Wenn Retter plötzlich Kriminelle sein sollen

Interview mit Markus Schildhauer, Leiter der Seemannsmission in Alexandria

Die Politik vergisst, dass Retten auf hoher See Pflicht ist, sagt Markus Schildhauer, Leiter der Seemannsmission in Alexandria. Er plädiert dafür, den Kuhhandel um Leben und Tod zu beenden.

Mitarbeiter der „Mission Lifeline“ bringen Flüchtlinge auf einem Schlauchboot zu einem Rettungsschiff

Mitarbeiter der „Mission Lifeline“ bringen Flüchtlinge  im internationalen Gewässer vor der libyschen Küste auf einem Schlauchboot zu einem Rettungsschiff.

Was bedeutet es für Seefahrer, wenn sie Schiffe in Seenot sehen oder von ihnen gerufen werden?

Markus Schildhauer: Ein Schiff in Seenot muss gerettet werden. Das ist Gesetz.

Aber retten ist problematisch geworden.

Schildhauer: Das war es für die Crews von Handelsschiffen schon immer. Handelsschiffe sind nicht zur Rettung ausgelegt. Die glatte Bordwand ist mindestens 10 Meter hoch. Wie bringt man Menschen von einem Schlauchboot da hinauf? Es gibt Seilleitern, aber wer nicht geübt oder geschwächt ist, schafft das nicht, geschweige denn Frauen mit kleinen Kindern. Menschen fallen ins Wasser, können nicht schwimmen und ertrinken vor den Augen der Crew. Und dann gibt es noch das andere Problem: Das liebe Geld. Die Zeit ist knapp bemessen, jede Verzögerung kostet. Dann wird das Schiff womöglich tagelang im Hafen festgehalten, weil es Flüchtlinge gebracht hat. Auch das sind enorme finanzielle Ausfälle. Da bedankt sich die Unternehmensleitung schön. Manchmal werden die Besatzungen angewiesen, nicht zu helfen, wenn Andere auch in der Nähe sind. Sie fahren weiter, mit dem Wissen, dass deswegen Menschen sterben. Beides traumatisiert.

Der Konflikt um die Aufnahme und vor allem die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer ist mehr denn je verfahren. Wo in dem Ganzen stehen die Seefahrer?

Schildhauer: In den letzten Jahren sind Handelsschiffe seltener in die Lage gekommen zu retten. Nach Ende des Rettungsprogramms Mare Nostrum gab es wieder Rettungsmissionen und Nichtregierungsorganisationen haben sich verstärkt engagiert. Aber 2014 und 2015 wurde der Konflikt um die Hilfesuchenden im Mittelmeer auf dem Rücken der Seefahrer ausgetragen, da haben Handelsschiffe pro Jahr zwischen 50.000 bis 100.000 Hilfesuchende geborgen. Die Angst sitzt tief, dass sie wieder in das Dilemma kommen.

Das Dilemma ist, dass viele Länder die Schiffe im Hafen festhalten und die Retter wegen Schlepperei anklagen. Welchen Eindruck hinterlassen Gerichtsverfahren wie das gegen Kapitän Reisch bei den Seefahrern?

Schildhauer: Einerseits befehlen das Gesetz und die eigene Empathie und Moral zu retten. Zugleich werden sie in ihrem Handeln kriminalisiert. Das ist ein fürchterlicher innerer Konflikt, bei dem es auch um die eigene Existenz geht. Im Moment werden Rettungsmissionen unterbrochen und Rettungsschiffe in Häfen festgehalten. Gleichzeitig haben sich in den letzten Tagen die Fluchtrouten Richtung Spanien verlagert. Handelsschiffe werden also wieder öfter in das Dilemma geraten. Die Reedereien weisen die Kapitäne darauf hin, dass man im Mittelmeer alle retten muss, die man sieht. Sie betonen dabei das „Sehen“. Der Druck, der auf den Seefahrern lastet, ist enorm. Viele sagen mir, dass sie eigentlich gar nicht mehr an Deck gehen oder dort arbeiten möchten, damit sie nicht mehr in die Situation geraten, ein Boot zu entdecken. Das heißt viel, denn die Männer sind oft monatelang ununterbrochen an Bord und dort ist es sehr beengt.

„Es ist ein furchtbares Gefühl, neben einem Todeskampf stehen zu müssen und einfach nur zusehen zu können.“

Markus Schildhauer Leiter der Seemannsmission in Alexandria

Wie gehen die Seemänner mit der Belastung um?

Schildhauer: Die Seemänner werden auf solche Situationen nicht vorbereitet. Sie fahren ja nicht auf See, um zu retten, sondern haben dort ganz andere Aufgaben. Sie haben sich mental nicht auf Notleidende, Sterbende, auf Todeskampf und Wasserleichen vorbereitet und werden umso schlimmer davon getroffen. Deutsche Reedereien schicken mittlerweile Psychologen an Bord, wenn es zu einer Rettungsaktion kam. Aber das Arbeitsklima auf den Schiffen ist rau. Niemand wird vor einem Psychologen, den der Chef geschickt hat, zugeben, dass er eigentlich gerade traumatisiert und arbeitsunfähig ist. Der wird nicht mehr eingestellt. Die einzige Hilfe sind wir von der Seemannsmission.

Wie können Sie den Seemännern helfen?

Schildhauer: Vor allem kann ich zuhören. Oft vergehen Tage, bevor die Männer mit jemandem – zum Beispiel mit mir - reden können. Wir reden auf Englisch, aber manchmal hilft es auch, wenn ich sage: „Ich weiß, worum es geht. Erzähl in deiner Muttersprache.“ Es ist ein furchtbares Gefühl, neben einem Todeskampf stehen zu müssen und einfach nur zusehen zu können. An Bord solcher Schiffe, feiere ich auch oft einen Gottesdienst, eine Andacht mit den Seeleuten, an denen die Meisten teilnehmen, egal, ob sie der Kirche zugetan sind, oder nicht.

Das ist so erschreckend: In dem ganzen Streit um die Rettung auf hoher See, scheint wieder niemand daran zu denken, dass es dabei um Leben und Tod geht!

Schildhauer: Und das nimmt die Politik in Kauf. Alle unsere Werte der Rücksichtnahme, die sich die Staaten der EU auf die Fahne geschrieben haben, sind nur Versprechungen. Die EU verhält sich nicht danach und trägt das auf dem Rücken der Menschen vor Ort aus. Stattdessen geht es um Populismen und Obergrenzen – es kommt einem so vor, als ob die Hilfesuchenden untergehen sollen. Der Friedensnobelpreis war überhaupt nicht gerechtfertigt. Ich habe mich gewundert, dass Italien nicht schon viel früher auf die Barrikaden gegangen ist. Die Mehrheit der EU-Staaten wälzt die Verantwortung immer noch auf die Grenzstaaten ab.

Auf der anderen Seite forcieren auch die Schlepper die Situation. Die Frage um Leben und Tod ist ihr Druckmittel.

Schildhauer: Aber es ist falsch, sich allein auf die Schlepper zu konzentrieren. Sie sind das Ende einer langen Kette an Missständen. Zum Vergleich: Es gab Zeiten, da wurden Menschen aus der DDR rausgeschmuggelt. Wer das gemacht hat, war auch Schlepper: Und ein Held. Kein Mensch – niemand! – verlässt seine Heimat gern und ohne Grund. Die Leute machen sich auf den Weg, weil sie hungern, Durst haben, weil sie Angst haben müssen, wenn sie die Haustür aufmachen oder weil sie gar keine Haustür mehr haben. Die Politik versagt total bei ihrer Aufgabe, die Situation zu lösen. Menschen an der Grenze ertrinken lassen oder Schlepper bekämpfen, widerspricht allen menschlichen Werten der EU und ist auf keinen Fall eine Lösung.

Wer kann eine Lösung für das Problem finden, wenn die Politik versagt?

Schildhauer: Nur die Politik kann das lösen! Sie muss endlich begreifen, wo die Wurzel des Problems liegt und sie anpacken. Das heißt: Keine korrupten, autokratischen Regierungen mehr zu unterstützen, mit Rüstungsexporten und Müllexporten aufzuhören, und damit, unseren Wohlstand auf Kosten der anderen auszuleben.

Für uns Landmenschen, weit weg vom Mittelmeer, ist es relativ leicht, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Für Seefahrer nicht. Wie stehen diese zu dem Schicksal der Hilfesuchenden?

Schildhauer: Viele Seefahrer kommen selbst aus sehr armen Ländern und haben Verständnis für den Wunsch der Hilfesuchenden nach einem besseren Leben. Sie identifizieren sich stark mit ihnen und sind von ihren Schicksalen sehr unmittelbar betroffen.

Ein Seefahrer kann sich Arbeit unter Deck suchen. Ein Kapitän, der angefunkt wird, kann nicht so leicht wegschauen. Die Verantwortung ist ungleich größer.

Schildhauer: Vor gut zwei Jahren gab es den Fall, dass ein Handelsschiff um Hilfe gerufen wurde. Der Kapitän hat sein Unternehmen um Erlaubnis gefragt, den Umweg um fünf Stunden dorthin fahren und helfen zu dürfen. Die Leitung lehnte ab, mit der Vermutung, dass auch andere Schiffe helfen könnten. Das Boot mit vielen Menschen ist gesunken. Der Kapitän machte sich mir gegenüber große Vorwürfe. Mittlerweile arbeitet er nicht mehr als Kapitän. Er kommt mit seinen Gedanken nicht klar. So geht es vielen Seefahrern.

2015 war Ihre Forderung: Tragt diesen Konflikt nicht auf dem Rücken der Seeleute aus. Was ist Ihre Forderung momentan?

Schildhauer: Traurigerweise das Gleiche wie vor zwei Jahren. Die Politik muss sofort eine verbindliche, humane Lösung finden. Ihr Streit darf nicht auf dem Rücken der Seeleute und der Schutzsuchenden ausgetragen werden. Die neuen Fluchtrouten nach Spanien sind noch viel weiter und gefährlicher und die Boote, in die die Schutzsuchenden gesetzt werden, sind dafür noch viel weniger geeignet als ohnehin. Die Handelsschifffahrt wird wieder die Versäumnisse der Politik ausbügeln müssen und das unter noch komplizierteren Umständen: Denn keiner will die Geretteten mehr an Land aufnehmen..

Das Interview führte Sabine Oberpriller (für evangelisch.de)


Markus Schildhauer, Jahrgang 1959, leitet seit dem Jahr 2014 die Seemannsmission in Alexandria in Ägypten. 1999 leitete er ein halbes Jahr das Seemannsheim in Togo. Für die Kirche engagierte er sich zuvor jahrelang im Aufbau und der Bildungsarbeit in verschiedenen Ländern Afrikas.