Ökumene im 21. Jahrhundert
Bedingungen – theologische Grundlegungen – Perspektiven
1. Einleitung: Ökumene – was ist das?
Ökumene – für viele ist damit die Beziehung zwischen evangelischen Kirchen und der katholischen Kirche gemeint. Für andere die Partnerschaft mit Kirchen in Übersee. Das Engagement im Eine-Welt-Laden oder für »Brot für die Welt« – ist das auch Ökumene? Gehören Mission und Ökumene zusammen? Und was heißt das dann in der Beziehung zu Juden und Muslimen und im Dialog mit anderen Religionen?
Es stimmt: Der Begriff Ökumene umfasst verschiedene Dimensionen. Er ist umfassend und konkret zugleich. »Der ganze bewohnte Erdkreis« (Lk 2,1) – so die Bedeutung des griechischen Wortes oikoumene – ist der Raum, in dem der christliche Glaube, in dem Christen und Kirchen sich bewegen. Christen sind von Anfang an weltweit Geschwister. Was sie in ihrer Gemeinde, in ihrer Kirche erleben, ist immer nur »eine Provinz in der weltweiten Kirche Jesu Christi« (Ernst Lange). Ihr christliches Zeugnis und ihr Dienst in der Welt bekommen ihre eigene Farbe auch von dem, was andere Menschen in anderen Traditionen, Bekenntnissen, Kirchen, Kulturen und Kontexten sagen und tun. Die Beheimatung an einem konkreten Ort und gleichzeitig in der Einen Welt gehören zusammen. Christen werden in die eine Kirche Jesu Christi hinein getauft und stehen damit von vornherein in einer unauflöslichen Beziehung zu Christinnen und Christen und Kirchen in aller Welt. Ökumene ist damit nicht so sehr eine geografische, sondern vielmehr eine theologische Bestimmung. Die Kirchen haben nicht die Wahl, ob sie »auch« ökumenisch denken, reden und handeln, sie befinden sich bereits in diesem Zusammenhang. Damit werden sie in Beziehung gesetzt – zu allen Christen, ja sogar zu allen Menschen überall.
Ökumene hat deshalb viel mit der Gestaltung von Beziehungen zu tun. In theologischen Dialogen wird gefragt, wie sich Kirchen unterschiedlicher Prägung begegnen und verständigen können. In Partnerschaften treten Christen und Kirchen aus unterschiedlichen Kontexten in verbindliche Beziehungen ein. In der ökumenischen Bewegung suchen Christen nach neuen Ausdrucksformen des Glaubens und der Gemeinschaft und nach Antworten auf drängende Fragen unserer Zeit. In ökumenischen Institutionen und Organisationen wird das Miteinander von Kirchen in einen geordneten Rahmen gestellt und ihre Zusammenarbeit erleichtert. In Projekten und Netzwerken übernehmen Kirchen auch in Zusammenarbeit mit anderen Partnern Verantwortung. In Mission und Entwicklung kommen der eigene und der weltweite Kontext gleichermaßen in den Blick. In der Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen und/oder Religionen wird Verständigung erstrebt, »Konvivenz« eingeübt und nach Möglichkeiten des gemeinsamen Eintretens für Gerechtigkeit und Frieden gesucht.
Ökumene hat viele Dimensionen. Sie werden wie in einem Prisma gebündelt in der Überzeugung, dass jedes christliche Zeugnis und jeder Dienst immer partikular bleiben. Zum Christsein und zum Kirchesein brauchen die Kirchen die anderen Christen und Kirchen. Sie beten füreinander und stärken einander, sie ergänzen einander und korrigieren einander, sie streiten miteinander und singen miteinander, sie lassen einander teilhaben an ihrer Frömmigkeit und ihrem Engagement, sie wundern sich über die Kirchenstrukturen der anderen und ihre Armut oder ihren Reichtum, sie ermöglichen einander einen anderen Blick auf die je eigene Theologie und die je eigene Sicht der Welt, sie nehmen Anteil an Freude und Leid.
Im Dialog und im Zusammenleben mit Menschen aus anderen Traditionen, Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen gewinnt die Eine Welt Gestalt. Der eigene Glaube wird in Beziehung gesetzt zum Glauben anderer und erfährt gerade im Kontakt mit dem anderen, auch dem Fremden, seine Vergegenwärtigung. Nicht nur »im Hören auf die Schwestern und Brüder« im Glauben, sondern auch in der Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen liegt die Chance, sich seiner selbst zu vergewissern und sich zu verändern und so dem eigenen Glauben Ausdruck zu geben.
1.1.Ein Blick zurück
Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stark in Ökumene und ökumenische Beziehungen eingebracht und selbst von ihnen profitiert. Die Wiederaufnahme der evangelischen Christen in Deutschland in die Gemeinschaft der anderen Kirchen der ökumenischen »Familie« im Anschluss an die vor siebzig Jahren ausgesprochene Stuttgarter Schulderklärung war für die EKD und ihre Gliedkirchen ein großartiges Zeichen der Versöhnung und hat zudem ihren eigenen Neuanfang bestärkt. Dies war auch deshalb möglich, weil der Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus vielfach ökumenisch eingebettet war. In den Zeiten des Kalten Krieges halfen der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), die Kirchen und Kirchenbünde wie der Lutherische Weltbund (LWB) und der Reformierte Weltbund (RWB), in Deutschland Brücken zu bauen zwischen Ost und West. Sie trugen zum Aufbau und zur Stärkung des ÖRK und der KEK bei. Aus kleinen Anfängen entstand die Ökumenische Diakonie mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst und »Brot für die Welt« [2]. Im ökumenischen Kontext wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren Versöhnungsprozesse mit den Ländern und ihren Kirchen möglich, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus und dem von Deutschland ausgegangenen Zweiten Weltkrieg besonders gelitten hatten. Durch die »Ostdenkschrift« der EKD hat die politische Öffnung gegenüber den Ländern Osteuropas und die Versöhnung mit ihnen wesentliche Impulse aus der evangelischen Kirche erhalten. Ökumenische Beziehungen und die theologische Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen stellten den Missionsbegriff auf den Prüfstand und halfen zu einem neuen, partnerschaftlichen Verständnis von Mission, zum Beispiel unter dem Begriff der Missio Dei.
Die Leuenberger Konkordie (1973) und die sich daraus entwickelnde Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa ermöglichte die Überwindung kirchentrennender Differenzen unter den evangelischen Kirchen in Europa. Theologische Lehrgespräche sind nach wie vor wichtige Instrumente ihrer Arbeit. Zahlreiche Dialoge zwischen Kirchen und Kirchenfamilien wurden geführt, um einander theologisch besser zu verstehen und, wo möglich, ein gemeinsames Verständnis in wichtigen Fragen zu erreichen. Die Erklärungen von Meißen (1988) [3] und Porvoo (1995) [4], aber auch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999) [5] zeigen, dass solche Dialoge auch zu weitergehenden Vereinbarungen führen können.
Die Charta Oecumenica (2003) [6] wurde von orthodoxen, anglikanischen, römisch-katholischen, altkatholischen und protestantischen Kirchen in Europa unterzeichnet und nimmt dadurch eine Sonderstellung im Bereich ökumenischer Dokumente in Europa ein.
Die 1970er- und 1980er-Jahre waren Jahre des Aufbruchs in der Ökumene, die viel Engagement freisetzten und große Hoffnungen auf mehr verbindliche Gemeinschaft unter den christlichen Kirchen weckten: Damals entstanden viele Partnerschaften mit Kirchen in Europa und in Übersee. Außerdem wurden die Modelle der »holistic mission« [7] und der »Konvivenz« im Sinne des Zusammenlebens unterschiedlich geprägter Christen, Kirchen und Religionen entwickelt. Intensive theologische Gespräche und praktische Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche prägten die Jahrzehnte ebenso wie das Eintreten für die Rechte von Flüchtlingen und Asylbewerbern und die Suche nach Gemeinschaft mit »Gemeinden anderer Sprache und Herkunft«. Damals wuchs das Verständnis für das Leben in der Einen Welt und die damit verbundenen Themen einer gerechteren Weltwirtschaft und des Zusammenhangs von Lebensstilen hier und Lebenschancen dort. Ökumenische Konferenzen und Versammlungen gaben vielen Menschen überwältigende Erfahrungen in Dialog und Begegnung und riefen ein breites Echo in Kirche(n) und Öffentlichkeit hervor.
In der EKD und ihren Gliedkirchen entstanden Ökumenereferate und -abteilungen, Ökumenische Werkstätten und Zentren. Missionswerke definierten ihr Selbstverständnis neu und wurden zu Maklern und Kompetenzzentren für Partnerschaften und ökumenisches Lernen. Initiativen und Vereine innerhalb und außerhalb der Kirchen wurden zu treibenden Kräften in der Ökumenischen Bewegung und forderten die Kirchen(-leitungen) heraus, sich in ökumenischen und politischen Fragen stärker und deutlicher zu engagieren und zu äußern. Im »Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung« wurden politische Themen teilweise neu auf die Tagesordnung der Kirchen gesetzt. Auf ökumenischen Versammlungen, in Evangelischen Akademien und kirchlichen Instituten wurden lebhafte und oft kontroverse Debatten zum Beispiel über den Anti-Rassismus-Fonds des ÖRK oder Fragen von Rüstungsexporten, Atomwaffen und Friedensdiensten geführt. Mit ihrem Engagement für Gerechtigkeit und Frieden trugen Christen vor allem in der DDR, getragen vom »Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« und den ökumenischen Versammlungen in Dresden (1988) und Magdeburg (1989), erheblich zur Stärkung der demokratischen Kräfte in ihrem Land bei.
Bereits dieser kurze Rückblick veranschaulicht, wie sehr ökumenische Anliegen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kirchen bewegt haben. Gerade im Blick auf die gegenwärtige Lage in der Ökumene wäre es jedoch nicht angemessen, die Vergangenheit als ein »Goldenes Zeitalter der Ökumene« zu beschreiben. Fast alle beschriebenen Aufbrüche und Themen waren mit Konflikten verbunden. Um theologische Fragen wurde ebenso gerungen wie um Einfluss und Partizipation in ökumenischen Organisationen; um politische Erklärungen ebenso wie um das kirchliche Engagement in gesellschaftlichen Fragen. Die Bewertung der Apartheid-Politik in Südafrika und die damit verbundenen möglichen Konsequenzen, die finanzielle Unterstützung des Antirassismus-Fonds des ÖRK aus Kirchensteuermitteln, die Bedeutung der feministischen Theologie, die Debatten um den »Friedensdienst mit und/oder ohne Waffen«, die Auseinandersetzungen um den Umgang mit und die Rechte von Asylbewerbern und Flüchtlingen – diese und andere Themen wurden oftmals zu Zerreißproben im Kontext der EKD, des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR (BEK), ihrer Gliedkirchen und ihrer ökumenischen Beziehungen. Immer wieder kam es auch zu Enttäuschungen, Brüchen und bleibenden Differenzen.
Zugleich kann aus heutiger Sicht gesagt werden, dass die damaligen Auseinandersetzungen die Kirchen für demokratische Prozesse geöffnet, in ihrer Debattenkultur gestärkt und als intermediäre Instanz gesellschaftlich etabliert haben. Wenn es heute selbstverständlich erscheint, dass Kirchen(-vertreter/-innen) und Synoden sich zu aktuellen politischen Fragen äußern, geht dies z. B. auch auf die Auseinandersetzungen im »Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« zurück.
Die heute aufbrechenden Konflikte, die im Folgenden geschildert werden, zeigen, wie sehr Kirchen auf dem Hintergrund ihres je eigenen theologischen Verständnisses, aber auch ihres kulturellen und traditionellen Kontextes reden und handeln. Wenn die Frage nach überlieferten Werten oder nach dem Machtgefälle als zentrales Merkmal der eigenen kirchlichen Identität verstanden wird, werden dadurch Differenzen verstärkt, die möglicherweise auch zuvor bestanden, aber nicht als bedeutsam für die Beziehung zwischen Kirchen erschienen. Umgekehrt zeigen die aktuellen Entwicklungen auch, dass sich vermeintlich unveränderliche Selbstbilder von Kirchen durch intensive Begegnung und wachsende Nähe unter den Kirchen verändern können.
Die unterschiedlichen Akteure haben dazu beigetragen, dass theologische Verständigungsprozesse mit großer Dichte und Intensität stattfinden konnten. Viele Übereinstimmungen wurden erreicht, aber mit ihnen kamen auch offene und schwierige Fragen auf den Tisch. Differenzen etwa im Kirchenverständnis und bei Einheitsvorstellungen konnten nicht überwunden werden. Die Weiterarbeit an solchen Fragen ist nicht nur eine bleibende oder immer neue Herausforderung, sie ist auch notwendig angesichts des anhaltenden Schmerzes über ihre kirchentrennenden Auswirkungen.
1.2. Krise (in) der Ökumene?
Heute sprechen viele von der »Krise der Ökumene«, andere sehen eher Zeichen eines Umbruchs. Eine gewisse Unsicherheit ist entstanden, da aktuelle Entwicklungen einiges von dem wieder infrage zu stellen scheinen, was bereits als erreicht oder geklärt gelten konnte. Anhand von vier Bereichen sollen hier die gegenwärtigen Probleme und Herausforderungen beschrieben werden:
Grundlegende theologische Fragen im Hinblick auf die Ekklesiologie (das Kirchenverständnis), das Verständnis von Einheit und die daraus folgenden Modelle von Kirchenbeziehungen oder Kirchengemeinschaft konnten nicht geklärt werden. Daraus ergeben sich im besten Fall immer neue Suchbewegungen. Das Gespräch zwischen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa mit dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen kann dafür ebenso als Beispiel gelten wie die Meißener Erklärung zwischen den Evangelischen Kirchen in Deutschland und der Kirche von England. Daneben wird jedoch weiterhin darum gestritten, wie Kirchen aus unterschiedlichen konfessionellen Traditionen miteinander theologisch beraten und entscheiden können. Auch praktische Möglichkeiten, ökumenische Beziehungen zu gestalten, sind erneut strittig geworden wie zum Beispiel die gemeinsame Feier von Andachten und Gottesdiensten.
Zwischen Kirchen in »Nord« und »Süd«, im Verhältnis von großen und kleinen, Mehrheits- und Minderheitskirchen, in Partnerschaften, in Mission und Ökumenischer Diakonie stehen Fragen der Gerechtigkeit in diesen Beziehungen, aber auch im Hinblick auf Gerechtigkeit in den Weltwirtschaftsbeziehungen und globalen (Umwelt-) Entwicklungen auf der Tagesordnung und werden teils mit großer Heftigkeit und kontrovers diskutiert. Ein Beispiel dafür ist die Erklärung von Accra (2004), die von der 24. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes als »Glaubensverpflichtung« beschlossen wurde, als »Bekenntnis des Glaubens im Angesicht von wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung«. Einen neuen Impuls hat der Ökumenische Rat der Kirchen hier mit der bei der Vollversammlung in Busan/Korea ausgerufenen »Pilgrimage for Justice and Peace« gesetzt.
Mehrfach zwangen politische und gesellschaftliche Veränderungen dazu, ökumenische Gesprächsergebnisse, die im Rahmen eines bestimmten gesellschaftlichen und politischen Systems erarbeitet worden waren, angesichts neuer gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse kritisch zu überprüfen. Vor diese Herausforderung waren zum Beispiel die orthodoxen Kirchen Osteuropas gestellt. Seit dem Eintritt dieser Kirchen in den ÖRK 1961 hatte der Beitrag dieser Kirchen zum ökumenischen Dialog nicht ohne Rücksicht auf den Diskurs der herrschenden sozialistischen Ideologie erfolgen können. Die staatliche Seite hatte zudem durch Einschränkungen der Reisefreiheit und durch das Instrument der Zensur die Herausbildung einer kleinen Elite ökumenischer »Kader« in diesen Kirchen befördert. Daher war die ökumenische Bewegung in den Ländern Osteuropas sowohl durch die Zusammenarbeit zentraler Akteure mit den Geheimdiensten als auch durch die von der öffentlichen Meinung unterstellte Gleichsetzung des ökumenischen Gespräches mit dem staatlichen Sozialismus nach 1989 massiver Kritik ausgesetzt [8]. Einzelne Kirchen, wie etwa die Bulgarische Orthodoxe Kirche, stürzten infolge dieser Entwicklungen in eine innere Krise, die zur Kirchenspaltung und zum Rückzug aus den Gremien der weltweiten Ökumene führte.
In den vergangenen Jahren und bis heute gaben sozialethische Fragen, vor allem aber Fragen der Lebensführung Anlass zu Auseinandersetzungen, teilweise sogar zur Unterbrechung oder Aufkündigung jahrzehntelanger Partnerschaften bzw. Dialogen zwischen Kirchen (Beispiel: Presbyterian Church of Ghana – Evangelische Kirche in Hessen und Nassau [im Folgenden: EKHN], Mekane Yesus Church – Evangelical Lutheran Church of America [im Folgenden: ELCA], Russische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats [im Folgenden: ROK] und lutherische Kirchen Skandinaviens). Dabei steht häufig die Frage nach der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in Kirche und Gesellschaft im Mittelpunkt der Kontroversen. Diese finden innerhalb von Kirchen und Konfessionen ebenso statt wie zwischen Kirchen unterschiedlicher Konfessionsfamilien (zum Beispiel zwischen evangelischen Kirchen und auf der anderen Seite den römisch-katholischen und den orthodoxen Kirchen). Im Fall der osteuropäischen orthodoxen Kirchen stand nach dem Wegfall der ideologischen Repression 1989 eine den vielfach noch ungewissen politischen und sozialen Verhältnissen entsprechende Neuordnung ihrer Positionen v. a. im Bereich der Sozialethik an. Diese Veränderungen führten im Fall der ROK – auch in bewusster Abgrenzung zu sozialethischen Positionen der »westlichen« Kirchen – zur Formulierung eines Konzeptes unaufgebbarer moralischer »Werte« [9]. In der sozialethischen Diskussion der Ökumene konnten so auch überraschende neue Koalitionen entstehen, etwa zwischen Evangelikalen in Deutschland und der Evangelischen Kirche des Augsburger Bekenntnisses (im Folgenden: Evangelische Kirche A. B.) in Polen oder zwischen der ROK und evangelikalen Kirchen aus den Vereinigten Staaten.
Häufig sind in diesen Konstellationen gleichzeitig weitere Themen mit Konflikten verbunden: das Verständnis von Ehe und Familie, von Menschenrechten, der Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft, die Ordination von Frauen und deren Teilhabe an Leitungsaufgaben in der Kirche. Innerhalb Europas sind es vor allem Kirchen aus Mittel- und Osteuropa, die – teils unabhängig von ihrer Konfession – sich als konservativ und als Bewahrer der traditionellen Werte verstehen und sich damit scharf von den Kirchen im Westen und Norden (und auch von der Europäischen Union) abgrenzen, die nach ihrer Auffassung wichtige christliche Werte aufgegeben haben.
Im Zusammenhang mit der Krise in der Ökumene wird vielfach die mangelnde Rezeption ökumenischer Verständigung über den Kreis ökumenischer Experten und besonders Engagierter hinaus beklagt. Tatsächlich ist oft kein tieferes Verständnis für Ökumene und ökumenische Institutionen in Landeskirchen und Kirchengemeinden gewachsen. Auch darin mag ein Grund dafür liegen, warum die Verpflichtungen gegenüber ökumenischen Organisationen wie der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, der Konferenz Europäischer Kirchen und dem Ökumenischen Rat der Kirchen immer wieder hinterfragt werden. Diese Beobachtung gilt übrigens nicht nur für den deutschen, sondern auch für den internationalen Kontext. Hinzu kommt, dass die prominenten Persönlichkeiten, die die ökumenische Bewegung kraftvoll geprägt und öffentlich verkörpert haben, jetzt nicht mehr in der Verantwortung stehen. Gegenüber der Aufbruchsstimmung der 1960er-Jahre hat sich die ökumenische Mentalität in den beiden letzten Jahrzehnten gewandelt. Damit stellt sich die Frage, wie jede Generationen ihren eigenen Zugang zur Ökumene gewinnt. Die Pluralität von Lebensformen, die selbstverständlich gewordene globale Vernetzung und die schnellen Formen der Kommunikation prägen heute die Lebenswelt junger Menschen und verändern ökumenische Themenstellungen und Beteiligungsformen. Ein im Vergleich zu älteren Generationen gesunkenes Vertrauen in kirchliche Institutionen trägt dazu bei, dass sich die jüngere Generation weniger in den bestehenden ökumenischen Strukturen engagiert. Hier kommt es darauf an, dass Kirchen und Kirchengemeinden nach innen und außen vermitteln, dass Ökumene in ihren unterschiedlichen Facetten zum Kernbestand ihres Glaubens gehört. Für sie selbst sind damit beispielsweise Fragen neuer Beteiligungsformen ebenso wie der theologischen Aus- und Fortbildung, der Schwerpunktsetzung in ihrer täglichen Arbeit, der Unterstützung ökumenischer Strukturen und Organisationen verbunden.
Viele der hier genannten Themen haben gemeinsam, dass sie unmittelbar an den eigenen Glauben, die eigene Praxis, das eigene Kirchenverständnis rühren. Möglicherweise wird darin eine neue Phase ökumenischer Beziehungen sichtbar, in der Fragen des Kennen- und Verstehen-Lernens und der Aufbau ökumenischer Beziehungen und Partnerschaften vertieft oder abgelöst werden von solchen Fragen, die dem Selbstverständnis der Beteiligten sehr nahe rücken. Auch wenn der Umgang mit diesen Fragen oft schwierig ist und Konflikte mit sich bringt: Sie müssen ihren Platz bekommen, wenn Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit gewahrt werden sollen. In der Beziehung zwischen Kirchen des Nordens und des Südens, zwischen großen und kleinen Kirchen sind Fragen nach Machtgefälle und Teilhabe selbstverständlich präsent. Diskussionen um weltweite Gerechtigkeit entsprechen der Wahrnehmung der Welt als dem »ganzen bewohnten Erdkreis«. Fundamentale theologische Fragen können nicht ausgeklammert oder übersprungen werden, wenn die Partner einander ernst nehmen. Fragen der Lebensführung und der Rolle der Frauen in Kirche und Gesellschaft werden oft nur vordergründig theologisch oder biblisch diskutiert; es wird neue Zugänge und Formen der Bearbeitung brauchen, um offen zu legen, wie sehr Einstellungen hier auch kulturell-kontextuell geprägt werden.
Um diese notwendigen Dialoge zu führen und weitere gemeinsame Schritte zu tun, braucht es das Engagement vieler Menschen. Auch die Kirchen in Deutschland brauchen hier einen neuen Aufbruch. Die Stärkung des gemeinsamen christlichen Zeugnisses und Dienstes ist dabei ebenso wichtig wie das gemeinsame Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden angesichts des Klimawandels.
Ein großer Reichtum an Einsichten und Erfahrungen ist in ökumenischen Beziehungen entstanden und schon erreicht:
- das gemeinsame Lob Gottes in vielen Formen und Sprachen,
- geistliche Begegnung und theologische Grundsatzarbeit in bilateralen und multilateralen Dialogen,
- ökumenische Partnerschaften und die Pflege der Kirchengemeinschaft mit anderen Kirchen,
- die Erfahrung gegenseitiger Fürbitte und Solidarität,
- überraschende Erfahrungen der Nähe in der Begegnung mit Menschen aus anderen Kontexten und Kulturen,
- gemeinsame Dokumente und öffentliche Stellungnahmen, die Vertretung von Positionen der Kirchen gegenüber politischen Institutionen.
In alledem liegt auch die Erfahrung, dass in der Vielfalt die Einheit aufleuchten kann. Ökumene durchzieht das Christsein und das Kirchesein von Anfang an. Diese Einsicht muss sich im täglichen Leben von Christen und evangelischen Kirchen in Deutschland neu bewähren. Für den deutschen Kontext ebenso wie international wird Ökumene in ihren vielen Facetten mehr denn je gebraucht als ein alternatives Modell der Globalisierung, das von Glaube, Hoffnung und Liebe bestimmt ist.