Die Zukunft der Erwerbsarbeit

Gert G. Wagner (Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder) und DIW Berlin)

Der Vortrag wurde gehalten anläßlich der Vergabe des Arbeitsplatzsiegels "Arbeit Plus 2001" in Berlin.

Angesichts anhaltend hoher Arbeitslosigkeit liegt die Frage nahe: geht modernen Volkswirtschaften die Erwerbsarbeit aus? Die theoretische Antwort lautet: Grundsätzlich nicht, solange es noch unbefriedigte Bedürfnisse gibt! Weltweit gesehen gibt es also einen enormen Bedarf an Erwerbsarbeit. Auch in modernen Volkswirtschaften, die die Wünsche der Konsumenten weit besser decken können als "Entwicklungsländer", gibt es nach wie vor reichlich ungedeckten Bedarf. Sowohl materiellen, vor allem aber Bedarf an Dienstleistungen.

Die entscheidende Frage ist also nicht, ob uns die Arbeit ausgeht, sondern die eigentlich interessante Frage lautet: Was steht der Bedarfsdeckung im Wege?


Empirische Evidenz: Der "Erwerbsgesellschaft" geht die Arbeit nicht aus
Viele argumentieren, dass der flexible amerikanische Arbeitsmarkt ein Vorbild für Europa sein könne, da dort aufgrund von viel Flexibilität in kurzer Zeit Millionen neuer Arbeitsplätze geschaffen wurden.

Flexibilität bedeutet z.B., dass die Löhne soweit sinken, bis sich für ein Unternehmen die Ausweitung der Beschäftigung lohnt. D.h. auch, dass der Lohn um so geringer sein muss, je weniger qualifiziert und produktiv eine Erwerbsperson ist, d.h., die Spreizung der Löhne vergrößert sich. Flexibilität heißt weiterhin, dass Unternehmen rasch Arbeitnehmer feuern können; umgekehrt stellen sie dann auch schneller ein (weil sie überzählige Arbeitnehmer ja auch wieder schnell entlassen können). Das US-Modell bedeutet auch, dass das Arbeitslosengeld und die Sozialhilfe niedrig sein sollten, um Arbeitslose dazu zu bewegen, schnell wieder Arbeit - auch zu niedrigen Löhnen - anzunehmen.

In Europa wird von vielen gegen das amerikanische Modell eingewandt, dass es unsozial sei (d.h., dass es nicht den Wünschen der Menschen entspricht) und zudem die Produktivität, die für die internationale Wettbewerbsfähigkeit kleiner offener Volkswirtschaften entscheidend ist, nicht befördere, da relativ unproduktive Betriebe nicht gezwungen werden, durch neue Technologien und Organisationsformen ihre Produktivität zu steigern, um gut bezahlte Arbeitskräfte einstellen zu können.

Ist der US-Weg der Königsweg? Oder gar der einzig gangbare Weg? Und ist in den USA die beschriebene Flexibilität entscheidend, oder gibt es noch andere Gründe für das US-amerikanische Beschäftigungswunder? Ein internationaler Vergleich zeigt, dass es offensichtlich einen großen "gesellschaftlichen" Gestaltungsspielraum gibt, der (mit)bestimmt, welche Erwerbsquoten in einer Volkswirtschaft realisierbar sind.

Im folgenden werden ausgewählte Länder verglichen, die der OECD angehören; in dieser "Organization of Economic Cooperation and Development" sind "westliche" Volkswirtschaften Mitglied.

Betrachtet man die Arbeitslosenquoten, also den Anteil der Arbeitssuchenden an allen Erwerbspersonen (diese sind die Summe der Erwerbstätigen und der Arbeitslosen), so zeigt sich eine große Streuung der Quoten, zwischen etwa 3 bis über 10 Prozent. Tendenziell ist seit 1990 die Arbeitslosenquote bis zum Ende des Jahrhunderts in de europäischen OECD-Ländern rückläufig, nur in Deutschland (sowie Österreich) steigt sie – (auf unterschiedlichen Niveaus) an. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Wert für 1990 sich nur auf Westdeutschland bezieht, alle späteren Werte auf das wiedervereinigte Deutschland, d.h., dass die hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, die allein durch die Transformation von einer (nahezu bankrotten) Zentralverwaltungswirtschaft in eine Marktwirtschaft bedingt ist, das Bild verzerrt (freilich würde sich auch für Westdeutschland allein ein Anstieg der Arbeitslosenquote zeigen; dieser jedoch deutlich weniger ausgeprägt).

Alle Arbeitslosenquoten sind weit von einem Drittel entfernt, wie es die These der "Zwei-Drittel-Gesellschaft" suggeriert. Am niedrigsten sind die Arbeitslosenquoten in den "wirtschaftsliberalen" USA und den "sozialdemokratischen", von "korporatistischen" Verhandlungen auf hoher Ebene geprägten Ländern Niederlande und Österreich. Wobei sich Österreich mit stabil niedrigen (aber eher ansteigenden) und die Niederlande, die einen ausgeprägten Rückgang aufweisen, unterscheiden.

Nun kann man argumentieren, dass die Arbeitslosenquote nicht zutreffend zeigt, wenn die "Arbeit weniger wird", da Erwerbslose, die keine Beschäftigung (mehr) suchen, nicht als Arbeitslose gezählt werden. Betrachtet man die "Erwerbstätigenquote", die zeigt, welcher Anteil der prinzipiell "erwerbsfähigen" Bevölkerung (15- bis 64jährige) tatsächlich erwerbstätig ist, dann zeigt sich wiederum eine große Variabilität - und keineswegs ein Trend zu einem Rückgang der Erwerbstätigenquoten. Im Gegenteil: sie steigen in nahezu allen Ländern an; lediglich Deutschland und Österreich stellen eine Ausnahme dar. Allerdings sind auch hier etwa 60 Prozent der „Erwerbsfähigen„ tatsächlich erwerbstätig. Ganz deutlich wird: es gibt keine fest vorgegebene Zahl von Arbeitsplätzen, die lediglich verschieden auf Erwerbssuchende verteilt werden können, sondern die Zahl der Arbeitsplätze ist wirtschaftspolitisch gestaltbar.

Je höher das Bildungsniveau, desto niedriger die Arbeitslosenquote. Daraus kann man ableiten, dass aufgrund des nach wie vor zunehmenden Bildungsniveaus die Erwerbstätigenquote steigen wird, ohne dass dadurch zwangsläufig - wie viele Sozialwissenschaftler glauben - die Arbeitslosenquote ansteigt. Im Gegenteil: hoch Gebildete haben minimale Arbeitslosenquoten, und dies wird sich nicht ändern, da gute Bildung im internationalen Wettbewerb das beste Instrument ist, um erfolgreich zu sein.

Man kann auch zeigen, dass es keineswegs so ist, dass hohe Erwerbstätigenquoten nur durch "Teilung von Arbeitsplätzen" erreichbar sind, d.h., dass hohe Erwerbstätigenquoten mit hohen Teilzeitanteilen einhergehen. Zwar ist der Teilzeitanteil in den beschäftigungspolitisch besonders erfolgreichen Niederlanden besonders hoch (weil dort Frauen nicht bereit waren, dem männlichen "Vollzeitmodell" zu folgen, das Kindererziehung erschwert), aber in den USA und in Österreich, die beide sehr niedrige Arbeitslosenquoten aufweisen, sind die Teilzeitanteile ausgeprägt niedrig.

Vertreter der These von der "Zwei-Drittel-Gesellschaft" argumentieren freilich, dass hohe Erwerbstätigenanteile mit niedrigen Erwerbseinkommen für weniger gut Qualifizierte "erkauft" werden. In der Tat ist die Einkommensungleichheit in den USA sehr hoch und zudem – wenn auch nur minimal – seit Mitte der 80er Jahre minimal gestiegen. Eine vergleichbare Ungleichverteilung der Einkommen findet man in Europa aber nur in Großbritannien, alle anderen Länder haben eine deutlich kleinere Ungleichheit der Einkommen und keine merkliche Vergrößerung der Ungleichheit vorzuweisen.

Ein im Hinblick auf die These von der Zwei-Drittel-Gesellschaft besonders aussagekräftiger Indikator, nämlich die "Armutsquote", zeigt, dass auch gemessen daran von Zwei-Drittel-Gesellschaften keineswegs durchgängig gesprochen werden kann.  Am ehesten kommen die USA mit einer Armutsquote von etwa 20 Prozent einer Zwei-Drittel-Gesellschaft nahe: alle anderen, selbst Großbritannien, sind weit davon entfernt, auch wenn es teilweise sdeit Mitte der 80er Jahre einen Anstieg der Armutsquote zu verzeichnen gibt. Besonders niedrig liegen die Armutsquoten in den Niederlanden (trotz eines signifikanten Anstiegs) und in den dargestellten nordischen Ländern, die gleichzeitig auch beschäftigungspolitisch Erfolge aufweisen.

Summa Summarum zeigt der internationale Vergleich: Vollbeschäftigung bzw. Beschäftigungserfolge sind auf verschiedene Weisen zu erreichen. Ein starker Zuwachs an Erwerbstätigen muss nicht mit einer Polarisierung der Gesellschaft im Sinne einer "Zwei-Drittel-Gesellschaft" einhergehen.

Eine deutsche Spezialdiskussion sei hier noch etwas näher beleuchtet: in der seit einigen Jahren intensiv geführten öffentlichen Diskussion zur Entwicklung der Erwerbsarbeit wird immer wieder konstatiert, dass die Arbeitszeit je Erwerbstätigem im Durchschnitt zurückgeht. Daraus wird z.B. von dem vielzitierten Soziologen Ulrich Beck auf eine "Erosion des Normalarbeitsverhältnisses" geschlossen, definiert als eine unbefristete Vollzeit-Beschäftigung, die es erlaubt, eine Familien zu ernähren, geschlossen.

In der Tat machen Teilzeiterwerbstätige (einschließlich "geringfügig Beschäftigter") gegenwärtig etwa ein Viertel aller Erwerbstätigen aus (abhängig Beschäftigte, Beamte und Selbständige, einschließlich "mithelfender Familienangehöriger"). Etwas über 10 % der Beschäftigten haben befristete Arbeitsverträge; in einer engen Betrachtung befinden sie sich damit nicht in einem Normalarbeitsverhältnis, auch wenn sie in Vollzeit tätig sind. Befristete Arbeitsverträge bedeuten aber nicht automatisch unstetige Erwerbskarrieren. Im folgenden wird deswegen nur zwischen Voll- und Teilzeittätigkeit unterschieden.

Der Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit je Erwerbstätigen resultiert zum einen daraus, dass Vollzeitbeschäftigte bei zunehmendem Realeinkommen aus freien Stücken mehr Freizeit nachfragen. Zum anderen nimmt der Anteil von Teilzeitbeschäftigten an allen Erwerbstätigen zu. Die Teilzeitquote - gemessen an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten - hat sich von unter 10 % Mitte der 60er Jahre bis heute ungefähr verdoppelt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Bedeutung "bunter Beschäftigungsverhältnisse" gewachsen ist. Dieser Befund läßt aber nicht den Schluss zu, dass es immer weniger Vollzeit-Beschäftigte gäbe und der Untergang der Arbeitsgesellschaft eingeläutet sei.

Die Zahl der vollzeiterwerbstätigen abhängig Beschäftigten liegt in Westdeutschland in den letzten Jahrzehnten bei etwas über 20 Millionen. Auch die Vollzeitintensität, d.h. der Anteil der vollzeitbeschäftigten Arbeiter und Angestellten an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, hat sich seit den 60er Jahren nur wenig verändert. Sie lag Mitte der 60er Jahre bei etwas über der Hälfte der 15- bis 65jährigen und Mitte der 90er Jahre nur etwas darunter. Deutlich erkennbar ist der konjunkturabhängige Verlauf. Sowohl die erste Nachkriegsrezession wie die Rezessionen in den 70er und 80er Jahren zeigen sich in einem Sinken der Vollzeitintensität. Der Aufschwung Ende der 80er Jahre, in denen nach dem Urteil vieler Sozialwissenschaftler bereits das Ende der Arbeitsgesellschaft erreicht wird, hat aber wieder eine Vollzeitintensität von 50 % erreichen lassen. Erst in der tiefen Rezession von 1992 an ist die Vollzeitintensität wieder gesunken.

Ende der 80er Jahre ist die Vollzeitintensität gestiegen und in diesem Zeitraum nehmen auch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse deutlich zu; diese haben also Vollzeitarbeitsplätze keineswegs verdrängt. Anekdotische Evidenz, die für einzelne Branchen von der "Aufspaltung" von Vollzeitarbeitsplätzen in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse berichtet, darf man nicht mit einem gesamtwirtschaftlichen Verdrängungsprozess gleichsetzen: während in industriellen Branchen Vollzeitarbeitsplätze wegfallen, entstehen solche in Dienstleistungsbetrieben zugleich mit Teilzeitarbeitsplätzen . Der vieldiskutierte Bedeutungszuwachs der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse seit 1992 ergibt sich nur daraus, dass die Vollzeitintensität konjunkturbedingt zurückgegangen ist und dadurch der Anteil von geringfügiger und Teilzeit-Erwerbstätigkeit an der gesamten Erwerbstätigkeit stieg. Dies geht aber - gesamtwirtschaftlich betrachtet - nicht zu Lasten der Vollerwerbstätigkeit, die Teilzeitbeschäftigung kommt vielmehr hinzu.

Immer mehr Bürger haben "Arbeitsmarktberührung" (daraus erklärt sich auch bei steigender Erwerbstätigenquote die seit den 70er Jahren permanent angewachsene Arbeitslosenquote). In den 50er und 60er Jahren war der Anteil der nichterwerbstätigen Frauen hoch. Die durch Scheidungen geprägte Risikogesellschaft läßt aber die vollständige Nichterwerbstätigkeit zu einer gefährlichen Entscheidung werden, insbesondere für Mütter. Nicht zuletzt deswegen gibt es immer mehr teilzeiterwerbstätige Frauen.

Die Arbeitszeit pro Erwerbstätigen geht sicherlich zurück, da Produktivitätszuwächse aufgrund von technischem Fortschritt und einer effizienteren Arbeitsorganisation - kollektiv und individuell - nicht nur in mehr Einkommen, sondern auch in mehr Freizeit getauscht werden. Dieses Verhalten ist normal und vernünftig; es indiziert nicht das Ende der Erwerbsgesellschaft. Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage, wie offene Arbeitslosigkeit verhindert werden kann. Dies ist umso wichtiger, weil eine Vielzahl empirischer Untersuchungen zeigt, dass nahezu alle Erwachsenen (bis ins sechste Lebensjahrzehnt hinein und zum Teil darüber hinaus) einen ausgeprägten Wunsch haben, Erwerbstätig sein zu wollen. Im Grunde bestätigt dies auch ein Autor wie Ulrich Beck, indem er intensiv auf der Suche nach einem „Ersatz„ für die erstrebte Erwerbsarbeit ist.


Wirtschaftspolitische Möglichkeiten
Im Gegensatz zum Eindruck, den man in der öffentlichen Debatte gewinnt, sind die Beschäftigungsprobleme und die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, insbesondere in Westdeutschland, keineswegs nur strukturell bedingt, sondern auch gesamtwirtschaftlich, d.h. durch eine entsprechende Geld-, Lohn- und Fiskalpolitik beeinflussbar. Auf die Ursachen für die unzureichende gesamtwirtschaftliche Wirtschaftspolitik soll hier nicht näher eingegangen werden, vielmehr soll der Blick nach vorne gerichtet werden.

Das deutsche Produktionspotential ist unterausgelastet und durch „schlichtes„ Wachstum könnte die Arbeitslosenquote innerhalb weniger Jahre nahezu halbiert werden. Es besteht deswegen grundsätzlich die Aussicht, dass durch eine entsprechende gesamtwirtschaftliche Wirtschaftspolitik auch kurzfristig Beachtliches erreicht werden könnte, z.B. durch eine großzügige Geldversorgung durch die Europäische Zentral Bank (EZB), moderate Lohnerhöhungen und eine stetige Fiskalpolitik. Dass durch koordinierte Wirtschaftspolitik beschäftigungspolitische Erfolge erzielbar sind, haben so unterschiedliche Staaten und Volkswirtschaften wie die der USA und der Niederlanden in den letzten Jahren gezeigt.

In Deutschland werden hauptsächlich „strukturelle„ Ursachen der Arbeitslosigkeit vermutet, womit mangelnde Flexibilität der Löhne und der Arbeitnehmer gemeint sind; dabei spielen die sogenannten Lohnnebenkosten in der Diskussion eine prominente Rolle. Gemeint sind damit "unsichtbare" Lohnbestandteile, insbesondere Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, die zusammen mit Direktlohn ausgezahlt werden und Kosten der Arbeit darstellen. Freilich wird in diesen Diskussionen übersehen, dass die Lohn"neben"kosten nicht in unabsehbarer Art und Weise "von oben verordnet" werden, sondern dass diese Kostenbestandteile bei Lohnverhandlungsrunden berücksichtigt werden: Steigen die Lohnnebenkosten überproportional, dann wird das Wachstum der Direktlöhne entsprechend reduziert. Dies ist der Grund, warum die inländische Lohnstückkostenentwicklung, in die alle Lohnbestandteile (gemäß der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung) eingehen, keineswegs eine Entwicklung zeigt, die die internationale Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft beeinträchtigt. Eine neuere ökonometrische Untersuchung kommt entsprechend zu dem Ergebnis, dass von der Entwicklung der Lohnnebenkosten keine nennenswerten negative Effekte auf das Beschäftigungsvolumen ausgegangen sind.

Selbst (Langzeit-)Arbeitslosigkeit von gering Qualifizierten ist nicht nur ein Strukturproblem, wie es in der Diskussion um die Notwendigkeit von Lohnkostenzuschüssen für niedrig Qualifizierte unterstellt wird. Der Aufschwung am Ende der 80er Jahre in Westdeutschland hat gezeigt, dass davon vor allem gering Qualifizierte profitiert haben. Freilich hat auch dieser Aufschwung Langzeitarbeitslosen nur wenig geholfen. Das bedeutet, dass von einem Aufschwung niedrig Qualifizierte durchaus profitieren - sofern sie im Arbeitsprozess stehen bzw. noch nicht zu lange arbeitslos sind. Dies bedeutet weiterhin, dass man bei einer Arbeitsmarktpolitik im Hinblick auf gering Qualifizierte zwischen den bereits - zum Teil seit langem - Arbeitslosen einerseits und andererseits potentiell Arbeitslosen, die gegenwärtig noch erwerbstätig sind, unterscheiden muß. Für beide Gruppen kann man unterschiedliche wirtschaftspolitische Instrumente anwenden - es ist nicht notwendig, nach einem einzigen Wundermittel zu suchen: Langzeitarbeitslosigkeit ist in der Tat ein Strukturproblem, aber die Vermeidung künftiger Arbeitslosigkeit von gering Qualifizierten ist - zumindest zum Teil - auch durch eine entsprechende gesamtwirtschaftliche Beschäftigungspolitik möglich.

Strukturelle Ursachen von Arbeitslosigkeit gibt es durchaus. Sie liegen am Arbeitsmarkt insbesondere darin, dass die Beschäftigungsdynamik im unteren Einkommens- und Qualifikationsbereich durch die Möglichkeit der Ausübung von partiell abgabenfreien geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse gebremst wird. Gäbe es diese Ausnahme nicht, würden mehr vollwertige Arbeitsplätze entstehen. Zudem wird die Dynamik der Dienstleistungsmärkte durch die Regulierung der Produktmärkte (z. B. der Handwerksordnung, detaillierte Normen für soziale Dienste) und die Kartellierung der sozialen Dienste (durch frei-gemeinnützige Anbieter) gehemmt.  Zwar mögen die in Deutschland reichlich vorhandenen tarifvertragliche und rechtliche Vorschriften den Eindruck erwecken, der deutsche Arbeitsmarkt sei inflexibel, aber internationale Vergleiche zeigen, insbesondere im Bereich niedriger Einkommen, dass dies nicht der Fall ist. Die strukturellen Ursachen der Arbeitslosigkeit sind eher auf den Produktmärkten als am Arbeitsmarkt zu suchen.


Beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitische Möglichkeiten
Viele Erfahrungen im Ausland sprechen dafür, dass für eine nachhaltige Erhöhung des Beschäftigungsvolumens eine besser koordinierte Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik notwendig ist als das in Deutschland jahrelang der Fall ist. Um sein selbstgestecktes Ziel zu erreichen, sollte das "Bündnis für Arbeit", das von der Bundesregierung eingerichtet wurde, deswegen nicht nur Strukturfragen des Arbeitsmarktes thematisieren (wie z.B. Jugendarbeitslosigkeit, Kombi-Löhne), sondern auch gesamtwirtschaftliche Fragen, wie z.B. die hochkontroverse Frage nach der optimalen Tariflohnsteigerung. Über Löhne zu reden, bedeutet noch keinen Eingriff in die Tarifautonomie.

In vielen sozialwissenschaftlich inspirierten Politikempfehlungen spielen eine Ausweitung der Teilzeit und ein Abbau von Überstunden eine wichtige Rolle. Diese Maßnahmen sollte man aber nicht überschätzen, da es zwar viele Erwerbstätige gibt, die weniger arbeiten wollen als gegenwärtig, viele wollen aber auch mehr arbeiten. Würde man die Arbeitszeiten flexibilisieren, würden sich im Durchschnitt in etwa dieselben Arbeitszeiten ergeben wie gegenwärtig. Ein radikaler Abbau von Überstunden würde das Wachstum behindern und in einigen Bereichen Nebenerwerb bzw. Schwarzarbeit provozieren. Flexiblere Arbeitszeiten sind sicherlich sinnvoll, um individuellen und familiären Wünschen besser gerecht zu werden, aber einen signifikanten Abbau der Arbeitslosigkeit sollte man sich davon nicht versprechen.

Langfristig sind eine gute Bildung und Ausbildung sicherlich das beste Mittel gegen Arbeitslosigkeit, insbesondere für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft, aber auch für jede einzelne Erwerbsperson, die dadurch zumindest mehr Optionen erhält und auf Veränderungen besser reagieren kann. Freilich gibt es keine unbegrenzte Ausbildungsfähigkeit von Jedermann; und der internationale Wettbewerb trifft schlecht Qualifizierte und schwer Qualifizierbare besonders hart, wenn im Ausland für einfache Tätigkeiten deutlich niedrigere Löhne gezahlt werden als in der Bundesrepublik Deutschland.

Wenn das Grenzprodukt von gering Qualifizierten so niedrig ist, dass eine an dieser Produktivität orientierte Entlohnung für Vollzeiterwerbstätige nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, kann dies kann eine Begründung für Kombi-Lohn-Modelle sein, d. h. der staatlichen Aufstockung niedriger Löhne. Wobei man freilich nicht die Augen davor verschließen darf, dass denjenigen, die bereits lange arbeitslos sind, zusätzlich auch sozialpädagogischer Hilfen bedürfen, um Arbeitgeber zu finden, die bereit sind, sie einzustellen. Und allgemeingültige Kombi-Lohn-Modelle würden zu Mitnahmeeffekten führen, dass heißt, dass Arbeitgeber, die staatlichen Lohnzuschläge antizipieren und entsprechend niedrigere Stundenlöhne anbieten werden. Darüber hinaus würden durch Lohnsubventionen die unternehmerischen Anreize geschwächt, auch für niedrig Qualifizierte Arbeitsplatze zu schaffen, die eine genügend hohe Produktivität für Löhne abwerfen, die für Vollzeitbeschäftigte zum Leben ausreichen.

Um unerwünschte Nebenwirkungen zu minimieren, sollten Kombi-Löhne möglichst nur für Langzeitarbeitslose eingeführt werden, die zudem noch ggf. sozialpädagogisch betreut werden sollten. Darüber hinaus sollten gezielte Transferzahlungen auf die Situation eines Haushaltes und nicht nur auf einzelne Personen abstellen. Erwogen werden kann z. B., ob staatliche Subvention von Sozialversicherungsbeiträgen für Versicherte mit niedrigem Haushaltseinkommen möglich sind, um deren Arbeitsanreiz zu stärken (nach dem Vorbild des US-amerikanischen Earned Income Tax Credits - EITC). Um Arbeit durch Sozialversicherungsbeiträge nicht indirekt zu besteuern, sollte die Versicherungspflicht an Personen und nicht mehr an bestimmten Beschäftigungsverhältnissen festgemacht werden.

Sowohl ein EITC-Modell als auch eine persönliche Versicherungspflicht sind allerdings weit vom in Deutschland herrschenden Sozialstaatskonsens abweichende Vorschläge, da eine Versicherungspflicht für alle Erwachsenen an der Illusion der freien Entscheidungsmöglichkeiten für Jedermann rüttelt und das EITC-Modell eine Bedarfsabhängigkeitsprüfung (die bislang auf Sozialtransfers wie Sozialhilfe, Wohngeld und Ausbildungsförderung beschränkt war) gewissermaßen in die Arbeitswelt hineintragen würde.

Langfristig ist eine gute Bildungs- und Ausbildungspolitik das beste Mittel zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit aufgrund des internationalen Wettbewerbs. Kurzfristig sind freilich auch staatliche Job-Initiativen, selbst wenn sie ökonomisch ineffizient sind, angezeigt, wenn ansonsten durch hohe Jugendarbeitslosigkeit für ganze Generationen der Einstieg in das Erwerbsleben verfehlt wird und damit für den Rest des Lebens Arbeitsmarktprobleme für diese Gruppen vorprogrammiert sind. Man muss sich freilich darüber im klaren sein, dass staatliche Arbeitsangebote auch für jugendliche Arbeitslose nicht kostenlos zu haben sein werden, vielmehr wird dann ein - mehr oder weniger - sanfter Druck auf arbeitslose Jugendliche ausgeübt werden, Job-Angebote auch anzunehmen, indem ansonsten die staatliche Unterstützung - wie das im Sozialhilfegesetz bereits implementiert ist - gekürzt wird. Solche Maßnahmen werden unvermeidlich immer im Geruch eines "staatlichen Arbeitsdienstes" stehen!


De-Regulierung: Ausweitung des Blickes ist notwendig
Die populäre Debatte um eine Deregulierung des Arbeitsmarktes ist empirisch weniger gut fundiert als Viele glauben und auf jeden Fall defensiv ausgerichtet: Den Schlüssel zur Lösung der Arbeitslosigkeitsproblematik findet man vielmehr in der Entwicklung dynamischer Märkte für beschäftigungsintensive Güter und Dienstleistungen. Diskutiert werden muss eine kluge Deregulierung von Produktmärkten und die Beseitigung von Informationshemmnissen und Rechtsunsicherheiten, die derzeit schon durch den bloßen Umfang bestehender Vorschriften entstehen (z.B. im Steuerrecht, Arbeitsrecht, Baurecht, in der Gewerbeordnung und im Umweltrecht). Weniger Vorschriften bedeuten aber auch, dass auf Märkten, wo es Verbrauchern schwer fällt, die Qualität zu kontrollieren, neue Formen der Kontrolle gefunden werden müssen, um die Qualität zu sichern. Dies ist eine neue Aufgabe für den Staat und für Verbände.

Nur in Verbindung mit einer solchen Deregulierung von Produktmärkten kann eine "Kultur der Selbständigkeit" - wie sie viele fordern - nennenswerte Beschäftigungseffekte bringen. D.h. insbesondere, dass die Bereiche, die für die oben erwähnte "Bürgerarbeit" in Frage kämen, marktfähig gemacht werden müssen. Und gerade im beschäftigungsintensiven Dienstleistungssektor, etwa bei der Freien Wohlfahrtspflege - und hier insbesondere im Gesundheitswesen und bei der Alten- und Kinderbetreuung - sind erhebliche Regulierungen und Monopolisierungen zu beobachten. Deren Abbau kann positive Beschäftigungseffekte auslösen; gerade hier ist eine unabhängige Qualitätskontrolle aber auch besonders wichtig.

Freilich ist zusätzlich noch zu bedenken, dass viele soziale Dienste - aus sozialpolitischen Gründen - unterhalb ihrer Kosten oder völlig umsonst angeboten werden. Dies muss im Grundsatz auch so bleiben. Allerdings ist es nicht notwendig, dass der Staat diese Dienste selbst anbietet oder diese Aufgaben an frei-gemeinnützige Kartelle, denen er "Objektsubventionen" zahlt, überträgt. Der Staat kann vielmehr die Innovationskraft privater Anbieter (und von Selbsthilfegruppen) ausnutzen, indem er nicht die Anbieter subventioniert, sondern den Bedürftigen genügend Kaufkraft zur Verfügung stellt. Die Kaufkraft auf Märkten für soziale Dienste kann durch "Gutscheine", die der Staat ausgibt, nicht nur sichergestellt, sondern verteilungspolitisch befriedigender als bisher ausgestaltet werden, da Personen und Haushalte mit höherem Einkommen weniger (oder gar keine) Gutscheine bekommen könnten.


Schlussbemerkungen
Es soll hier kein detailliertes Fazit gezogen werden, sondern daran erinnert werden, dass sowohl die Theorie wie die empirische Evidenz eine Wirtschaftspolitik nahe legen, die nicht monokausal ansetzt, sondern auf einen "Policy-Mix" setzt, auch wenn dieser weniger elegant wirkt und weniger gut politisch zu "verkaufen" ist als ein einfaches Patentrezept.

Drei abschließende Bemerkungen im Einzelnen:

Innovative Institutionen wären z. B. für Zentralbanken sinnvoll, um das Spannungsfeld zwischen Geldwertstabilität und Beschäftigungspolitik besser zu lösen als bisher. Gleiches gilt für eine antizyklische Finanzpolitik: sie bedarf eines besseren institutionellen Korsetts als in den 70er Jahren, um zu verhindern, dass sie wieder in Stagnation und Inflation endet („Stagflation„). Es bedarf institutionellen Regelungen, die sicherstellen, dass nach einem "deficit spending" im Konjunkturaufschwung auch gespart wird.

Auch die Ausgestaltung der sozialen Sicherung ist - wie oben mehrfach angedeutet wurde - ein Feld für vielfältige institutionelle Reformen. So wäre insbesondere ein Übergang von der "Objektsubvention" frei-gemeinnütziger Träger der sozialen Dienste hin zur "Subjektsubvention" von "Konsumenten" sozialer Dienste ein komplizierter Prozeß, bei dem es eine große Zahl institutioneller Details zu gestalten gäbe.

Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass die eigentliche Stärke marktwirtschaftlich verfasster Erwerbsgesellschaften die individuelle Entscheidungsfreiheit ist. Diese sollte weiterhin gestärkt werden (oben wurde auf die Bedeutung ein guten Bildung und Ausbildung bereits hingewiesen). Die Menschen können dann selbst entscheiden, ob sie nach wie vor eine "Erwerbsgesellschaft" wünschen. Zu dieser Entscheidungsfreiheit gehört aber auch, dass man die Dinge nüchtern betrachtet und den Menschen nicht sagt, die Erwerbsgesellschaft hätte keine Zukunft.