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„Freiheit und Verantwortung - Die Bedeutung der Reformation für die neuzeitliche Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche“ - Vortrag beim „Karlsruher Foyer“

I.

„Ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“ (BVerfG 93, 1, 22).

Dieses Zitat aus dem berühmt gewordenen Kruzifixbeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995 stelle ich bewusst an den Beginn meiner Überlegungen. Denn dieser Kernsatz der damaligen Entscheidung führt uns unmittelbar in unser Thema hinein. Die Rede von der „überragenden Prägekraft“ des christlichen Glaubens nimmt den christlichen Glauben und die christlichen Kirchen insgesamt in den Blick. Der Staat sieht sie in einer Perspektive, die vom Gedanken der Parität geprägt ist. Dem entspricht aber, dass auch die Kirchen selbst im letzten Jahrhundert ein neues Bewusstsein ihrer ökumenischen Zusammengehörigkeit entwickelt haben. Ihr Handeln ist gerade in Deutschland von dem Bewusstsein geprägt, dass keine Kirche diese Prägekraft allein für sich in Anspruch nehmen oder allein vertreten kann. Nicht nur aus äußeren, sondern vor allem aus inneren Gründen suchen sie zur gesellschaftlichen Präsenz des christlichen Glaubens in ökumenischer Verbundenheit beizutragen. Wenn mir heute aufgegeben ist, in besonderer Weise den Beitrag der Reformation und der reformatorischen Kirchen zur neuzeitlichen Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche ins Licht zu rücken, so geschieht dies aus dieser ökumenischen Perspektive.

Freilich ist die besondere Akzentsetzung meines heutigen Themas durchaus gerechtfertigt. Denn die Reformation ist einer der geschichtlich bedeutsamen Vorgänge, durch die sich die Prägekraft der christlichen Kirchen für unser Gemeinwesen maßgeblich entwickelt hat. Um diese Bedeutung der Reformation soll es hier gehen – nun bald 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation durch Luthers Thesenanschlag an der Schlosskirche in Wittenberg.

Dabei lässt sich die Wirkungsgeschichte der Reformation, die zur Entfaltung der Prägekraft des christlichen Glaubens für unser Gemeinwesen Wichtiges beigetragen hat, nicht von den theologischen Erkenntnissen trennen, die das Wesen der Reformation ausmachen. Im Licht dieser Erkenntnis sind die Begriffe „Freiheit“ und „Verantwortung“ zu betrachten, in ihrer Bedeutung für den Glaubenden ebenso wie für den christlichen Staatsbürger.

II.

Die bis heute fortwirkenden verfassungsrechtlichen Konsequenzen der Reformation, die auch grundlegend sind für die heutige Ordnung des Verhältnises in Deutschland, haben die Reformatoren des 16. Jahrhunderts weder beabsichtigt noch im Blick gehabt. Die Reformation war ursprünglich eine theologische Bewegung. Es ging Martin Luther und ihm folgend den anderen Reformatoren des lutherischen wie des reformierten Flügels der Reformation um eine Erneuerung des christlichen Glaubens und um die darin begründete Einheit der christlichen Kirche. Dazu gehörte die Absicht, kirchliche und weltliche Ordnungsstrukturen und Autoritäten auseinander zu halten. Die Grenzen staatlicher Autorität im Blick auf Glaubensfragen wie die Grenzen kirchlicher Bestimmungsmacht im Blick auf die politische Ordnung gehören zu den frühen reformatorischen Einsichten, die besonders bei Martin Luther selbst profiliert entwickelt sind. Sie gründen in der Einsicht in die Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade und allein im Glauben. Die daraus entwickelte Lehre von den zwei Regierweisen Gottes hob die Selbständigkeit der christlichen Kirche und ihre Unabhängigkeit vom weltlichen Einfluss hervor. Sie wollte in der Praxis die geistliche Gemeinschaft unter der Herrschaft Christi trennen von der säkularen Herrschaftsordnung.

Nach dieser Auffassung obliegen dem evangelischen Fürsten in zwei unterschiedlichen Bereichen verschiedene Pflichten. Zum einen handelt er als weltliche Obrigkeit im Interesse von Frieden, Recht und Ordnung. Allerdings umfasst diese weltliche Seite auch die Cura religionis, also die Verantwortung für die Aufrechterhaltung eines Schutzraums für den wahren Glauben und seine Ausbreitung sowie den Schutz der Kirche und ihrer materiellen Existenzbedingungen. Davon zu unterscheiden ist das innerkirchliche Amt zum „brüderlichen Hilfs- und Notdienst“ (Johannes Heckel), das dem evangelischen Fürsten angesichts des Versagens der eigentlich berufenen geistlichen Instanzen zugemessen wird. Dieses Amt ergibt sich nicht unmittelbar aus der Ausübung hoheitlicher Gewalt und dem mit ihm verbundenen Gehorsamsanspruch; in ihm kommt vielmehr eine unmittelbare kirchliche Verantwortung des Inhabers staatlicher Autorität zum Ausdruck.

Faktisch hat sich im Gefolge der Reformation freilich dieser „brüderliche Hilfs- und Notdienst“ vor die Cura religionis geschoben. Das von ihr geprägte Verhältnis von Staat und Kirche hat sich dagegen im Spannungsfeld der politischen Interessen und Gegensätze in der Zeit der Reformation nicht durchsetzen können. Die sich verfestigende konfessionelle Spaltung der Kirchen im Zuge der Reformation stürzte das Deutsche Reich nicht nur in eine Glaubens-, sondern zugleich in eine schwere Verfassungskrise. Mit dem Verlust der konfessionellen Homogenität verloren die Institutionen des Reichs ihre weitgehend unangefochtene Legitimität. Der einsetzende Kampf gegen die Reformation diente deshalb nicht nur religiösen, sondern auch staatsrechtlichen Einheitsbestrebungen.

In dieser Zeit verfassungsmäßiger und religionspolitischer Zerrissenheit sollte der Augsburger Religionsfrieden von 1555 die Voraussetzungen des Friedens erneuern. Dazu sah er eine politische Koexistenzordnung vor, in der den Anhängern der „Augsburgischen Konfession“ und den „Altgläubigen“ die äußere rechtliche Existenzsicherung und zugleich die Freiheit der geistlichen Entfaltung garantiert wurden. Eine Lösung der Konflikte durch ein Religionsverbot oder durch ein Verdrängen von Religion aus der Öffentlichkeit kam nicht in Betracht. Verankert wurde vielmehr der Anspruch beider religiösen Lager, sich im öffentlichen Leben entfalten zu können. Das Reich ließ beiden Seiten diese Freiheit und gewährleistete den äußeren Frieden. Zugleich wurden die Beteiligten verpflichtet, „durch christliche, freundliche und friedliche Mittel und Wege zu einhelligem, christlichem Verständnis und Vergleich“ zu kommen. So war der Augsburger Religionsfrieden eine erste verfassungsmäßige Sicherung von Frieden und Freiheit in einer Gesellschaft, deren religiöse Zusammensetzung sich nachhaltig änderte.

Zwar wurde mit diesem Vertragswerk dem Einzelnen bei weitem nicht das Maß an Religionsfreiheit gewährt, das wir heute gewohnt sind und erwarten müssen. Die Formel cuius regio eius religio, in welcher der Augsburger Religionsfriede ein knappes halbes Jahrhundert später zusammengefasst wurde, erinnert ja eher an eine säkularisierte Variante der Vorstellung vom „kanonischen Territorium“, auf das – mitsamt seinen Bewohnern, versteht sich – eine bestimmte Kirche sozusagen ein garantiertes Zugriffsrecht habe, und weit weniger an die Vorstellung von Religionsfreiheit im Sinne einer individuellen religiösen Selbstbestimmung. Der Augsburger Religionsfrieden hat dennoch im Bemühen um die friedliche Koexistenz der Konfessionen in einem politischen Gemeinwesen die Entwicklung zu einer allmählichen konfessionellen Neutralisierung des Rechts eingeleitet und damit auch den Weg zur Achtung des persönlichen Gewissens und der individuellen Religionsfreiheit geebnet.

So steht der Augsburger Religionsfrieden, notwendig geworden zur Bewältigung der durch den reformatorischen Konflikt ausgelösten Verfassungskrise, als grundlegendes Regelungswerk am Beginn der Entwicklung, die zu unserem Verständnis von Religionsfreiheit, Toleranz und Neutralität geführt hat. Dieses Ergebnis wurde auch durch den furchtbaren Rückschlag des Dreißigjährigen Krieges schließlich und endlich nicht aufgehoben, sondern bestätigt. Der Westfälische Frieden von 1648 knüpft in der Sache an die Konstruktion des Augsburger Religionsfriedens an. Das seitdem bestehende gleichberechtigte Nebeneinander der christlichen Konfessionskirchen in Deutschland war und bleibt prägend für die Entwicklung unseres heutigen freiheitlichen Religionsverfassungsrechts.

Der Augsburger Religionsfrieden sanktionierte allerdings auch, dass die evangelischen Kirchen, ganz entgegen der ursprünglichen Intention der Lehre Luthers von den zwei Regierweisen Gottes, rechtlich in die weltliche Staatsordnung und Staatsorganisation eingegliedert wurden. Die Kirchenleitung wurde zu einer Aufgabe des staatlichen Souveräns, die Kirche wurde der äußeren und juristischen Form nach zu einer Staatsanstalt. Unter weitgehendem Verlust seiner geistlichen Eigengeartetheit und Eigenständigkeit wurde das Kirchenrecht zu einem Teil des Staatsrechts. Dieses System des „Landesherrlichen Kirchenregiments“ wird durch das aufkommende Presbyterial- und Synodalwesen und dann durch das allmähliche, insbesondere durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 angestoßene Auseinandertreten von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert allmählich gelockert. Erst mit dem Ende der Monarchie in der Novemberrevolution 1918 und darauf folgend mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 sowie mit den eigenständigen evangelischen Kirchenverfassungen der folgenden Jahre kommt dieses Kapitel zu einem Abschluss.

Dass damit zum ersten Mal in der Geschichte evangelischer Kirchen in Deutschland die Möglichkeit besteht, das reformatorische Kirchenverständnis in eine eigenständige evangelische Kirchenordnung umzusetzen, kommt allerdings erst sehr allmählich zum Bewusstsein. Der nationalsozialistische Angriff auf die kirchliche Selbstbestimmung stärkt im Ergebnis das Bewusstsein von der Eigengeartetheit und Eigenständigkeit der kirchlichen Ordnung und führt zu einer Haltung der evangelischen Kirchen gegenüber dem Staat, die durch den eigenständigen kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag, durch kritische Solidarität sowie durch konkret wahrgenommene Partnerschaft geprägt ist.

III.

Die Reformatoren, so sahen wir, hatten das moderne Religionsverfassungsrecht nicht im Sinn; und der Übergang zum Landesherrlichen Kirchenregiment verzögerte die Entwicklung zu einem freiheitlichen Gegenüber von Kirche und Staat. Dennoch bleibt die Feststellung richtig, dass das freiheitliche Religionsverfassungsrecht deutscher Prägung mit innerer Folgerichtigkeit reformatorische Impulse in sich aufgenommen hat. Historische Konstellationen, die seine allmähliche Durchsetzung ermöglichten, mussten hinzutreten. Es verbindet die folgenden grundlegenden Faktoren miteinander: Religionsfreiheit, Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, wechselseitige Unabhängigkeit von Kirche und Staat, Anerkennung der öffentlichen Bedeutung von Religion sowie die Förderung der Kirchen und Religionsgemeinschaften durch den religiös und weltanschaulich neutralen Staat.

Zur Untersuchung der Wirkungen der Reformation gehört es aber auch zu klären, welches Selbstverständnis und welche persönliche Haltung auf der Seite der Glaubenden einem solchen institutionellen Rahmen korrespondieren. Worauf ist das freiheitliche Religionsverfassungsrecht aus der Sicht des christlichen Glaubens angelegt und was ist sein innerer Sinn? Die Antwort auf diese Frage lässt sich am besten in dem Begriffspaar „Freiheit und Verantwortung“ oder noch knapper im Begriff der „verantworteten Freiheit“ erfassen. Damit wird eine Haltung beschrieben, die zum Selbstverständnis der Moderne gehören, die aber zugleich tief im christlichen Verständnis des Menschen verankert sind.

„Freiheit und Verantwortung“ oder „verantwortete Freiheit“ – es sind gerade diese Begriffe, an denen sich zeigt, dass das Verhältnis zwischen christlichem Glauben und Moderne, zwischen Glauben und neuzeitlicher Vernunft nicht nur als Gegensatz, sondern als ein innerer Zusammenhang gesehen werden muss. Gewiss ist dieser Zusammenhang als kritische Zusammengehörigkeit zu verstehen; der christliche Glaube hat zu den Aspirationen der Moderne ebenso wenig ein einfach nur affirmatives Verhältnis wie zum Selbstverständnis jeder anderen Epoche auch. Es ist jedoch nicht an dem, dass man auf ein vormodernes Vernunftverständnis zurückgehen müsste, um die Verbundenheit von Glauben und Vernunft zu verdeutlichen, die sich dann – in einem Prozess der Enthellenisierung, wie Papst Benedikt XVI. sagt – durch Reformation, Aufklärung und moderne Wissenschaft aufgelöst habe. Vielmehr hat gerade die neuzeitliche Entwicklung institutionelle Bedingungen dafür geschaffen, dass ein christliches Verständnis von Freiheit und Verantwortung einen spezifischen gesellschaftlichen Ausdruck finden kann. Das christliche Verständnis einer vernehmenden Vernunft ist auch in der modernen Gesellschaft keineswegs ortlos geworden, sondern hat die Chance, zu Gehör zu kommen.

In die Weite solcher Fragen führt es, wenn wir uns verdeutlichen, dass eine Haltung, die durch verantwortete Freiheit geprägt ist, dem freiheitlichen Religionsverfassungsrecht korrespondiert, wie es sich insbesondere unter den deutschen Bedingungen entwickelt hat, freilich in anderen Variationen auch die Lage in anderen Ländern bestimmt und mit der menschenrechtlichen Anerkennung der Religionsfreiheit im Ansatz universale Geltung beansprucht. Doch wenden wir uns von der Weite dieses Horizonts genauer der reformatorischen Verhältnisbestimmung von Freiheit und Verantwortung zu.

Das ist nicht möglich, ohne die Ambivalenz vor Augen zu haben, mit welcher sich der Freiheitsbegriff – ähnlich wie der Begriff der Vernunft – unter neuzeitlichen Bedingungen verbindet. Freiheit ist die Verheißung des Projekts Moderne; sie ist das Versprechen der Neuzeit. Mehr Hoffnungen und Erwartungen, mehr Zuversicht und Veränderungen hat kein anderer Begriff freigesetzt; zugleich hat kein Begriff so viele Ängste und Anmaßungen, so viele Zerstörungen und Überforderungen ausgelöst wie dieser. Will man mit dieser Ambivalenz umgehen, ist es hilfreich, sich an den Ort des Freiheitsbegriffs im christlichen Bild des Menschen zu erinnern.

Freiheit ist ein Schlüsselbegriff schon des biblischen Zeugnisses. Diesem Zeugnis gemäß ist Freiheit die große Gabe Gottes an die Menschen. Ihr wohnt die Verheißung des Gelingens ebenso inne wie die Verführung zum Misslingen. Die ihm als Geschenk anvertraute Freiheit zu bewahren, die in der Befreiung aus der Sünde erneuerte Freiheit verantwortlich zu gebrauchen, ist Gottes Auftrag an den Menschen. In allen großen Traditionsströmen des christlichen Glaubens hat diese Freiheitszusage ihren Ort, weitergegeben von Generation zu Generation. Die christliche Theologie hat um das rechte Verständnis der Freiheit gerungen. Sie hat in allen ihren Phasen, Ausgestaltungen, Richtungen und Verästelungen festgehalten, dass das christliche Freiheitsverständnis einen unaufgebbaren Beitrag zum Verständnis und zur Gestaltung der Freiheit leistet. Zu dieser Gestaltung der Freiheit aber gehört es, dass sie mit einer letzten Rechenschaftspflicht verbunden ist. Ihr gibt die christliche Tradition in der Vorstellung von einem letzten Gericht Ausdruck.

Martin Luther stellte sich – wie die meisten Menschen zur Zeit der Reformation – das Jüngste Gericht wie eine weltliche Gerichtsverhandlung vor: mit einem gestrengen Richter, der sich nur an Recht und Gesetz hält; mit einem Ankläger, der alle Taten vorträgt; und mit einem Delinquenten, der schon bald nichts mehr zu seiner Verteidigung vorzubringen vermag. Denn seine guten Taten wirken nur kläglich gegen alle Schuld und Sünde, die der Ankläger vorzubringen weiß; der Weg in die ewige Hölle ist unabwendbar. Aber gerade da, als alles verloren scheint, tritt der Eine auf, Jesus Christus. Er stellt sich zwischen den Delinquenten und den Richter, er nimmt dem Richter gleichsam die Sicht auf die arme Kreatur und sagt: ‚Vater, schau nicht auf ihn, schau auf mich, und dann urteile’. Angesichts dieses seines Sohnes wird der Mensch „ewiglich frei“ gesprochen, er ist dem Tod entkommen und kann mit Paul Gerhardt fröhlich singen: „Die Höll und ihre Rotten, die krümmen mir kein Haar; der Sünden kann ich spotten, bleib allzeit ohn’ Gefahr“ (EG 112, 4).

Durch diesen einen Mittler ist der Mensch von der Sünde kraft der Gerechtigkeit Gottes selbst frei gesprochen. Das prägt nicht nur die Situation der letzten Rechenschaft; es wirkt sich vielmehr auf den ganzen Lebensvollzug aus. Der Glaubende ist befreit für ein Leben aus Glauben, in dem er dem Nächsten gute Werke tun kann, ohne der Frage ausgesetzt zu sein, ob diese dazu reichen, vor Gott bestehen zu können. Der Mensch ist frei, ewiglich frei, ganz ohne sein Verdienst, ganz ohne seine Werke, allein durch Christus, allein aus Gnade. Dies ist der Kern aller christlichen Glaubensfreiheit: Sie ist Freiheit von der Sünde und Freiheit zum Gotteslob; sie ist in Gottes Gnade und Barmherzigkeit gegründet, in Christi Sterben und Auferstehen offenbar, in der Heiligen Schrift bezeugt und im Glauben ergriffen. Diese Befreiung von Furcht und Zittern enthält eine existentielle Kraft in sich. Durch sie wird der christliche Glaube zu einer Lebenshaltung, die von Gottvertrauen und Zuversicht geprägt ist.

Diese existentielle Dichte der Vorstellung von der „Freiheit eines Christenmenschen“ (so der Titel einer reformatorischen Hauptschrift Martin Luthers von 1521) macht einen wichtigen Zug an der Wirkungsgeschichte der von Wittenberg ausgehenden Reformation verständlich. Die neu entdeckte „Freiheit eines Christenmenschen“ wird aufgenommen und abgewandelt, auch missdeutet und missbraucht, sie wird veredelt und verdichtet, auch verhärtet und dogmatisiert. Aber sie bleibt der Gründungsakt und die Verfassungsurkunde aller reformatorischen Kirchen. Der in Gottes Barmherzigkeit und ihrer Offenbarung in Christus gegründete freie Blick des Menschen auf Gott und der aufrechte Gang im Glauben machen aus den Kirchen der Reformation „Kirchen der Freiheit“. Aus diesem Impuls entsteht das Beharren auf einer Gewissensfreiheit, die gegenüber den Ansprüchen der Mächtigen eine unantastbare Instanz der Verantwortung vor Gott und der aus ihr folgenden Selbstbestimmung bildet.

Aus diesem Impuls entsteht die Kraft zu einer kulturellen Gestaltung, für die sich die Bezeichnung des Protestantismus eingebürgert hat. Bis zum heutigen Tag ist deutlich, dass der reformatorische Impuls mit diesen kulturellen Wirkungen zusammengehört. Deshalb achten wir heute auch wieder neu auf lebendige, sich erneuernde kulturelle Gestaltungsformen evangelisch geprägter Kultur. Es ist bekannt, in welch vielfältigen Formen sich die reformatorische Tradition auf die Künste, insbesondere auf Literatur und Musik ausgewirkt hat. Es gibt einen starken reformatorisch geprägten Zusammenhang zwischen Glauben und Bildung, um dessen Erneuerung wir uns heute bemühen. Dabei lernen wir von den Erfahrungen anderer Kirchen, insbesondere auch vom Beispiel katholisch geprägter Kulturgestaltung. Dass es angesichts einer zurückgehenden Bedeutung konfessionell geprägter Milieus ein ökumenisches Bemühen um eine Neubestimmung des Verhältnisses von christlichem Glauben und Kultur gibt, gehört zu den Hoffnungszeichen unserer Gegenwart.

Die Freiheit eines Christenmenschen – so ist verdeutlichend hinzuzufügen – kommt erst dann zu sich selbst, wenn sie in der Verantwortung für andere konkret wird. Dass der Christenmensch ein freier Herr aller Dinge ist, bewährt sich gerade darin, dass er aus freien Stücken allen ein Diener sein kann. Wenn der christliche Glaube auch darin der Freiheit die Treue hält, dass er aufmerksam ist für die Bedingungen, unter denen diese Freiheit erfahren werden kann, und wachsam ist gegenüber Umständen, die dieser Freiheit den Entfaltungsraum verweigern, dann gilt dies keineswegs nur für die jeweils eigene Freiheit, sondern gerade auch für die Freiheit des andern. Dass die Freiheit eines Christenmenschen den vor Gott stehenden und durch ihn aufgerichteten Menschen meint, relativiert nicht etwa die gesellschaftliche, politische und kirchliche Verantwortung der Christen, sondern präzisiert sie.

Die christlichen Kirchen sehen deshalb in der Solidarität mit dem hilfsbedürftigen Nächsten eine zentrale Lebensäußerung des christlichen Glaubens. Sie machen sich die Klage über Unfrieden und Ungerechtigkeit zu Eigen und suchen nach Wegen dazu, wie die vorrangige Option für die Armen und die vorrangige Option für gewaltfreies Handeln Gestalt gewinnen können.

Gerade aus der Perspektive des reformatorischen Verständnisses von verantworteter Freiheit bleibt es wichtig, dass das Christentum nicht nur eine kirchliche und eine persönliche, sondern auch eine öffentliche Gestalt annimmt. Wenn vom „öffentlichen Christentum“ die Rede ist, dann ist dabei nicht nur das Verhältnis von Kirche und Staat im Blick; gemeint ist damit vielmehr ebenso die Bedeutung von Glauben und Kirche für die Gesellschaft. Der christliche Glaube, das Zeugnis der Freiheit, lässt sich nicht in die Mauern der Kirche einsperren. Dass er in seiner kritischen und orientierenden Bedeutung für die Gesellschaft zur Geltung kommen, ist für Zeugnis und Dienst der Kirche unentbehrlich.

Entscheidend ist deshalb, dass die christliche Stimme im kritischen Diskurs unserer Gesellschaft gehört wird. Es ist gut, wenn das in ökumenischer Gemeinschaft geschieht. Aber es gehört auch zum Verständnis christlicher Freiheit, dass in bestimmten Fragen die Suche nach der Wahrheit im Abwägen unterschiedlicher Positionen erkennbar wird. Denn nicht immer ist es so, dass sich auf die komplexen Problemstellungen unserer Gegenwart mit unzweifelhafter Klarheit nur eine christliche Antwort geben ließe. Der offene Diskurs muss auch in und zwischen den christlichen Kirchen erkennbar sein, wenn denn verantwortete Freiheit zu den grundlegenden Kennzeichen christlicher Existenz gehört.

Die so verstandene christliche Freiheit drängt nach gesellschaftlichen Umständen und nach einer Verfassungsordnung, in welchen die Entfaltung dieser Freiheit möglich ist. Die Freiheit der Verfassungsordnung ist eine Freiheit für alle. Sie kennt keinen Vorrang für die Freiheit von Christen. Aber das Verständnis dieser Freiheit ist – neben anderen wichtigen Einflüssen – in erheblichem Maß durch das christliche Freiheitsverständnis geprägt. Ein wesentlicher Einflussstrom lässt sich zurückführen auf die „Freiheit eines Christenmenschen“, von der Martin Luther in der Zeit der Reformation gesprochen hat.

IV.

Ich bin von dem Begriff der „Prägekraft des Christentums“ ausgegangen, der sich an prominenter Stelle im Kruzifixbeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995 findet. Der Staat des Grundgesetzes anerkennt diese  Prägekraft, ohne dabei einer kirchlichen Gestaltungsformen den Vorrang zu geben. Mir ging es auf dieser Grundlage darum, den Beitrag des reformatorischen Verständnisses verantworteter Freiheit für das Verständnis unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung deutlich zu machen.

Den Begriff der Prägekraft des Christentums haben der Theologe Trutz Rendtorff und der Jurist und Politiker Jürgen Schmude im Anschluss an die entsprechenden Formulierungen des Bundesverfassungsrechts in ihrer erhellenden Schrift "Wie versteht die evangelische Kirche die Rede von der ‚Prägekraft des Christentums’" aus dem Jahr 2004 näher beschrieben. Dabei greifen sie auf die Denkschrift der EKD "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe" von 1985 sowie auf die Erklärung des Rates der EKD "Christentum und politische Kultur. Über das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zum Christentum" von 1997 zurück. Rendtorff und Schmude heben für das Verständnis der Prägekraft des Christentums diejenigen Werte und Normen hervor, die, von Christen und aus christlichen Glaubensgrundsätzen entwickelt, weiterhin wirkungskräftiges Gemeingut im demokratischen Staat und seiner Gesellschaft sind. Im Einzelnen nennen sie Menschenwürde und Menschenrechte, die Grundsätze der Gewissensfreiheit und der Toleranz, die Betonung der Eigenverantwortung wie der Verpflichtung zu Solidarität und Gerechtigkeit mitsamt ihren Auswirkungen auf das Konzept der sozialen Marktwirtschaft sowie die Verantwortung der Christen für den Aufbau und die Gestaltung der Demokratie. Daran knüpfen sie die Feststellung an: "Der demokratisch-rechtsstaatlich verfasste Staat muss als Gesetzgeber in seinem Handeln Rücksicht nehmen auf die geschichtlich vermittelten und in der Gesellschaft präsenten Überzeugungen, aus denen er selbst die Überzeugungskraft seiner Gesetzgebung bezieht. Darin unterscheidet sich der demokratische Rechtsstaat von absoluter oder totalitärer Herrschaft."

V.

Welche Konsequenzen sich hieraus für das Verständnis der individuellen, korporativen und institutionellen Religionsfreiheit in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes ergeben, ist oft beschrieben worden. Kardinal Lehmann hat das hier  im „Karlsruher Foyer“ vor einem Jahr aus seiner Sicht dargelegt; ich selbst habe meine Sicht ebenfalls im vergangenen Jahr bei den „Essener Gesprächen zum Verhältnis von Staat und Kirche“ erläutert. Ich beschränke mich deshalb auf drei Akzente.

1. Das in den Artikeln 4 und 140 des Grundgesetzes enthaltene Religionsverfassungsrecht geht von der individuellen, korporativen und institutionellen Religionsfreiheit aus. Es verbindet die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche mit der Anerkennung des Öffentlichkeitsauftrags der Kirchen. Religionsfreiheit kann demnach keineswegs nur – wie das französische Modell des Laizismus annimmt – dadurch verwirklicht werden, dass die Religion auf den Bereich des Privaten beschränkt wird. Man kann vielmehr die religiöse Neutralität des Staates akzeptieren und zugleich die öffentliche Dimension von Religion respektieren. Die besondere Bedeutung des deutschen Modells liegt gerade darin, dies beides miteinander zu verbinden.

Die Kooperation auf der Basis wechselseitiger Unabhängigkeit ist im System der Verträge zwischen Staat und Kirche in einer tragfähigen Weise ausgestaltet. Das hat sich zuletzt darin erwiesen, dass dieses System auch auf die neuen Bundesländer ausgedehnt wurde. Die Körperschaftsrechte und das Kirchensteuerwesen, die Kooperation im Bereich des Religionsunterrichts – bei bleibenden Problemfällen, wie ich aus eigener leidvoller Erfahrung hinzufügen muss – , die Stellung theologischer Fakultäten, die Förderung der kirchlichen Diakonie, der Schutz kirchlicher Denkmale oder das Friedhofsrecht sind Beispiele für vielfältige Aufgaben der Kooperation und für tragfähige Lösungen im Geist der Religionsfreiheit.

2. Die Religionsneutralität des Staates dient dazu, die volle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich zu sichern. Ein religiös gebundener Staat, der sich einer Religion gegenüber in besonderer Weise verpflichtet weiß, läuft dagegen Gefahr, diese gegenüber anderen Religionen in seinem Staatsgebiet zu privilegieren. Die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung gehört auch heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Der Staat, der anerkennt, dass der Mensch frei und mit unantastbaren Rechten ausgestattet ist, kann ihn nicht einer vorgegebenen Religion zuweisen oder ihn direkt oder indirekt zwingen, sich für eine Religion zu entscheiden, oder aber seine religiöse Überzeugung ins Private abdrängen. Der moderne, freiheitliche und demokratische Staat legitimiert sich nicht von Gott her, sondern allein von den Menschen, die in diesem Gemeinwesen miteinander verbunden sind, freilich ihrerseits in Verantwortung vor Gott stehen, wie die Präambel des Grundgesetzes formuliert. Daher fehlt es an einer Rechtfertigung dafür, dass der Staat eine Religion von sich aus zur verbindlichen Grundlage des Zusammenlebens erklärt.

Die religiöse Neutralität des Staates liegt im Interesse des Glaubens; und sie setzt eine klare institutionelle Scheidung von Staat und Religionsgemeinschaften voraus. Aber es wäre ein Missverständnis von staatlicher Religionsneutralität, daraus eine Gleichgültigkeit des Staates gegenüber dem Wirken der Religionsgemeinschaften abzuleiten. Vielmehr gibt es eine Pflicht des Staates, die Religion als Bestimmungskraft für das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger  wahrzunehmen und sie ohne falsche Parteinahme zu fördern. Mit dem Begriff der "fördernden Neutralität" hat das Bundesverfassungsgericht dies – wie ich meine – zutreffend charakterisiert.

„Fördernde Neutralität“ zeigt sich nach meiner Überzeugung auch im pfleglichen Umgang mit den Elementen der Sozialkultur, die sich aus der christlichen Prägung unserer Gesellschaft herleiten. Im Blick auf die Sonn- und Feiertage hat der Verfassungsgeber das ausdrücklich unterstrichen, indem er diese Tage als „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ unter den ausdrücklichen Schutz des Staates stellte. Dass dieser verfassungsrechtlich verbürgte Schutz ungeschmälert erhalten bleibt, ist eine Sorge der Kirchen, die wir aus aktuellem Anlass vor dem Bundesverfassungsgericht vorgebracht haben.

Die Religionsneutralität des Staates bedeutet nach deutschem Verfassungsrecht nicht, dass das Religiöse aus dem öffentlichen Bereich verbannt wird. Vielmehr erkennt der freiheitliche demokratische Staat die große Bedeutung der Religion im Prozess der Werte- und Überzeugungsbildung an. Er braucht bei aller Säkularität und religiösen Neutralität ein sozialethisches Fundament, das er selbst – gerade um der Freiheit willen – weder definieren noch garantieren kann. Er kann ihm nur Raum geben; aber er hat ihm auch Raum zu geben. Jede Gesellschaft verfügt nur dann über eine innere Stabilität, wenn sie eine Wertordnung hat, der gegenüber sich die einzelnen Bürgerinnen und Bürger verpflichtet wissen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist folglich auf den offenen Meinungsaustausch angewiesen. Dazu gehören auch die Stimmen der Kirchen.

Die von Sachzwängen geprägte Lebenswirklichkeit braucht Kräfte, die in Freiheit und Unabhängigkeit am gesellschaftlichen Willensbildungsprozess mitwirken und dabei den Sprachlosen eine Stimme verleihen. Wie Richard von Weizsäcker einmal formuliert hat, ist es nicht die Aufgabe der Kirchen, Politik zu machen, wohl aber Politik möglich zu machen. Gesellschaft und Staat sind darauf angewiesen, dass an dem Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen auch solche beteiligt sind, die nicht nur ihr Eigeninteresse vertreten, sondern sich mit bewusster Klarheit am gemeinsamen Besten orientieren.

Daher ist das Verhältnis des Staates zu den Kirchen nicht durch den Übergang zu einem laizistischen System oder durch die Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Leben angemessen zu gestalten. Vielmehr gibt die Verfassung den Kirchen und Religionsgemeinschaften den notwendigen Raum, in der Öffentlichkeit zu wirken. Die Grundmarkierungen der deutschen Verhältnisbestimmung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften enthalten die Erwartung in sich, dass die Kirchen sich aktiv in die Willensbildung der Gesellschaft einbringen, dass sie ihren Beitrag in Gesellschaft, Bildung, Medien, Wissenschaft, Kultur und Diakonie leisten.

3. Schließlich will ich hervorheben, dass unsere Verfassung nicht in einer ausschließenden Weise die christlichen Kirchen privilegiert, sondern ihrer grundsätzlichen Absicht nach alle religiösen Überzeugungen und alle Religionsgemeinschaften gleich behandelt. Das wird im System wie im Sprachgebrauch der Artikel 4 und 140 des Grundgesetzes unzweifelhaft deutlich. Unsere Verfassungsordnung ist offen dafür, dass auch andere Religionen von diesen Möglichkeiten der korporativen Religionsfreiheit Gebrauch machen. Sie können dabei auch den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen. Das gilt auch für den Islam. Doch ob sich eine Religion aus ihrem Selbstverständnis heraus korporativer Gestaltungsmöglichkeiten bedient, liegt in ihrer eigenen Verantwortung. Sie kann in diesem Prozess unterstützt werden; ihr die Verantwortung für die Wahrnehmung solcher Gestaltungsmöglichkeiten abzunehmen, wäre jedoch mit der vorausgesetzten Freiheit der Religion nicht vereinbar.

Von den damit eröffneten Möglichkeiten müssen die Religionsgemeinschaften, wenn sie am öffentlichen Raum partizipieren wollen, einen Gebrauch machen, der mit der Pluralität in der Gesellschaft vereinbar ist. Alleinvertretungsansprüche treten in eine innere Spannung zu der Freiheitsordnung, zu der die Kirchen aus guten eigenen Gründen beitragen und die sie weiter fördern möchten. Die offene Gesellschaft westlicher Prägung birgt eine Vielfalt von Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Religionen in sich, deren Beziehungen zueinander in einem Prozess gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Verständigung auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz gestaltet werden müssen. Nach der Auffassung der Kirchen entspricht es dem Kern des christlichen Glaubens selbst, die Menschenwürde, die Menschenrechte und damit die Religionsfreiheit auch Menschen anderen Glaubens zuzuerkennen. Deshalb respektieren die christlichen Kirchen das Existenzrecht anderer Religionen, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Toleranz meint dabei nicht: alles für richtig zu halten und jedem Recht zu geben. Religiöse Toleranz in einem ernsthaften Sinn meint das Aushalten und Austragen von Differenzen in Anerkennung der Verbindlichkeit von religiösen Überzeugungen. Eine freiheitliche Gesellschaft, in der religiöse Überzeugungen ernst genommen werden, braucht eine wache, selbstbewusste Toleranz, die den Dialog einfordert, um gemeinsam Antworten auf die für alle wichtigen Fragen zu suchen. Wechselseitiger Respekt und das Bekenntnis zur klaren Scheidung zwischen Religion und Gewalt bilden entscheidende Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft und für den Frieden zwischen Völkern, Kulturen und Religionen. Diese Voraussetzungen zu erhalten ist Aufgabe aller Religionen.

Dieser Gedanke wird in der wichtigen Zeugen-Jehovas-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2000 aufgenommen, wenn das Gericht jedenfalls die Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus auf den Schutz der Grundrechte Dritter und darauf verpflichtet, die Grundsätze des freiheitlichen Staatskirchenrechts, zu denen die Einhaltung von Toleranz gehört, nicht zu beeinträchtigen oder zu gefährden.

Die Verwirklichung der Religionsfreiheit als Menschenrecht weltweit ist heute eine unaufgebbare Forderung und ein Anliegen der beiden großen Kirchen in Deutschland. Die Bejahung der individuellen wie der kollektiven, der negativen wie der positiven Religionsfreiheit ist eines der entscheidenden Ergebnisse des geistesgeschichtlichen Prozesses, zu dem die Reformation ihren besonderen Beitrag geleistet hat. Diesen Beitrag und seine fortwirkende Bedeutung zu beleuchten, war heute meine Absicht.

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