht immer Fortschritt drin. Ich persönlich ziehe daraus die Folgerung, mit dem Fortschrittsbegriff äußerst sparsam umzugehen und ihn, wo immer möglich, zu vermeiden.
Auch im Blick auf den Begriff der Menschenwürde rate ich zu einem sorgfältigen und sparsamen Gebrauch. Im Titel steht er, so scheint es mir, stellvertretend für den ethisch reflektierten Umgang mit der naturwissenschaftlich-medizinischen Entwicklung. Man könnte genauso gut von ethischer Verantwortung sprechen. Nun ist es keine Frage, dass der Schutz der Menschenwürde für die Regelung des menschlichen Zusammenlebens und gerade auch für den Umgang mit hilflosen, schwachen oder sterbenden Menschen einen unvergleichlichen Rang hat. Nicht umsonst steht an der Spitze des Grundgesetzes die Feststellung, ja das Bekenntnis: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Aber man muss aufpassen, dass diese oberste Norm des Grundgesetzes nicht überstrapaziert und damit im Ergebnis entwertet wird. Nicht jede ethische Streitfrage lässt sich unter Rekurs auf den Schutz der Menschenwürde entscheiden. In der bioethischen Debatte ist eine Vielzahl von ethischen Kriterien heranzuziehen, und nicht ganz selten hat man es mit Abwägungs- und Ermessensfragen zu tun. Wo das Menschenwürdeargument inflationär in Anschlag gebracht wird, wird es verschlissen und am Ende seiner Wirksamkeit auch in den Fällen, wo es zutrifft und unerlässlich ist, beraubt.
III. Ethische Überzeugungen müssen auf unterschiedlichen Handlungsebenen
je spezifische Konsequenzen haben.
Ethische Reflexion dient der Klärung und Orientierung sowohl des eigenen wie des gesellschaftlichen Handelns. Wer zu einem hinreichend klaren ethischen Urteil gelangt ist, wird danach trachten, sein Handeln mit diesem Urteil in Übereinstimmung zu bringen. Es gibt subjektive und objektive Gründe, die das verhindern können, aber es wird jedenfalls angestrebt. Das meine ich, wenn ich in der Grundaussage der Überschrift zum III. Teil meines Vortrags sage: Ethische Überzeugungen müssen Konsequenzen haben. Dabei sind jedoch unterschiedliche Handlungsebenen ins Auge zu fassen. Ich beginne mit der Handlungsebene der Rechtsordnung.
1. Notwendigkeit und Grenze rechtlicher Regelungen
In meiner Jugendzeit gab es - ich hoffe, ich habe den Wortlaut noch einigermaßen in Erinnerung - folgenden Spruch: In England ist alles erlaubt, wenn es nicht ausdrücklich verboten ist. In Deutschland ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. In Frankreich ist alles erlaubt, auch wenn es verboten ist. In Russland ist alles verboten, auch wenn es erlaubt ist. Der Spruch war, schon damals, sehr holzschnittartig und klischeehaft. Aber ein klein bisschen war und ist schon dran: Unter unterschiedlichen kulturellen und politischen Verhältnissen besteht ein unterschiedliches Verhältnis zwischen Rechtsordnung und Freiheit. Die Sympathie des Spruches galt offenkundig den englischen Verhältnissen: Was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt; die Freiheit hat Vorrang; die Rechtsordnung markiert lediglich die äußersten Grenzen eines breiten Handlungskorridors.
So sollte es in der Tat sein: Die Rechtsordnung soll sich auf die Regelung des unerlässlichen Minimum beschränken, um den Freiheitsraum für den einzelnen wie für zivilgesellschaftliche Akteure zu erhalten. Zwischen Ethos und Recht ist ein Unterschied. Ja, mehr noch: Zwischen Ethos und Recht muss ein Unterschied sein, und zwar um des Rechts wie um des Ethos willen. Die Gesellschaft kann und muss es aushalten, ja, ihre Dynamik und Veränderungsfähigkeit lebt davon, dass in ihr ein Pluralismus ethischer Überzeugungen herrscht. In sehr vielen Fällen genügt es, wenn die Rechtsordnung dafür sorgt, daß unterschiedliche Überzeugungen frei geäußert und gelebt werden können, sie braucht hier nichts verbindlich zu regeln.
Ich veranschauliche das an der pränatalen Diagnostik und der In-vitro-Fertilisation. Die pränatale Diagnostik erlaubt es, mit einer Reihe von Untersuchungsmethoden Erkenntnisse über den Verlauf der Schwangerschaft und die gesunde Entwicklung des ungeborenen Kindes zu gewinnen. Viele nehmen diese Diagnostik gern in Anspruch, weil es beruhigend ist, zu wissen, dass alles gut verläuft und man sich keine Sorgen machen muss. Andere hingegen haben eine kritischere Einstellung und verzichten ganz bewusst jedenfalls auf bestimmte Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik. Denn so unbestreitbar es ist, dass ein unauffälliger Befund Beruhigung verschafft - ein auffälliger Befund, insbesondere dann, wenn er eine schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung des ungeborenen Kindes vermuten lässt, stürzt in ein Dilemma und führt in den meisten Fällen zum Schwangerschaftsabbruch. Eine ähnliche Konstellation zeigt sich im Blick auf die In-vitro-Fertilisation. Sie wird von den einen als Hilfe zur Überwindung ihrer ungewollten Kinderlosigkeit dankbar benutzt; andere lehnen sie ab, zum Beispiel deswegen, weil diese Methode nur mit Hilfe der verbrauchenden Embryonenforschung hat entwickelt werden können. Die Vorbehalte gegen die pränatale Diagnostik und die In-vitro-Fertilisation sind beachtlich. Dennoch gibt es aus meiner Sicht keine überzeugenden Gründe, wegen dieser ethischen Vorbehalte auf ein rechtliches Verbot der pränatalen Diagnostik und der In-vitro-Fertilisation hinzuwirken. Die Rechtsordnung sollte sich hier heraushalten und den unterschiedlichen Überzeugungen Raum geben. Das schließt ja ein, daß diejenigen, die ethische Bedenken haben, frei sind, für sich selbst entsprechende Konsequenzen zu ziehen und für ihre Überzeugungen öffentlich einzutreten.
Dass zwischen Ethos und Recht zu unterscheiden ist und ethische Bedenken nicht in jedem Fall ein rechtliches Verbot nach sich ziehen können, muss auch Konsequenzen haben für die Art und Weise, in der sich die evangelische (und - warum nicht? - auch die römisch-katholische) Kirche zu bioethischen Fragen äußert. Nicht in jedem Fall ist es angebracht, über unterschiedliche Forschungsziele und Behandlungswege in der Alternative von "richtig" und "falsch" zu urteilen und gar noch Folgerungen im Blick auf das rechtlich zu Erlaubende und zu Verbietende anzuschließen. Es gibt auch die Möglichkeit, sich auf einen Rat oder eine Empfehlung zu beschränken, also diejenigen Gründe möglichst überzeugend vorzutragen, die mehr für die eine als für die andere Handlungsalternative sprechen. Als sich die Synode der EKD 1987 erstmals mit den "Maßstäben für Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin" beschäftigte, kam sie bei ihrer abschließenden Beschlussfassung im Blick auf die In-vitro-Fertilisation zu folgendem Ergebnis: "Gewichtige Gründe sprechen gegen die extrakorporale Befruchtung. Aber die Not der ungewollten Kinderlosigkeit darf nicht gering geschätzt werden. Der Wunsch nach einem Kind rechtfertigt jedoch noch nicht jede medizinische Maßnahme. Darum rät die Synode vom Verfahren der extrakorporalen Befruchtung ab." Ich bin sicher: Dieser Modus des kirchlichen Redens - Rat geben, den Freiraum der persönlichen, unterschiedlichen Urteilsbildung respektieren, nicht bevormunden - wird in Zukunft an Bedeutung eher gewinnen.
Es bleibt allerdings dabei: Die Rechtsordnung ist dazu da, äußerste Grenzen zu markieren, also ein ethisches Minimum verbindlich zu regeln. Dies ist in Deutschland insbesondere dann der Fall, wenn die Grundrechte unserer Verfassung auf dem Spiel stehen. Wo genau die Grenze zwischen dem ethischen Minimum und dem erforderlichen Freiraum verläuft, ist immer wieder Gegenstand der ethischen, rechtlichen und politischen Debatte.
Nur im Vorübergehen erwähne ich die Sterbehilfedebatte. Die rechtlichen Regelungen zum assistierten Suizid in der Schweiz und insbesondere die Zulassung der Tötung auf Verlangen in den Niederlanden und in Belgien haben auch in Deutschland denjenigen Stimmen Auftrieb gegeben, die die Tabuisierung der aktiven Sterbehilfe aufbrechen wollen. In Hannover herrscht zu Recht große Aufregung darüber, dass die schweizerische Sterbehilfe-Organisation "Dignitas" ihre Tätigkeit auf Deutschland auszudehnen und in der niedersächsischen Landeshauptstadt ein erstes Beratungsbüro zu eröffnen beabsichtigt. Ich will keinen Zweifel daran lassen: Nach meiner Auffassung ist die Forderung, die Tötung auf Verlangen oder gar, etwa im Falle von schwer behinderten Kleinkindern oder schwer Dementen, sogar die Tötung ohne Einwilligung zuzulassen, unvereinbar mit dem Gebot "Du sollst nicht töten". Eine Rechtsordnung, die, unter welchen Kautelen auch immer, eine aktive Sterbehilfe zulässt, beschwört die Gefahr herauf, dass der uneingeschränkte Schutz des Lebensrechts aller Menschen noch an weiteren Stellen gelockert wird. Von dieser Argumentation sind Selbsttötung und Beihilfe zur Selbsttötung nicht direkt betroffen; darum füge ich ausdrücklich hinzu: Die organisierte Beihilfe zur Selbsttötung, wie sie etwa "Dignitas" anbietet, ist im Blick auf die wünschenswerte Sterbebegleitung das falsche Signal; wir brauchen mehr Palliativmedizin und Hospizdienste, nicht die Werbung für den schnellen Weg zur Selbsttötung. Auf der Ebene der ethischen Urteilsbildung stehen wir vor der dringlichen Aufgabe, noch viel stärker als bisher den Sinn für die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens - des Lebens eines anderen Menschen, aber auch des eigenen Lebens - zu stärken.
Ein weiteres für unsere Fragestellung herausragendes Beispiel ist der Schutz menschlicher Embryonen in vitro, also der nicht durch natürliche Befruchtung, also in vivo, sondern im Labor durch künstliche Befruchtung entstandenen menschlichen Embryonen. Nach jahrelanger Vorbereitung und parlamentarischer Beratung ist in Deutschland 1990 das Embryonenschutzgesetz in Kraft getreten. Es beschränkt, kurz gesagt, die Herstellung menschlicher Embryonen auf die medizinische Behandlung im Rahmen der In-vitro-Fertilisation, trifft Vorkehrungen, um die Entstehung überzähliger Embryonen möglichst zu verhindern, und verbietet die verbrauchende Forschung an menschlichen Embryonen. Deshalb ist das Embryonenschutzgesetz bis zum heutigen Tag das entscheidende rechtliche Bollwerk gegen die Freigabe der Stammzellforschung, gegen das so genannte therapeutische Klonen und gegen die Präimplantationsdiagnostik. Die einen halten am Embryonenschutzgesetz aus ethischen und rechtlichen Gründen unbeirrt fest, so auch ich, und zwar aus den Gründen, die sich aus dem, was ich im II. Teil meines Vortrags dargestellt habe, von selbst ergeben. Andere hingegen setzen sich für Veränderungen, sprich: Lockerungen im Embryonenschutzgesetz ein. Ich kann das hier nicht weiter ausführen. Gar nicht zu übersehen ist es - und das leitet zum nächsten Abschnitt über -, dass andere Länder in Europa und weltweit den Schutz menschlicher Embryonen bei weitem nicht so strikt eingrenzen, wie es das deutsche Embryonenschutzgesetz tut. Das schafft natürlich sehr unterschiedliche Forschungsbedingungen.
2. Die Vielfalt ethischer und rechtlicher Standards auf der internationalen Ebene
Nicht nur beim Schutz menschlicher Embryonen, sondern auch bei weiteren biomedizinischen und bioethischen Fragen gibt es international eine Vielfalt, also eine Uneinheitlichkeit ethischer und rechtlicher Standards. Verschiedentlich hat es Anstrengungen gegeben, diese Vielfalt durch internationale Konventionen einzugrenzen. Am bekanntesten ist das "Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin des Europarats", weithin noch bekannt unter seinem früheren Namen: "Bioethik-Konvention". Solche Anstrengungen sind grundsätzlich sinnvoll. Aber man muss sich nüchtern klarmachen, dass sie - wenn man jede nationale Rechtsordnung als die Regelung eines ethischen Minimum versteht - bestenfalls nur den Kernbestand verschiedener Minima festschreiben können.
Ich will bei dieser Gelegenheit noch auf einen Vorwurf eingehen, der daran anknüpft, dass international sehr unterschiedliche Forschungsbedingungen bestehen und deshalb im Ausland Projekte vorangetrieben werden, die in Deutschland gesetzlich untersagt sind. Der Vorwurf lautet etwa so: Wer sich - im klaren Wissen darum, dass bestimmte Entwicklungen im Ausland stattfinden - dafür ausspricht, sie in Deutschland nicht zuzulassen, ist ein Heuchler; denn am Ende wird er, wenn die im Ausland stattfindenden Forschungen zu neuen therapeutischen Möglichkeiten führen, nicht zögern, jedenfalls nicht umhin kommen, sie auch in Deutschland zu nutzen. Dazu sage ich: Der Vorwurf der Heuchelei ist allenfalls dort gerechtfertigt, wo heimlich auf Erfolge der anderswo durchgeführten Forschungen spekuliert wird, mit anderen Worten: wo jemand von Anfang an von den Früchten dieser Forschung profitieren will, ohne sich selbst gewissermaßen die Hände schmutzig zu machen. Der Vorwurf trifft aber diejenigen nicht, die zu einem Zeitpunkt, wo der Erfolg bestimmter Forschungsrichtungen noch unbestimmt ist, sich gegen sie aussprechen. Die gegensätzlichen Beurteilungen und Vorgehensweisen in verschiedenen Ländern sind gerade die Bedingung der Möglichkeit, die Debatte offen zu halten - hierzulande ebenso wie etwa in Großbritannien; es tut der Debatte in den verschiedenen Ländern gut, dass und wenn es die Herausforderung durch andere rechtliche Rahmenbedingungen gibt. Die höchst prekäre Alternative wäre es doch, sich der normativen Kraft des Faktischen zu beugen und zur Vermeidung möglicher Wettbewerbsnachteile bei allem mitzumachen, was andere anderswo angefangen haben.
3. Die Grenze der Forschungsfreiheit
Die Forschungsfreiheit gehört nach dem Grundgesetz zu den Grundrechten. Sie findet ihre rechtliche Grenze darum nur dort, wo andere Grundrechte berührt sind und gesetzliche Regelungen unter Berufung auf solche konfligierenden Grundrechte Schranken errichten.
Aber es wäre ein großes Missverständnis - und auf Seiten der Forscher ein großes Selbstmissverständnis -, wenn bei der Frage nach der Grenze der Forschungsfreiheit nur an rechtliche Grenzen gedacht würde. Als ob es das Wesensmerkmal der Freiheit wäre, alle Grenzen niederzureißen und sich keine Schranken auferlegen zu lassen oder selbst aufzuerlegen! Die Losung von einer "Forschung ohne Fesseln", wie man sie der in der Einleitung zitierten Rede von Bundeskanzler Schröder entnehmen kann, wäre ein solches Missverständnis oder Selbstmissverständnis. Es gibt keine Freiheit, auch keine Forschungsfreiheit, ohne daß wir uns selbst Grenzen setzen und uns Grenzen setzen lassen.
In seiner denkwürdigen "Berliner Rede" vom 18. Mai 2001 hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau zum Thema der Selbstbegrenzung der Freiheit einen wichtigen Beitrag geleistet. "Ich bin" - so sagte er - "fest davon überzeugt, dass wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne dass Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen. Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon."
Wie auch immer man die Tauglichkeit des Rubikon-Bildes für die bioethische Debatte einschätzen mag - Johannes Rau hat mit seinem Wort "Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon" zwei bewahrenswerte Einsichten formuliert:
Es gibt, gerade in der Entwicklung der modernen Medizin und Biologie, Richtungen und Pfade, denen zu folgen oder gerade nicht zu folgen von größter Tragweite ist. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte in ihrer "Empfehlung ... zur Forschung mit menschlichen Stammzellen" vom 3. Mai 2001 die Einführung der künstlichen Befruchtung als einen solchen Vorgang klassifiziert und dafür die sprichwörtliche Redensart von der Überschreitung des Rubikon benutzt. Unter den aktuellen Entwicklungen und Entwicklungsmöglichkeiten sind sicher die Stammzellforschung und das so genannte therapeutische Klonen zu nennen. Johannes Rau macht darauf aufmerksam: Es ist eine reale Möglichkeit, auf bestimmte Pfade der Entwicklung bewusst zu verzichten und Grenzen "sogar dann zu respektieren, wenn man dadurch auf bestimmte Vorteile verzichten muss." Es gebe sogar Dinge, "die wir um keines tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteiles willen tun dürfen". Darum wirbt er dafür, Tabus nicht als Relikte vormoderner Gesellschaften, sondern, wo sie gute Gründe für sich haben, als "Ergebnis aufgeklärten Denkens und Handelns" zu begreifen.
Aber die Einhaltung von selbst gesetzten Grenzen und die Respektierung von Tabus hat nicht nur eine negative, sondern auch eine positive Seite. Johannes Rau hat seinerzeit darauf aufmerksam gemacht, dass das Ziehen von Grenzlinien nicht einfach als Einengung und Beeinträchtigung, sondern auch als Herausforderung und Chance verstanden werden kann. Die Stammzellforschung liegt ja nicht brach, wenn die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen eingeschränkt wird; auch die Forschung an adulten Stammzellen hat ein großes Potential. Jüngste Forschungen haben gezeigt, dass es unter Umständen Zugänge zur Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen geben könnte, die nicht auf den Verbrauch, sprich: die Tötung menschlicher Embryonen angewiesen sind. Die Wahrheit der Botschaft, die Johannes Rau uns hinterlassen hat, ist noch längst nicht eingeholt: "Ich bin fest davon überzeugt" - so hat er ja in seiner Rede gesagt -, "dass wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne dass Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen. Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon."