Gottes Gabe und persönliche Verantwortung
Zusammenleben in Ehe und Familie
III. Familie und Kinder
1. Kinder konstituieren Familie - Ansatz für ein evangelisches Familienverständnis
Da, wo Kinder geboren werden, entsteht Familie: Familie wird durch Elternschaft konstituiert. Die zunehmende Pluralisierung von Formen und Stilen mit einem tiefgreifenden familienstrukturellen Wandel führen immer wieder zu der Frage, was als "Familie" gelten kann oder soll. Dahinter steht die Anfrage nach dem Familienverständnis, das Antworten und Orientierungen geben kann.
Das kodifizierte Recht, insbesondere auch unsere Verfassung, die nach Artikel 6 Grundgesetz die Familie "unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung" stellt, enthält "klugerweise" keine verbindliche und abschließende Definition dafür, welche personalen Beziehungen als Familie Anerkennung finden. Tatsächlich bestehen hierzu unterschiedliche Vorstellungen und je nach Handlungs- und Regelungszusammenhang auch unterschiedlich weite oder enge Familienbegriffe.
Auch aus biblischer Betrachtung und theologischer Auslegung läßt sich keine unwandelbare, normativ verbindliche Beschreibung von Familie ableiten. Selbst ethisch begründete Leitbilder gelten situationsbezogen. Ihre Normen werden durch sozialen und kulturellen Wandel immer wieder der "Bewährung" unterzogen.
Das Verstehen von Familie und das Fortentwickeln eines leitbildorientierten Familienverständnisses müssen sich auf die Lebenswirklichkeit beziehen. Damit wird nicht das Ist zur Norm erhoben. Familie ist Teil unserer Kultur und verändert sich mit ihr. Das Prinzipielle muß mitwachsen und Verständnis formen für entscheidungsleitende Orientierungen im sozialen Wandel.
Zur Klärung eines situationsgerechten Familienverständnisses gibt es viel zu bedenken - weitreichende familienstrukturelle Veränderungen, ein tiefgreifender sozialer Wandel mit einem hohen Maß an Individualisierung, Pluralisierung und Dynamisierung, ein immenser Funktionswandel der Familie (Familie nicht mehr als Produktionsstätte für Familieneinkommen, Entkoppelung von Familienleben und Arbeit, Erziehung durch Schule und Kindergärten, Vorsorge für Krankheit und Alter durch Sozialversicherung, institutionelle Pflege alter Menschen usw.) sowie ein grundlegend verändertes Rollenverständnis von Frauen (Erwerbstätigkeit der Frau nicht nur aus wirtschaftlichem Zwang, sondern auch als Ausdruck von Eigenständigkeit, Entfaltung persönlicher Fähigkeiten und gesellschaftlicher Partizipation).
All diese Aspekte sind außerordentlich wichtig, sie sind in vielen Berichten und Studien beschrieben. (19) Deshalb wird hier von ausführlichen Darstellungen abgesehen. Festzuhalten bleibt, daß alte Selbstverständlichkeiten nicht mehr gelten und das Bemühen um ein zeitgemäßes, der geschichtlichen Situation angepaßtes Familienverständnis notwendig ist. Dabei muß ein situationsgerechtes Verständnis nicht nur das einbeziehen, was sich bereits an Veränderungen vollzogen hat. Vielmehr muß der Umstand Berücksichtigung finden, daß sowohl im gesellschaftlichen wie auch im individuellen biographischen Kontext die Veränderung als solche immer mehr zu einer Grundbedingung menschlichen Lebens und Zusammenlebens wird. Deshalb kann sich die Verständnissuche nicht vorrangig auf Formen richten. Sie muß sich mehr auf die von Inhalten geprägten Prinzipien des verbindlichen und verläßlichen Miteinander beziehen.
Die Kammer der EKD für Ehe und Familie hat es unternommen, das Verständnis von Familie nicht in erster Linie aus der Sicht der Eltern und ihrem rechtlichen Status zueinander zu erschließen, sondern vom Kind her zu denken, so wie sie es bereits in ihrer Schrift zur Reform des Kindschaftsrechts(20) getan hat.
Ein derart kindzentrierter Ansatz soll selbstverständlich nicht zu einem Familienbegriff führen, der all die Lebensgemeinschaften ausschließt, in denen keine oder keine Kinder mehr leben. Der Blick auf Kinder grenzt nicht aus, sondern soll integrieren. Familie ist da, wo im Zusammenleben mit Kindern verbindliche elterliche Verantwortung getragen und gelebt wird. Kinder haben einen elementaren Anspruch auf Familie. Ein verengtes Familienverständnis, das im Widerspruch zu den tatsächlichen sozial-kulturellen Verhältnissen diesem Recht des Kindes vielfach entgegensteht, widerspräche christlicher Ethik und einem zeitgemäßen evangelischen Familienverständnis.
Der Blick vom Kind her auf die Familie öffnet die Perspektive für eine der Lebenswirklichkeit nahekommende Betrachtung. Damit wird nicht einer "Infantilisierung" rechtlicher und ethischer Leitbilder und Leitnormen das Wort geredet, auch nicht die Notwendigkeit institutioneller Prinzipien und Leitbilder jenseits individueller Biographien in Frage gestellt. Ebensowenig bedeutet ein solcher Standpunkt, Kinder und Kinderrechte in einen sich widersprechenden Gegensatz zu Eltern und Elternrecht zu stellen.
Vielmehr soll die Sicht des Kindes - die Person, durch die Familie konstituiert wird und die die zentrale Bedeutung der Familie und deren öffentliche Wertschätzung ausmacht - den tieferen Sinn von Familie klären helfen. Es geht nicht um Austausch von Werten und Normen, sondern um Perspektivenwechsel, nämlich um die Betrachtung derselben Sache aus einem anderen Blickwinkel. Auch in diesem Sinne können Kinder helfen, Wahrheiten zu finden.
Familie ist nicht ein Zustand oder etwas definitiv Bestimmtes, sondern immer ein Prozeß des Werdens und sich Veränderns. Der Prozeß individueller Familienbildung beginnt typischerweise mit der allmählichen Verfestigung der Alltagsstrukturen im Zusammenleben des Paares. Heiraten ist ein außerordentlich wesentlicher Schritt zur Qualifizierung der Beziehungen.
In der Kontroverse um einen zeitgemäßen Familienbegriff und das "richtige" Familienverständnis stehen sich zweierlei gegenüber: einerseits der Wunsch nach Achtung und Anerkennung sozialer Realität in Gestalt nichtehelicher Lebensformen mit Kindern als "Familie", andererseits die prinzipiellen Überzeugungen vom Wesen der Familie als Institution und die Sorge, das Prinzipielle könne durch Anerkennung von Faktizität einer allmählichen Auflösung zugeführt werden.
Auf ihrer Suche nach der Auflösung dieses scheinbaren Gegensatzes versteht die Kammer der EKD für Ehe und Familie "Leitbild" nicht im Sinne normativer Vorgaben, sondern mehr in deren orientierender Funktion. Es gibt keine Norm im Sinne einer Pflicht zum Heiraten oder zum Familiegründen. In Achtung persönlicher Freiheit und Verantwortung kann sich evangelisches Familienverständnis nur auf ein anbietendes, anregendes und Lebens- und Verhaltenseinstellungen bildendes Leitbild einlassen im Sinne ethischer Sollensforderungen aus dem Verständnis christlichen Glaubens. In diesem Gegenüber von "Soll" und "Sein" ist es hilfreich, die Mehrdeutigkeit des Begriffs Familie auf seinen unterschiedlichen Ebenen zu erkennen. Familie bedeutet zum einen Institution und Leitbild und andererseits konkrete, individuelle biographische Verwirklichung.
Es gilt inzwischen als weitgehender Konsens, daß Staat und Gesellschaft auch den auf Dauer angelegten nichtehelichen Lebensgemeinschaften, insbesondere wenn sie Kinder haben, Achtung, Schutz, Unterstützung und notwendige Hilfe schulden. Niemand sollte solchen Gemeinschaften von Eltern und Kindern streitig machen, daß sie Familien sind. Die Sozialstatistik belegt, daß es sich bei weitem nicht um wenige Einzelfälle handelt. So gesehen ist es auch richtig, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern als Herausbildung eines neuen Familientyps zu betrachten.
Hier nun kommt die Unterscheidung zwischen Familientyp / individuelle Familie einerseits und Familie als Institution und Leitbild andererseits zum Tragen. Die Anerkennung und soziale Unterstützung nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern als Familie ist nicht gleichzusetzen mit der Anerkennung als Institution. Es kann kaum etwas als Leitbild gelten, was im Wesen damit definiert wird, etwas nicht zu sein, nämlich Ehe. Es gibt auch keine soziale und geschichtliche Erfahrung, die als Grundwahrheit die Aussage begründen könnte, daß es gerade auch um der Kinder willen gut und vernünftig sei, nicht zu heiraten. Evangelische Christen sollten die rechtliche Verbindlichkeit nicht scheuen. Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern über ihre Achtung als Familien hinaus auch auf der Leitbildebene als gleichgeordnet anzuerkennen, übersähe, daß sie die für Kinder elementar wichtigen Prinzipien von "Verbindlichkeit", "Dauerhaftigkeit" und "Ganzheitlichkeit" im Einzelfall durchaus leben, aber eben nicht mit entsprechender "Öffentlichkeit" zum Ausdruck bringen.
Wenn durch Untersuchungen belegt ist, daß bei nichtverheirateten Paaren - auch dann, wenn sie Kinder haben - das Trennungsrisiko deutlich höher ist als bei verheirateten und wenn auch heute noch bei weitem die meisten Paare heiraten, wenn sie Kinder bekommen bzw. Kinder haben, dann können diese Befunde sicher auch als Bestätigung dafür gelten, daß die Ehe als verbindliche "Sozialgestalt" in ihrer rechtlichen und öffentlichen Form, gerade auch mit Rücksicht auf verbindliche und verläßliche Elternschaft und Elternverantwortung, als leitbildgebendes Institut besondere Anerkennung findet. Sie schafft nach innen Verbindlichkeit - gegebenenfalls auch im Sinne ehenachwirkender Pflichten, gerade gegenüber den Schwächeren (in der Regel Mütter und Kinder) - und nach außen Deutlichkeit, wie ihre Beziehung zueinander gemeint ist. Die ethische Qualifizierung von Ehe als Leitbild fordert nach evangelischem Verständnis Liebe und Verläßlichkeit als untrennbare Einheit. Aber - um es noch einmal klar zu sagen: Hieraus folgt weder die Aussage, daß nichtverheirateten Paaren schlechthin die notwendige Verläßlichkeit abzusprechen ist, noch die Behauptung, daß Ehe auch im konkreten Lebensvollzug ohne weiteres mit Liebe und Verläßlichkeit gleichgesetzt werden kann.
Die notwendige Unterscheidung von Familie als Institution und biographischer Realität läßt sich auch an der Situation der Ein-Eltern-Familien deutlich machen. Nachdem die Zahl Alleinerziehender inzwischen auf über 1,7 Mio. angestiegen ist und etwa jedes siebte minderjährige Kind in einer Ein-Eltern-Familie lebt, kann es gar keine Frage mehr sein, Alleinerziehende mit Kindern als Familie und Ein-Eltern-Familien als gesellschaftlich anerkannten Familientyp anzuerkennen. Wenn ein Elternteil die Verantwortung allein trägt, die eigentlich zweien zugedacht ist, so verdient dies besondere Anerkennung und sicher auch besondere Aufmerksamkeit in dem, was an Hilfe und Unterstützung notwendig ist.
Dennoch folgt hieraus nicht, daß dem Alleinerziehen auch Leitbildfunktion im Sinne eines geplanten Lebensentwurfes zukommt. Gerade aus dem Blickwinkel des Kindes und dessen elementarem Bedürfnis nach Zuwendung durch Mutter und Vater wäre es aus evangelischem Verständnis verfehlt, das Alleinerziehen - in der Regel ohne Vater - zum Leitbild zu erheben.
Daß es sachgerecht ist, die Begründung eines Leitbildes und die Anerkennung individueller Familie nicht gleichzusetzen, kann zusätzlich auch mit der Erfahrung belegt werden, daß Leitbildnormen auch dann orientierend wirken, wenn nach der Rechtsform (bewußt) eine nicht dem Leitbild entsprechende Lebensgestaltung gewählt ist. So zielt die Reichweite des Instituts der Ehe weit über Verheiratete hinaus. Auch Paare, die noch suchen, oder die, die entschieden sind, nicht oder nicht wieder zu heiraten, nehmen gleichwohl Ehe ganz oder in wesentlichen Facetten als Maßstab für ihre persönliche Orientierung in Anspruch. Liebe und Verläßlichkeit, gemeinsame Verantwortung, die Zusage von Schutz und Sicherheit insbesondere für die oder den Schwächeren sind grundlegende, kulturgeschichtlich geprägte Werthaltungen, die im Leitbild Ehe Ausdruck finden und durch deren institutionelle Verankerung auch auf Zukunft hin tradiert werden sollen. Gerade in einer gesellschaftlichen Situation, in der immer mehr Menschen das sich Einstellen in eine Institution als Widerspruch zu persönlicher Freiheit und Eigenverantwortung empfinden, hat der anbietende und Orientierung gebende Charakter eines Leitbildes und die Ausrichtung auf deren innere Werte eine um so größere Bedeutung.
2. Kinder aus biblischer und kirchengeschichtlicher Sicht
Der Blick auf die Kinder wird im Christentum in starkem Maße von der Auslegung des vierten Gebotes geprägt. (21) Eine Perspektive von den Eltern und Erziehern her hat allerdings in der Vergangenheit zu Mißverständnissen im Sinne einer 'schwarzen Pädagogik' geführt, weil sie den zeitgeschichtlichen Kontext übersieht, in dem viele Erziehungsanweisungen des Alten Testaments formuliert sind. Der Fortbestand der geltenden Ordnung war davon abhängig, daß das, was sich bewährt hatte, von der nachfolgenden Generation übernommen und fortgeführt wurde. Väter und Mütter waren Träger der Erfahrung und (Lebens-) Weisheit, die Voraussetzung für das Überleben der jungen Generation war. Es geht im vierten Gebot ausgesprochen "um langes Leben in Glück und Wohlergehen, Reichtum und Ehre, um ein Leben ohne Angst und Schrecken sowie um den Segen Jahves als Alternative zu einem Leben in Furcht, Orientierungslosigkeit und Schande - kurzum: um Leben und Tod" (vgl. Sprüche 2; 3) (22) und damit um eine Perspektive vom Kind her.
Bildung und Erziehung werden dann ein wesentlicher Akzent bei den kirchlichen Bemühungen um die Kinder. Die Reformation setzt nach der Bildungsarbeit der Klostergemeinschaften neue Akzente, die auf der einen Seite in Verbindung mit den Zielen des Humanismus zur Begründung eines neuen gelehrten Schulwesens führten, das sich genauso in den "Fürstenschulen" wie in städtischen Lateinschulen ausprägte. Zum anderen gibt Luther mit dem Katechismus jedem "Hausvater" eine spezielle Erziehungsaufgabe. Unterrichtung im Dienste des Glaubens führt zur Bildung für alle in der eigenen Muttersprache.
Das christlich gesetzte Motiv akzentuiert sich zur Zeit der Aufklärung neu und verselbständigt sich. Es wirkt aber selbst in säkularisierter Form außerhalb der Kirche fort, und nicht wenige der in früheren Jahrhunderten entstandenen Schulen und Bildungseinrichtungen existieren bis auf den heutigen Tag.
In der Zielrichtung des vierten Gebotes liegt das Moment der Fürsorge. Es steht darin nicht allein. Altes und Neues Testament kennen zahlreiche Geschichten von Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen. Die Bibel setzt voraus, daß ein irdischer Vater seinen Kindern nicht schaden will und ihnen gibt, was ihnen nützt (Lukas 11,9-13). Über den Raum von Familie und Sippe reichte solche Fürsorge aber zunächst nicht hinaus. Waisen waren schutzlos, genauso wie Witwen und Fremde. Mit ihnen stellt die Bibel sie aber in eine Reihe: Gott nimmt entschieden Partei für diejenigen, denen die Familie nicht Schutz geben kann: "Ihr sollt keine Witwe und Waise ausnützen" (2. Mose 22,21). "Vater der Waisen" tituliert ihn deshalb Psalm 68, und die in mangelnder Fürsorge zum Ausdruck kommende Pflichtvergessenheit gegenüber Gott selbst ist regelmäßiger Bestandteil der prophetischen Mahnung.
Um diese Fürsorge nicht dem guten Willen einzelner zu überlassen, enthält das Alte Testament konkrete Sonderbestimmungen (z.B. 5. Mose 24,19 ff.). Das Neue Testament folgt dieser Linie und überhöht sie dahin, daß Jesus selbst aufnimmt, wer ein unversorgtes Kind aufnimmt (Markus 9,36). Diese Sicht steht in deutlichem Gegensatz zur antiken Umwelt, die Kinderaussetzung, Kinderverkauf und Kindertötung als Praxis und rechtliche Möglichkeit kannte.
Für die junge christliche Gemeinde bedeutete dies zunächst tatsächlich Aufnahme elternloser Kinder in Familien. Heimartige Einrichtungen gibt es aber schon im 5. Jahrhundert, Mönchs- und Nonnenorden entwickeln dann ebenso eine institutionalisierte Kinderfürsorge, wie sie den Gedanken von Bildung und Erziehung verbreiten. Im protestantischen Raum realisiert vor allem die Erweckungsbewegung in Erziehungsvereinen und Erziehungsanstalten eine Kinderfürsorge in großem Stil, für die die Gründung Wicherns ('Rauhes Haus', Hamburg 1833) beispielhaft steht, nachdem der Pietismus mit den Franckeschen Stiftungen ab 1695 bereits einen eigenen Typus hervorgebracht hatte, bei dem sich Fürsorge mit Förderung der Frömmigkeit und Bildung verband.
Die Kinderfürsorge ist insofern aus der lebendigen christlichen Gemeinde hervorgegangen. Ausgehend von Ideen Pestalozzis entwickelten Fröbel, Oberlin und andere zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Ideen, die über eher karitativ geprägte und sozialpädagogische Bewahranstalten für kleine Kinder erwerbstätiger Mütter zu den von pädagogischen und erzieherischen Zielen geprägten Kindergärten des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts führten. Kindergärten sind seitdem ein hervorragendes Element der gemeindlichen und diakonischen Arbeit. (23) Abgesehen von der Reaktion auf aktuelle Notstände (z.B. der Kinderarbeit im 19. Jahrhundert) entdeckt der Staat dagegen die hier liegenden Aufgaben erst relativ spät; zur Pflichtaufgabe werden sie in Deutschland erst mit dem Jugendwohlfahrtsgesetz von 1924.
Ein neues und zusätzliches Moment kommt in die Betrachtung der Kinder, wenn ihnen in der Textstelle von der Kindersegnung in der Fassung des Markus (Markus 10,13f) die Teilhabe an der Gottesherrschaft zugesprochen wird. Diese Herausstellung eines personellen Eigenwertes ist für die antike und jüdische Umwelt ungewöhnlich und hat schon in Jesu Umfeld Ärger und Ablehnung erfahren, wie die schroffe Reaktion der Jünger (Vers 13b: "Die Jünger aber fuhren sie an") gegenüber denjenigen zeigt, die die Kinder zu Jesus bringen: Erwachsene haben Mühe, Kinder bedingungslos an den Gaben der Gottesherrschaft teilhaben zu lassen, und Erwachsene haben Mühe, Kinder bereits als Menschen mit einem eigenen Wert zu sehen. Dies gilt selbst dann, wenn Kindheit und Kindsein romantisch verklärt werden.
Jesu Widerspruch gegen eine solche "erwachsene" Haltung ist so scharf, daß Matthäus und Lukas ihn in ihren Fassungen der Geschichte unterdrücken. Die Erfahrung unbedingter Anerkennung für das Kind und die Forderung solcher Anerkennung an die christliche Gemeinde gehört seitdem aber zu den bestimmenden Elementen für das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen innerhalb des Christentums.
Es ist dennoch zu registrieren, daß das Nachdenken über das Kind und eine kindgerechte Gestaltung von Gesellschaft und kirchlichem Leben hinter diesem biblischen Ansatz zurückgeblieben ist. Wichtige theologische Nachschlagewerke nennen das Stichwort "Kind" nicht. Auch in der christlich geprägten Pädagogik haben über lange Zeit die Gesichtspunkte von "Zucht" und Strenge die Botschaft Jesu überlagert. Der Vorbereitungsausschuß der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Schwerpunktthema "Aufwachsen in schwieriger Zeit - Kinder in Gemeinde und Gesellschaft"(24) hat deshalb zusammengefaßt, worum es vom biblischen Zeugnis her gehen muß:
"- um ein neues Wahrnehmen, wie Kinder heute leben, wie sie Leben erfahren und was sie davon in das Zusammenleben mit den Erwachsenen einbringen können,
- um eine neue Klärung, an welchen Vorstellungen von Kindsein und Kindheit sich die Verantwortlichen für die Arbeit mit Kindern in Kirche und Gesellschaft orientieren sollen,
- um eine neue Verständigung über den Auftrag der Kirche, für eine kindergerechte Gemeinde und für eine kinderfreundliche Lebenswelt Sorge zu tragen,
- um ein neues Erinnern an die biblische Botschaft, nach der die Herrschaft Gottes dort ist, wo auch Kinder sind,
- um Schritte zu einer neuen Motivation für alle, die in Kirche und Gesellschaft mit Kindern zusammenleben und -arbeiten."
Der Vorbereitungsausschuß hat dies mit der Forderung verbunden, daß ein "Perspektivenwechsel, der auf ein neues Wahrnehmen von Kindern unter uns zielt"(25) vorzunehmen ist.
3. Kinder im Familienrecht - Reform des Kindschaftsrechts im Perspektivenwechsel(26)
3.1 Historische Entwicklung
Ebenso wie die Familie allgemein sind auch Erscheinungsformen und Strukturen des Eltern-Kind-Verhältnisses geschichtlichem Wandel unterworfen.
Übereinstimmend haben sowohl das römische wie das germanische Recht die Machtstellung des Vaters über die Kinder als ein wesentliches Element des Eltern-Kind-Verhältnisses herausgestellt. Das Kind ist eingebunden in den patriarchalischen Herrschaftsverband der Familie. Unvorstellbar erscheint es uns heute, daß - nach frühen Rechtsquellen - der Vater sein Kind straflos töten oder veräußern konnte. Selbst noch im ausgehenden 13. Jahrhundert zeigt der Schwabenspiegel das Recht des Mannes auf, im Falle der Not seine Kinder verkaufen zu dürfen. Kirchliche Einflüsse waren es, die diese Auswüchse des Herrschaftsrechts des Vaters zurückdrängten. Doch dem Vater stand eine weithin unkontrollierte Straf- und Züchtigungsgewalt zu, ihm oblag das Bestimmungsrecht über die Lebensführung der Kinder. Ein Mündigkeitsalter gab es nicht, der Vater allein entschied, ob und wie die Söhne durch Gründung einer eigenen Haushaltung oder aber die Töchter durch Heirat aus seiner väterlichen Gewalt ausscheiden konnten.
Im Spätmittelalter gab es zwar erste Anzeichen für die Einsicht in die emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kindern, wobei auch die Rolle der Mutter deutlicher sichtbar wurde. Doch führte dies nicht zu grundlegenden Veränderungen im Bereich des Rechtes.
Die patriarchalische Struktur der Familie wurde durch den Obrigkeitsstaat der frühen Neuzeit eher noch verstärkt. Der Gehorsam der Kinder gegenüber elterlicher Autorität wurde positiv betrachtet als Einübung in den Gehorsam des Untertanen gegenüber dem Staat.
Erst das Zeitalter der Aufklärung führte zu einer grundlegenden Änderung im Verständnis des Kindschaftsverhältnisses. Statt väterlicher Herrschaft wird nun die Verpflichtung zur Sorge für das Kind zum elementaren Element. Nicht mehr das Herrschaftsrecht des Vaters, sondern das Kind als Träger seiner Menschenrechte tritt in den Vordergrund. Das Verständnis der Aufklärung führte konsequent zu einem Gegensatz zwischen Elternrecht und Kindesrecht; dies wiederum führte notwendigerweise zu Überwachungs- und Entscheidungskompetenzen des Staates. So unterwirft das Preußische Allgemeine Landrecht (1794) die Ausübung der elterlichen Gewalt der Aufsicht des Vormundschaftsgerichts, das den Eltern bei groben Verstößen das Erziehungsrecht entziehen kann. Es mutet modern an, wenn bereits das Recht des Jugendlichen auf freie Entfaltung im Gesetz zum Ausdruck gebracht wird (z.B. ist bei der Berufswahl auf die Neigung des Sohnes Rücksicht zu nehmen). Eine bleibende Errungenschaft dieser Zeit war die Einführung fester Mündigkeitstermine.
Das 19. Jahrhundert war von restaurativen Bestrebungen gekennzeichnet. Aufgrund der Vorstellung, daß das familiäre Binnenverhältnis ein sittlicher und intimer Bereich sei, der von staatlicher Einmischung freizuhalten war, mußte die väterliche Autorität als Ausdruck der einheitlichen Geschlossenheit der Familie gestärkt und staatliche Kontrolle zurückgedrängt werden. Allerdings ging dieser Wandel des Kindschaftsverhältnisses auch einher mit einer Verstärkung des emotionalen Verständnisses der Eltern-Kind-Beziehungen.
Das 20. Jahrhundert hat den stärksten Umbruch im Recht zugunsten des Kindes mit sich gebracht. Unter Mithilfe des Bundesverfassungsgerichts ist die Mutter gleichberechtigt neben den Vater als Inhaberin der elterlichen Sorge getreten, was allerdings die Möglichkeit von Konflikten unter den Eltern in Erziehungsfragen eröffnet und damit auch zur Verrechtlichung des familiären Innenverhältnisses beiträgt. So sieht das Gesetz vor, daß letztlich das Vormundschaftsgericht zur Entscheidung aufgerufen ist, wenn sich die Eltern in Fragen von erheblicher Bedeutung nicht einigen können.
In der modernen Gesellschaft tritt der Staat als Instanz der Erziehung, Ausbildung und Jugendbetreuung nicht nur bei nichtehelichen und elternlosen, sondern auch bei den in der Familie lebenden Kindern zunehmend in Erscheinung. Neben die familiäre Erziehung tritt ergänzend die Erziehung durch den Staat, exemplarisch verdeutlicht im Schulrecht.
Präventive Hilfen des Staates dokumentieren sich im Jugendhilferecht sowie im Jugendschutzrecht. Persönlichkeit und Rechte des Kindes werden, wie zur Zeit der Aufklärung, wieder zum Ausgangspunkt von Rechtsreformen. Der junge Mensch erscheint als Träger von Ansprüchen auf Erziehung und Entfaltung, die sich gegen Staat und Gesellschaft richten, aber auch die Deutung des Eltern-Kind-Verhältnisses beeinflussen.
3.2 Das geltende Kindschaftsrecht
Kernstück des Kindschaftsrechtes ist das Sorgerechtsverhältnis der Eltern gegenüber ihrem noch minderjährigen Kind. Im bisherigen Recht war die elterliche Sorge beiden Eltern nur dann anvertraut, wenn sie auch miteinander verheiratet waren. Das nichteheliche Kind konnte sich rechtlich immer nur der alleinigen Sorge eines Elternteils erfreuen (mit gesetzlichem Vorrang für die Mutter). Aufgrund gemeinsamer Sorgeerklärung werden auch nicht miteinander verheiratete Eltern in Zukunft gemeinsam das Sorgerecht (u.a. Personensorge und Vermögenssorge) für ihr Kind ausüben können.
Die elterliche Sorge geht von einer existentiellen Grundbeziehung zum Kind aus, die nach ihrem Wesen dem Recht und gesellschaftlichen Zielen vorgegeben ist. Dem trägt das Grundgesetz Rechnung, indem es das Elternrecht als Grundrecht absichert. Es garantiert den Vorrang, die Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Eltern bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Elternrecht ist nicht ein den Eltern vom Staat übertragenes Recht, sondern ihr natürliches Grundrecht. Es beruht auf dem Gedanken, daß in aller Regel den Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als jeder staatlichen Institution. Erst wenn die Eltern ihr Recht gröblich verletzen, ist der Staat in seinem Wächteramt aufgerufen, auf die Einhaltung des den Kindern zugesagten Rechtes auf Erziehung zu achten. Doch darf das Elternrecht nicht als ein völlig autonomes und ausschließliches Erziehungsrecht verstanden werden: Elternrecht ist Grundrecht und Grundpflicht zugleich.
Vernachlässigung der Erziehungspflicht ruft das Wächteramt des Staates hervor, das sich gründet auf den Anspruch des Kindes auf staatlichen Schutz, weil auch das Kind Träger von Grundrechten ist. Aber nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigt den Staat, sie völlig von der Pflege oder Erziehung auszuschalten und statt ihrer diese Aufgabe zu übernehmen. Wie immer gilt auch hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; die Schwere des Eingriffs bestimmt sich nach der Schwere des Versagens der Eltern und danach, was im Interesse des Kindes geboten ist.
Die Elternrechtsgarantie geht regelmäßig davon aus, daß ein Kind mit den durch die Ehe verbundenen Eltern in einer Familiengemeinschaft zusammenlebt und von ihnen gemeinsam versorgt wird. Doch endet das Elternrecht nicht mit einer Scheidung. Nur wenn sich die Eltern über die Sorge für ihr Kind nach der Scheidung nicht einigen können, ist der Staat befugt, über die Sorge zu entscheiden. Im künftig geltenden Recht soll es deshalb bei einer Scheidung nur dann zu einer Entscheidung des Gerichts über das Sorgerecht kommen, wenn Vater oder Mutter es beantragen. Gleiches soll auch gelten, wenn sich nicht verheiratete Eltern, die durch gemeinsame Sorgeerklärung das Sorgerecht gemeinsam ausüben, trennen.
Die jüngste Reform des Kindschaftsrechts hat deutlich gemacht, daß es zukünftig weitgehend keine Unterschiede mehr zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern geben soll und daß die Perspektive des Kindes alle Regelungen des Kindschaftsrechts zu beherrschen hat.
4. Kindheit im sozialen Wandel - vom Objekt zum Subjekt
Das gesellschaftliche Verständnis von Kindheit hat im Verlaufe der Jahrhunderte einen grundlegenden Wandel erfahren. Kindheit als eigenständige Lebensphase mit ihren eigenen Rechten und Entwicklungsansprüchen wahrzunehmen, hat sozialgeschichtlich gesehen noch keine lange Tradition.
Zwar gelten Kinder im christlichen Denken von jeher als "Geschenk" und "gute Gabe Gottes", gleichwohl wurden sie weit über das Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit mehr als "Miniaturerwachsene" oder "Noch-Nicht-Erwachsene" und auch mehr als ein Eigentum der Eltern angesehen. Es überwog ein Bild des Kindes als eines "unfertigen" Menschen, der sich ohne Anspruch auf eigene Rechte und Interessen schlicht in die Erwachsenenwelt einzufügen hatte. Reste entsprechender Denkweisen spiegeln sich auch noch in der Gegenwart in mancher Regelung und Verhaltensweise wider; die immer noch starke Verteidigung körperlicher Bestrafung von Kindern ist ein Beispiel hierfür.
Am nachhaltigsten bewirkte Jean Jacques Rousseau insbesondere mit seinem Erziehungsroman "Emile oder über die Erziehung" von 1792 einen Perspektivenwechsel hin zum Eigenrecht des Kindes: "Die Kindheit hat ihre eigene Weise zu sehen, zu denken und zu empfinden. Nichts ist unsinniger, als ihr die unsrige unterschieben zu wollen." (27) Philosophen wie Immanuel Kant und Pädagogen wie Johann Heinrich Pestalozzi und Maria Montessori haben das Ende des 18. Jahrhunderts beginnende "Erziehungszeitalter" begründet und ihm allmählich Gestalt gegeben. Damit war der Grundstein zu einem Wandel gelegt, mit dem das Kind als Subjekt mit eigenen elementaren Bedürfnissen und als Träger eigener Rechte zunehmend Beachtung findet.
Parallel zu dieser Entwicklung hat sich auch die soziale Lage von Kindern wesentlich verändert. Die Funktionalisierung von Kindern als Arbeitskräfte war selbstverständlich - zunächst in Bauern- und Handwerksfamilien, später in der Zeit der Industrialisierung in den Fabriken mit unvorstellbaren Belastungen. Der soziale Alltag dieser Kinder aus einkommensarmen Bevölkerungsschichten unterschied sich extrem vom Wohlstand der dem aufkommenden Bürgertum angehörenden Kinder. Demgegenüber konnten viele Familien ohne die Erwerbsarbeit ihrer Kinder nicht überleben. Hohe Sterblichkeit und Verschleiß in unvorstellbarem Ausmaß waren in Kauf zu nehmen.
Bis zur Einführung der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung (1883-1889) waren Kinder zudem für die Mehrheit der Bevölkerung, die nicht auf Vermögen zurückgreifen konnte, die einzige Alters- und Risikoversicherung. In diesem mehr materiellen Sinn bedeuteten Kinder auch damals "Reichtum".
Die Kennzeichnung der heutigen Lebenssituation von Kindern erfordert eine differenzierte Darstellung. (28) Sie ist in jedem Fall unvergleichlich mit der historischen Situation und doch gibt es paradoxerweise auch zum Ende des 20. Jahrhunderts eine massive Armutsproblematik im Zusammenhang mit Kindern. Aktuell leben etwa eine Million Kinder mit ihren Familien von Sozialhilfe. Weit größer ist die Zahl der Kinder, deren Lebensalltag von Einkommensarmut, sozialer Not und Unsicherheit geprägt ist. Von Langzeitarbeitslosigkeit - als ein wesentlicher Grund dafür - sind ganz besonders Familien betroffen.
Gleichzeitig gibt es Kinder, die an materiellem Wohlstand zu verelenden oder an Überbetreuung zu ersticken drohen. Auch auf der gesellschaftlichen Ebene gibt es extreme Widersprüchlichkeit. Einerseits ist ein nie gekanntes Maß an Investitionen für und an Aufmerksamkeit gegenüber Kindern zu verzeichnen - als zukünftige Leistungserbringer oder als "Konsumkinder". Gleichzeitig wird ihnen in nahezu allen für sie elementar wichtigen Lebensbereichen immer mehr Raum genommen, um sich kindgemäß entfalten und entwickeln zu können.
In dieser Zwiespältigkeit haben Kinder sich zurechtzufinden und Familien oft mit großen Schwierigkeiten Vereinbarkeiten herzustellen. Kinder finden manchmal leichter Auswege und Lösungen. Auch deshalb ist es gut und wichtig, sie nicht nur als Adressaten von Fürsorge, Schutz und Erziehung wahrzunehmen, sondern vermehrt auch ihre Subjektstellung als zur Mitsprache und Mitgestaltung Befähigte zu betonen.
5. Entscheidung für Kinder und Leben mit Kindern
Vor dem in den vorausgehenden Kapiteln gezeichneten Hintergrund geschichtlich gewachsener Einstellungen und Erfahrungen sowie im Kontext der durch Politik und gesellschaftliche Normen geprägten Rahmenbedingungen treffen heute junge Menschen Entscheidungen für ein verantwortliches Zusammenleben mit Kindern. Nie zuvor bestand die Möglichkeit, ohne verbindliche Normvorgaben und frei für unterschiedliche Optionen über das Ob, Wann und Wie zu entscheiden. Damit geht ein historisch ebenfalls unbekanntes Maß an individueller Verantwortung einher, selbst die tragfähigen Maßstäbe für die persönliche Lebensgestaltung zu finden. Hier sind junge Menschen scheinbar auf sich allein gestellt und nicht selten auch überfordert. Aber es ist möglich, Orientierungen zu geben, Grundfragen klären zu helfen, Mut zu machen und zu vermitteln, daß Kinder wichtig und Eltern für sie nicht allein verantwortlich sind. In diesem Sinne sollen die folgenden Überlegungen aus dem lebenspraktischen Kontext dieses evangelische Familienverständnis verdeutlichen.
Das Ja zu Kindern stellt sich heute jungen Paaren grundlegend anders dar als in vorhergehenden Generationen.
Elternschaft ist nicht mehr eine biographische Selbstverständlichkeit. Sie hat sich im Zuge der Auflösung des engen Zusammenhangs von Liebe, Ehe, Zusammenleben, Sexualität und Elternschaft zunehmend zu einer Option unter anderen Lebensformen entwickelt. Dabei ist das historisch eigentlich Neue nicht das Vorhandensein unterschiedlicher Lebensformen, sondern deren weitgehende gesellschaftliche Anerkennung als offene Ausgangslage für persönliche Lebensentscheidungen.
Individuelle Lebensverläufe sind in diesem von normativen Vorgaben weitgehend freien Rahmen das Ergebnis faktischer Entwicklungen sowie nach rationalem Kalkül und Wertorientierungen getroffener subjektiver Entscheidungen. Diese wiederum vollziehen sich im Kontext eines milieubedingten und gesamtgesellschaftlichen Bedingungsgeflechts. Das Besondere der sich hieraus ergebenden Entscheidungssituation liegt nicht nur darin, daß der Entscheidungskontext immer komplexer und komplizierter wird, sondern daß jungen Menschen die Argumente eher vertraut und sie auch zum Abwägen besser befähigt sind.
Im individuellen Entscheidungsprozeß richten junge Paare das Hauptaugenmerk auf die Qualität ihrer Beziehung. Sie fragen sich, ob sie für die dauerhafte Übernahme personaler Verantwortung für ein Kind tragfähig ist. Veränderte Lebens- und Sinnvorstellungen lassen es immer mehr Menschen als möglich erscheinen, ein ausgefülltes Leben dauerhaft auch ohne Kinder zu verwirklichen. Tatsächlich ist der Anteil derer, die kinderlos bleiben, deutlich größer geworden.
Argumente für ein Kind sind relativ selten zu vernehmen. Deutlich hörbarer sind in der öffentlichen Diskussion die Gründe, die eher gegen Kinder sprechen; hiervon gibt es erdrückend viele. Nahezu unter allen rationalen Aspekten aus der Sicht von Wohlstand und persönlicher Freiheit ist das Ja zu Kindern, vor allem aus der Perspektive von Frauen, nicht nahegelegt. Dieser Sachverhalt ist in vielen Berichten und Studien hinreichend deutlich beschrieben. Benachteiligungen in vielfältiger Form und zunehmend auch Verarmung durch Kinder sind zu einer gesellschaftlichen Tatsache geworden.
Dennoch entscheidet sich auch heute noch der weitaus größere Teil junger Paare für ein eigenes Kind und überwiegend auch für ein weiteres. Hierdurch kommt offenbar eine nach wie vor tief verankerte Einsicht in Sinnzusammenhänge zum Ausdruck, die in der veröffentlichten Meinung nur wenig zum Tragen kommt. Die Einstellungen und Motive für Kinder sind auch bei denen, die Familien gründen, nicht identisch ("Es ist eben da" - "Kinder gehören einfach dazu" - "Kinder sind für uns der eigentliche Sinn des Lebens"). Allen gemeinsam ist das entschiedene Ja zum Leben, die Gewißheit oder das Gefühl, daß ein Leben mit Kindern Bereicherung bedeutet. Es scheint so, als drücke sich in dem Entschluß zu eigenen Kindern das Leben selbst aus. Offenbar gibt es nach wie vor die dem Leben vertrauenden Kräfte, die sich gegen Skepsis, Ängstlichkeit und die Vielzahl rationaler Überlegungen hinwegsetzen; sie sind Ausdruck von Lebensfreude.
Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind Beziehungen für das ganze Leben. Weder Elternschaft noch Kindschaft sind aufkündbar. Jedes Kind hat eine Mutter und einen Vater.
Kinder begründen den Anfang für Neues. Es ist gut, wenn junge Eltern sich frühzeitig die inhaltliche und zeitliche Dimension von Familie und den bevorstehenden Wechsel zwischen Freude, Sorgen und Belastungen bewußt machen, wenn sie von der Unterschiedlichkeit der sich ablösenden Familienphasen mit immer neuen Bedürfnissen, Aufgaben und Möglichkeiten wissen und die Tragweite dieser Beziehungen und ihre Chancen für die ganze Biographie bedenken. Eltern- und Familienbildung können hierbei einen wichtigen Beitrag leisten. Eine realistische Sicht von Familie versteht es, sicherer mit Problemen und Konflikten im praktischen Lebensvollzug umzugehen. Eine evangelische Sichtweise von Familie gründet auf der guten Erfahrung, daß gerade aus dem verantwortlichen Zusammenleben mit Kindern immer wieder die Einsicht und die Bereitschaft erwachsen kann, sich wieder zu finden und Gemeinsamkeiten neu zu entdecken. Gerade Kinder zeigen durch ihre besondere Fähigkeit zu verzeihen, zu vertrauen, zu hoffen, daß immer wieder ein Anfang möglich ist.
Elternschaft bedeutet zunächst die zentrale Verantwortung für die Sorge um das Wohlergehen des Kindes und seine gesunde Entwicklung und Entfaltung. Diese Verantwortlichkeit besteht unabhängig davon, in welcher familienrechtlichen Beziehung die Eltern zueinander stehen und wie nach staatlichem Recht die unter staatlichem Wächteramt stehende Personensorge geregelt ist. Wenn es immer häufiger vorkommt, daß im Verlauf von Kindheit Eltern ihre Beziehungen zueinander verändern und Wechsel im Sorgerecht erfolgen, dann ist es um so wichtiger, daß Eltern von Anfang an sich der existentiellen Bedeutung ihrer bleibenden Beziehung und Verantwortung für ihr Kind bewußt sind und gegebenenfalls hierzu stehen.
Elternschaft ist somit eine dem Recht vorgelagerte Entscheidung. Der praktische Vollzug elterlicher Verantwortung steht gewiß ganz wesentlich in Abhängigkeit zu rechtlichen Regelungen, nicht jedoch deren Existenz als Grundwahrheit in der Beziehung zwischen Eltern und Kind. Diese Aussage richtet sich nicht nur an Eltern, die keine Gemeinschaft miteinander leben oder unverheiratet bleiben. Mit Blick auf steigende Zahlen von Scheidungen auch bei Ehepaaren mit Kindern haben dies ganz besonders auch Verheiratete zu bedenken. Aus evangelischer Sicht muß Familie von dem Selbstverständnis geprägt sein, daß eine Auflösung der Ehe durch Scheidung nicht auch das Ende gemeinsamer verantwortlicher Elternschaft bedeutet. Bei jungen Paaren heute ist das Vorhandensein bzw. die Erwartung eines gemeinsamen Kindes zum entscheidenden Motiv für die Ehe geworden. Aus dieser Verknüpfung von Elternschaft und Ehe darf nicht im Umkehrschluß das Selbstverständnis erwachsen, mit der Auflösung einer Ehe sei regelmäßig auch das Ende gemeinsamer Elternschaft gleichzusetzen. Als Perspektive muß das Gegenteil gelten. (29)
Kinder brauchen verläßliche Beziehungen zu Mutter und Vater. Gleichverantwortliche Teilhabe der Väter an der Erziehung wird in einer von Gleichberechtigung, grundlegend veränderten Rollenerwartungen von Frauen, wesentlichen Strukturveränderungen bei Ausbildung, Arbeitswelt und sozialer Sicherung geprägten Gesellschaft zum Prinzip tragfähiger Elternschaft.
Längst nicht jedem Kind ist es gegeben, mit seinen leiblichen Eltern aufzuwachsen. Es ist eine gute Erfahrung, daß liebevolle und verläßliche Erziehung von Kindern auch in sozialer Elternschaft durch Adoptiveltern, Pflegeeltern und Stiefeltern gelingen kann und vielfach tatsächlich auch gelingt. Dennoch ist die primäre leibliche Elternschaft nicht beliebig ersetzbar. Sie hat für die Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes eine elementare Bedeutung. Erfahrungen von Müttern, die ihr Kind zur Adoption gegeben haben, oder von Menschen, die in ihrer Kindheit von ihren leiblichen Eltern getrennt wurden, belegen durch ihre lebenslange Suche nach ihrem Kind bzw. nach den Eltern die Unentrinnbarkeit aus der leib-seelischen Verbindung zwischen Eltern und Kind. Deshalb ist es gut, wenn sie auch tatsächlich zur Familie werden und sich gegenseitig alltäglich das geben, wozu sie bestimmt sind und was sie brauchen. Dem steht nicht entgegen, daß soziale Elternschaft für manches Kind das Beste ist.
Für Kinder ist die spürbare Annahme und Zuwendung durch beide Eltern wichtig. Evangelisches Familienverständnis bezieht sich auf die gemeinsame Verantwortung von Mutter und Vater. Die Teilhabe des Vaters und dessen gleichverantwortliche und gleichberechtigte Beteiligung an der familialen Sozialisation des Kindes prägen das Grundverständnis für verantwortliche Elternschaft. Das, was jeweils Mutter und Vater ihrem Kind geben und vermitteln können, ist verschieden und nicht austauschbar. Beides zusammen ermöglicht Vielfalt, Ausgleich und Ergänzung an elterlicher Zuwendung. Bedeutung von Mutter und Vater verändern sich in der Lebensgeschichte eines Kindes. Es gibt Phasen und Situationen für ein Kind, in denen der Vater oder die Mutter einmal mehr oder weniger gesucht und gebraucht werden. Im Konfliktfall sollten Eltern nicht vorschnell entscheiden oder entscheiden müssen, wer von beiden für das Kind und dessen weitere Entwicklung wichtiger ist, mit der Konsequenz, daß die vermeintlich weniger wichtige Person auf Dauer ausgeschlossen oder distanziert wird.
Die gleichberechtigte und -verpflichtete Teilhabe des Vaters an der Pflege und Erziehung seines Kindes schafft nicht nur eine Basis für gerechtere und partnerschaftlichere Aufgabenteilung in der Familie und für genügend elterliche Zuwendung. Sie gibt darüber hinaus Vätern die Chance, sich Zugang zu Kompetenzen und Ressourcen zu erschließen, die menschliches Dasein und Zusammenleben wesentlich prägen. Findet diese Entwicklung nicht statt, verzichtet Familie auf eine wichtige Gestaltungskraft hin zu einer von Gleichberechtigung geprägten Gesellschaft. Ohne die Beteiligung von Vätern in der Familie leben sich Paare ebenso auseinander, wie sich auf der gesellschaftlichen Ebene Männer und Frauen in ihrem Rollenbewußtsein und -verhalten auseinanderentwickeln. Familie würde besonders für junge Frauen weiter an Anziehungskraft verlieren, wenn sie überwiegend durch herkömmliche Rollenvorstellungen mit ungleichen Rechten, Pflichten, Chancen und Teilhabemöglichkeiten gekennzeichnet bliebe.
Allerdings wäre es eine verkürzte Sicht, die partnerschaftliche Teilung der Familienaufgaben nur zu einer Frage des guten Willens und der persönlichen Fähigkeit und Bereitschaft zu machen. Strukturell ungünstige Rahmenbedingungen erzwingen häufig Rollenteilungen, die die inneren Beziehungen des Paares zueinander sowie zu den Kindern nachhaltig negativ beeinflussen. Hieraus wird deutlich, daß politische Verantwortung des Staates, der Tarifpartner und anderer gesellschaftlicher Kräfte einen wesentlichen Beitrag dafür zu leisten haben, vielfältige Barrieren - insbesondere für die Vereinbarkeit von Beruf, Ausbildung und Familie - abzubauen, um damit auch die selbstverständliche Teilhabe der Väter an der Familie und an der Entwicklung der Kinder grundlegend zu verändern.
Kinder sind Klammer zwischen den Generationen. Elternschaft bedeutet Lebensgeschichte in der Generationenkette.
Das öffentliche Bewußtsein von Familie ist von der Zwei-Generationen-Familie geprägt. Auch wenn die Mehr-Generationen-Familie als Haushaltsgemeinschaft im Zusammenleben von Eltern, Kindern, Großeltern und mitunter auch Urgroßeltern zur Ausnahme geworden ist, so bedeutet doch auch heute noch Familie weit mehr, als es durch das Bild der Klein-Familie zum Ausdruck kommt. Kindschaft begründet ein Geflecht verwandtschaftlicher und sozialer Beziehungen, die ohne Kinder nicht denkbar wären. Kinder vermitteln über die direkten Elternbeziehungen hinaus Anlaß und Chancen zu vielfältiger Kommunikation. Lebendige Beziehungen zwischen Kindern und Großeltern ermöglichen den gegenseitigen Austausch von Erfahrungen, die authentisch in direktem personalen Bezug Geschichte und Entwicklung miteinander verbinden. Die gemeinsame Freude und Teilnahme an der Entwicklung der Kinder hält auch die Beziehungen zwischen Eltern und Großeltern lebendig. Hieraus erwächst Generationensolidarität im Sinne von Nächstenliebe, auf die Menschen und eine humane Gesellschaft unverzichtbar angewiesen sind. Die in Familien noch weitgehend selbstverständliche Bereitschaft, einander in besonderen Situationen des Lebens, wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Behinderung oder anderen schweren Belastungen beizustehen, hat im intensiven Erleben von Kindschaft und Elternschaft ihren tieferen Grund.
Eltern durchleben im Miteinander mit Kindern von Anfang an vielfältige Veränderungen. Junge Eltern müssen darauf vorbereitet sein, daß ein Kind nicht nur eine neue Beziehung und Aufgabe schafft, sondern auch ihre eigenen Beziehungen zueinander verändert. Mitunter sind solche Veränderungen von Irritationen, Enttäuschungen oder gar vorübergehenden Entfremdungen begleitet. Zumeist gelingt es, solche Schwierigkeiten zu überwinden und das gemeinsame Kind nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Beziehungen zueinander als eine wesentliche Bereicherung und Vertiefung zu erleben.
Kinder haben an solchen Entwicklungen wesentlichen Anteil. Es ist ihnen gegeben, nicht nur sich selbst zu entwickeln, sondern auch Beziehungen zu verändern; meist geschieht dies in positiver Weise. Das Heranwachsen der Kinder bis hin zu deren eigener Elternschaft erhält Eltern Vitalität und gibt ihnen die Chance, das eigene Älterwerden nicht nur als Weg hin zum Lebensende, sondern durch das Miterleben des wiederum Neuen als wesentliche Bereicherung zu erfahren.
Kindererziehung als wesentlicher Inhalt von Familie ist ein Prozeß von Gegenseitigkeit zwischen Eltern und Kindern. Mit zunehmendem Alter entwickeln Kinder Persönlichkeit als Träger eigener Rechte mit dem Anspruch auf Verständigung und Beteiligung in allen für sie wichtigen Angelegenheiten und dem wachsenden Bedürfnis zu selbständigem, verantwortungsbewußtem Handeln.
Kinder werden heute von Eltern "geplant", und doch sind sie nicht von ihnen "gemacht". Seine von Gott gewollte Einzigartigkeit vermittelt dem Kind von Anfang an personale Eigenständigkeit mit einem ureigenen Wert an Menschenwürde. Ein solches Verständnis verbürgt zum einen dem Kind Integrität; niemand kann und darf über ein Kind verfügen. Auch Eltern haben kein Recht auf das Kind so wie ein Recht auf Eigentum. Elternrecht ist inhaltlich gefüllt und gebunden von der Verantwortung für das Kind. Zum anderen wird mit diesem Verständnis Eltern die Freiheit gegeben, ihr Kind als von Gott gewollt anzunehmen, zu lieben und das für sein Heranwachsen Bestmögliche zu tun. Das Wissen, für das Sosein seines Kindes nicht verantwortlich zu sein, gleichwohl Verantwortung für sein Wohlergehen zu tragen, zeigt Grenzen auf, die Eltern keineswegs beschränken, sondern sie frei davon machen, sich alle Probleme und Fehlentwicklungen als eigenes Versagen zuschreiben zu müssen. Aus dieser Haltung heraus gelingt es Eltern, Belastungen anzunehmen, ohne sich als "genetische oder pädagogische Versager" zu fühlen, und mit der notwendigen Offenheit die erforderliche Hilfe anzunehmen.
Nach diesem Verständnis erhält auch Erziehung mehr den Sinn von Annehmen und Begleiten und weniger von Formen und Unterweisen. Der Vermittlung fester Wahrheiten und Regeln als wesentlicher Inhalt von Erziehung sind weitgehend die Grundlagen entzogen. Erziehung ist damit schwieriger geworden. Dafür bietet sie aber eine neue Qualität im Umgang mit Kindern. Es ist möglich, Kinder in ganz anderer Weise zu erfahren, mit ihnen zu wachsen und zu lernen, Freude daran zu haben, wie bei ihnen Eigenständigkeit reift und sich zunehmend Fähigkeiten entwickeln, aktiv und eigenverantwortlich auf die Gestaltung ihrer Lebenswelten Einfluß zu nehmen.
Für diesen Prozeß brauchen Kinder vor allem anderen vorgelebtes Vertrauen, Liebe und Verläßlichkeit ihrer Eltern und mit zunehmendem Alter auch Achtung ihrer Persönlichkeit mit zunehmend eigenen Rechten und Interessen. Aus Kindern, die Liebe und Annahme erfahren, werden Erwachsene, die wiederum zu Liebe und Solidarität fähig sind.
Hiermit werden keine Antworten auf Erziehungsfragen gegeben oder bestimmte Erziehungsstile normiert. Aufgezeigt wird eine grundlegende Richtung für verantwortliche Elternschaft, die anstelle starrer Autorität von Liebe und Dialog gekennzeichnet ist. Das konsequente Bemühen um den Verzicht auf jede Form von Züchtigung und Gewalt in der Erziehung eines Kindes ist hierfür ein wichtiger Prüfstein.
Eine weniger "besitzende" als annehmende Elternschaft schließt auch ganz selbstverständlich die Bereitschaft zum "Loslassen" ein. Die Fähigkeit, dem Kind Freiheit zu geben, es eigene Erfahrungen sammeln, "das Fallen durch Fallen" lernen zu lassen, nicht alles zu kontrollieren, zu reglementieren und zu organisieren, bereitet den notwendigen Prozeß der Ablösung vor. Sie bedeutet nicht das Ende von Familie, sondern einen neuen wichtigen Abschnitt in der Familienbiographie. Es darf hierbei nicht übersehen werden, daß gesellschaftliche Bedingungen, wie die vergebliche Suche nach einem Arbeitsplatz oder hohe Wohnungskosten, die notwendige Ablösung erschweren.
Dieses Beispiel macht deutlich, daß Eltern für das Wohlergehen und für die Entwicklung ihrer Kinder nicht allein verantwortlich sind. Die Sozialisation von Kindern wird gegenwärtig so sehr wie nie zuvor von außerfamilialen Bedingungen geprägt. Kinder werden heute in eine Welt geboren, die die Gestaltung vieler für sie wichtiger Lebenswelten, wie Schule, Freizeit und Medien, der entscheidenden Einflußnahme durch Eltern entzieht. Die Entwicklung von Kindern hängt damit ganz wesentlich davon ab, was die Gesellschaft an Lebens- und Gestaltungsbedingungen vorgibt.
Folglich trägt die staatliche Gemeinschaft nicht nur Verantwortung für die Förderung von Familien und familiärer Erziehung, sondern auch für die Gewährleistung strukturell kinderfreundlicher Lebens- und Entwicklungsbedingungen. Dabei gelten auch hier in ähnlicher Weise die Grundsätze, wie sie für den familiären Umgang mit Kindern aufgezeigt wurden. Kinder brauchen mehr Raum sowie freie Räume für eigenverantwortliche Gestaltungen. Die konsequente Berücksichtigung elementarer Kinderinteressen läßt sich am besten verwirklichen, wenn Kinder auch in der Politik intensiv an der Suche nach Lösungen und bei der Gestaltung ihrer Lebenswelten aktiv beteiligt werden.
Bleibt die Erfüllung des Wunsches nach einem eigenen Kind versagt, gibt es gleichwohl die Chance für eine sinnerfüllte Partnerschaft. Kinder wollen um ihrer selbst Willen gewollt und angenommen sein.
Der Wunsch nach gemeinsamen Kindern ist auch heute noch eine prägende Vorstellung für die Verwirklichung dauerhafter Partnerschaft, auch wenn die Zahlen deutlich belegen, daß die früher selbstverständliche Gleichsetzung von Ehe und Kinderwunsch längst nicht mehr gilt. Sinnerfüllung in dauerhafter Partnerschaft und Ehe ist offenbar auch ohne (eigene) Kinder möglich.
Darin liegt zugleich auch eine wesentliche Antwort für die Paare, die sich vergeblich um die Zeugung eines eigenen Kindes bemühen. Ein solches Schicksal sollte in seinem Leid und seiner Enttäuschung nicht durch Gefühle von Versagen und von Unvollkommenheit gesteigert werden und somit zusätzlich einer alternativen Sinnfindung im Wege stehen. Ein eigenes Kind um jeden Preis zu wollen und hierfür alle denkbaren Methoden der Fortpflanzungsmedizin in Anspruch zu nehmen, kann zu existentiellen Belastungen für die Partnerschaft führen und vor allem die Annahme des so gezeugten und ausgetragenen Kindes grundlegend in Frage stellen.
Nicht fern von dieser Problematik liegt die Sorge, daß vor allem durch die immer üblicher und perfekter werdenden Methoden pränataler Diagnostik sich vermehrt auch Machbarkeitsvorstellungen in den Prozeß der Menschwerdung einschleichen. Pränatale Diagnostik ermöglicht immer sicherer frühe medizinische Vorsorge, verleitet aber zugleich zunehmend dazu, über menschliches Leben zu verfügen. Nicht nur die Entscheidung über Zeitpunkt und Zahl der Geburt von Kindern durch Familienplanung und möglichen Schwangerschaftsabbruch, sondern auch die "Beschaffenheit" eines Kindes werden zunehmend machbar bzw. wählbar. Ein solcher Trend vermehrter Selektion bei der Entstehung menschlichen Lebens würde allmählich zur Auflösung eines von christlicher Ethik geprägten Menschenbildes führen. Wäre es üblich, daß wir uns ein bestimmtes Bild von unserem Nächsten machen und hiernach entscheiden, dann haben schließlich all die keine Chance, die nicht mehr "ins Bild" passen. Das Annehmen von Kindern, die Achtung ihrer von Gott gewollten Eigenheit und Integrität vom Ursprung an entscheidet letztlich über den Bestand von Humanität und den vorbehaltlosen Schutz von Menschenwürde eines jeden Menschen von der Geburt an bis hin zu seinem Lebensende. Zu diesem Problemkreis kann auch verwiesen werden auf das Gemeinsame Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland anläßlich der Woche für das Leben 1997 "Jedes Kind ist liebenswert. Leben annehmen statt auswählen".(30)
Neben dem unerfüllten Kinderwunsch steht die ungewollte Schwangerschaft. Auch hier geht es existentiell um die Achtung menschlichen Lebens - und doch ist es ein ganz anderer Konflikt in einer grundlegend anderen Entscheidungssituation. Von einer näheren Betrachtung dieses Problemkreises soll hier abgesehen werden. Im Kontext "Familie" sei hier nur besonders betont, daß die Lösung eines Schwangerschaftskonflikts in jedem Fall Offenheit und menschliche Solidarität erfordert, vor allem Solidarität des Partners, der Familie und des familiären Umfeldes. Wie ein Konflikt konkret bewältigt wird, hängt ganz wesentlich davon ab, ob die Frau in ihrem Für und Wider alleingelassen wird oder Rückhalt findet bei ihrer Suche und Realisierung einer möglichst das Leben des Ungeborenen schützenden Entscheidung. Die notwendige intensive professionelle Hilfe und Begleitung durch Beraterinnen und Berater kann familiäre Solidarität nicht ersetzen, sie kann und soll sie anregen und unterstützen. (31)
Die Verbesserung sozialer Lebenswirklichkeiten braucht eine bedarfsorientierte Politik
Man könnte gegenüber all den hier aufgezeigten Einsichten den Einwand erheben, sie seien allzusehr dem Ideellen verhaftet. Das tatsächlich häufige Scheitern von Familien, die Vielfalt an Fehlentwicklungen in Familien, das immer häufigere Nein zu Kindern, die strukturell tief verfestigte Rücksichtslosigkeit in unserer Gesellschaft gegenüber Familien und Kindern oder die Tatsache, daß Kinder zunehmend zum Kennzeichen von Armut und Benachteiligung werden - all diese Beschreibungen sozialer Wirklichkeit scheinen einem solchen Einwand Recht zu geben. Und dennoch kann er so nicht gelten. Gerade weil viel des Gesagten in der Realität nicht oder nur sehr unvollkommen eingelöst wird, hat es besondere Bedeutung für die Orientierung. Nicht Realität, sondern realitätsnahe Ideale füllen die Dimension, in der sich die Findung grundlegender Lebensentscheidungen, wie vor allem das Für und Wider einer Elternschaft, vollzieht. Demgegenüber ist eine möglichst direkte Anknüpfung an soziale Lebenswirklichkeit mit ihrer Fülle an Hilfe- und Handlungsbedarf zur Vermeidung sozialer Not, sozialer Ungerechtigkeit und zur Förderung kind- und familienfreundlicher Lebensbedingungen die relevante Perspektive für bedarfsorientierte Politik - vor allem der Kinder-, Familien- und Sozialpolitik.