Ökumene im 21. Jahrhundert
Bedingungen – theologische Grundlegungen – Perspektiven
5. »No Optional Extra!« – Ökumenisch Kirchesein im 21. Jahrhundert
»A united church is no optional extra […] Rather it is indispensable for the salvation of God’s world […] We can be prosperous only together. We can survive only together. We can be human only together.« Desmond Tutu in seiner Rede bei der IX. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Porto Allegre, 20. Februar 2006
Desmond Tutu zeichnet mit wenigen Strichen eine ökumenisch orientierte Kirche; er verbindet, was oft immer noch theoretisch und praktisch-strukturell getrennt wird: das Verständnis von der Einheit der Kirche und ihr Zeugnis und ihren Dienst im Alltag der Welt. Die klassischen Aufteilungen in Fragen von »Faith and Order«/Glaube und Kirchenverfassung und »Work and Life«/Praktischem Christentum sind miteinander verschränkt. Gleichzeitig stellt er die Kirche(n) in einen weltweiten Horizont: Für ihn ist christliches Leben nur als gemeinsames Leben denkbar. Nur so können Einzelne und die Gemeinschaft human leben und Wohlergehen und Überleben der Menschheit erreichen. In dieser universalen Gemeinschaft ist Platz für alle Menschen, auch für Angehörige anderer Religionen.
5.1. Ökumenisch Kirchesein in der Einen Welt
In der Einen Welt – der Welt Gottes – können wir nur gemeinsam »Mensch sein«. Ökumene fordert unter der Verheißung Gottes Kirchen und Christen auf, die globale Welt mit ihren Chancen und Möglichkeiten, mit ihren Spannungen, Bruchlinien und Trennungen wahrzunehmen und in Erwartung »eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach seiner Verheißung, in der Gerechtigkeit wohnt« (2Petr 3,13), zu verändern. Was global geschieht, wird in der lokalen Realität erfahren. Globalisierung und Lokalisierung bedingen sich gegenseitig, wie es der Begriff der »Glokalisierung« zeigt. Auch für die Kirchen haben sich neue Möglichkeiten nationaler und internationaler Kooperation eröffnet [68]. Damit alle Menschen das Heilshandeln Gottes an Leib und Seele erleben können, muss es auch für alle ein »Gutes Leben« geben. Daher setzen sich Kirchen ein für die Überwindung von Armut, stehen an der Seite der Marginalisierten durch Anwaltschaft (Advocacy) und machen politisch geltend, was zur Überwindung der internationalen Spannungen und Konflikte beitragen kann. Im deutschen Kontext haben die römisch-katholische und die evangelische Kirche dies 2014 durch ihre gemeinsame Wortmeldung der »Sozialinitiative« getan, in der die Fragen des sozialen Zusammenhalts und der Werte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit thematisiert wurden [69]. In ökumenischer Gemeinschaft beteiligen sich die Kirchen auch an der Diskussion um Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, die 2015 verabschiedet werden sollen. Sie stehen in konkreten Projekten und Aktionen der Armutsbekämpfung, der Flüchtlingsarbeit und der humanitären Hilfe sowie des Klimaschutzes für das ein, was sie politisch fordern.
Menschenrechte, Klimagerechtigkeit, weltweite Armut, Flucht und Migration, Kriege und religiös aufgeladene Konflikte fordern die ökumenische Arbeit heraus. Ökumenisches Handeln und Weltverantwortung gehören untrennbar zusammen. Kirchen stehen vor der Aufgabe, eine »verpflichtete Gemeinschaft« zu werden, die die Mitwelt als Gottes Schöpfung begreift, die auch kommenden Generationen Heimat und Zukunft werden soll. Dazu ist theologische Arbeit ebenso notwendig wie die Arbeit an politischen, ökonomischen und sozialen Problemen. Unterschiedlichste ökumenische Projekte und Initiativen wären hier zu nennen: Im Bereich des Zusammenlebens der Generationen macht dies, um nur ein Beispiel zu geben, die Initiative »Woche für das Leben« [70] der katholischen und der evangelischen Kirche deutlich. Die jeweiligen politischen, kulturellen und sozialen Kontexte beeinflussen theologische Ansätze und Perspektiven und führen immer wieder zu schwer zu überwindenden Differenzen zum Beispiel bei der Bewertung (welt-)wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, beim Verständnis der Menschenrechte oder der Akzeptanz unterschiedlicher Lebensformen. Wer nach tragfähigen ökumenischen Beziehungen und verbindlicher Kooperation sucht, muss verstehen lernen, was die Menschen ökonomisch, politisch, kulturell und sozial trennt. Die ökumenische Bewegung der Neuzeit war immer dann stark, wenn sie die damit verbundenen notwendigen Auseinandersetzungen geführt hat. Beispielhaft zeigen dies das Antirassismus-Programm, der Konziliare Prozess oder die Dekaden »Kirchen in Solidarität mit den Frauen« und zur Überwindung von Gewalt. Der Zusammenschluss zur »Action by Churches Together« (im Folgenden: ACT)-Allianz [71] in der humanitären Hilfe oder das sich abzeichnende Programm des »Pilgerwegs der Kirchen für Gerechtigkeit und Frieden« (Vollversammlung Busan 2013) sind aktuelle Beispiele für ökumenisches Handeln im Horizont von Gerechtigkeit und Frieden.
Ökumene als Gemeinschaft von Kirchen ist mehr als eine internationale Gemeinschaft. Sie ist getrieben von der Hoffnung ein größeres Ziel zu erreichen als immer nur den jeweiligen kleinsten gemeinsamen Nenner. Die gemeinsam vom Deutschen Evangelischen Kirchentag und dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken organisierten Ökumenischen Kirchentage (2003 in Berlin und 2010 in München) haben dies eindrücklich deutlich gemacht [72], ebenso die in den Prozessen im Ökumenischen Rat der Kirchen erarbeiteten wegweisenden Perspektiven: »Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein« (Amsterdam 1948), »Rassismus ist Sünde« (Uppsala 1968), der Konziliare Prozess für »Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung« (Vancouver 1983) oder die Suche nach globaler Klimagerechtigkeit (Porto Allegre 2006). Nach den grundlegenden Aussagen z. B. der Einheitsformel von Neu Delhi (1961) wird die Einheit als Gabe Gottes verstanden, die die Kirchen durch die Kraft des Heiligen Geistes aus ihrer Vielfalt auf den Weg hin zu einer »verpflichteten Gemeinschaft« führt.
Die Entscheidungen der ökumenischen Gremien gewinnen erst dann Kraft und Relevanz, wenn sich die Mitgliedskirchen diese zu eigen machen und in ihrem Bereich umsetzen. Oft besteht eine Spannung zwischen kraftvollen Beschlüssen und der mangelnden Rezeption und Umsetzung in den einzelnen Kirchen. Ebenso schmerzlich ist es, wenn Initiativen und Hilferufe einzelner Kirchen auf internationaler ökumenischer Ebene keine adäquate Resonanz finden. Hier sind auch die EKD und ihre Gliedkirchen gefordert, in ihren ökumenischen Beziehungen und in der Zusammenarbeit mit ökumenischen Organisationen/Institutionen Verbindlichkeit zu gewährleisten.
Die Ökumene in der Einen Welt wird mitgetragen von Werken und Einrichtungen im Raum der Kirchen, die nicht in kirchliche Strukturen und deren Hierarchien eingebunden sind. Sie leisten humanitäre Hilfe bei Katastrophen, Advocacy- und Lobbyarbeit für Menschenrechte, langfristige Entwicklungszusammenarbeit, Katastrophenprävention etc. [73]
Initiativen und Gruppen prägen seit Langem die ökumenische Bewegung. Immer wieder identifizieren sie ökumenische Anliegen und treiben sie voran. Oft können sie schärfer formulieren als die verfassten Kirchen und manchmal sogar eine prophetische Rolle wahrnehmen. Häufig haben ökumenisch engagierte Gruppen die Kirchen zum Reden und Handeln herausgefordert, gelegentlich auch provoziert. Wichtige Anliegen wie der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind auf diese Weise auf die Tagesordnung der Kirchen gesetzt worden. Gruppen und Initiativen nehmen eine wichtige Funktion an der Schnittstelle von Kirche und Gesellschaft wahr. Je mehr Kirchen, Werke, Einrichtungen und Gruppen einander wahrnehmen und unterstützen, desto stärker können sie im ökumenischen Reden und Handeln Kohärenz entwickeln, Kräfte bündeln und gesellschaftlich wirksam werden.
Partnerschaften zwischen Kirchen weltweit ermöglichen ökumenische Begegnungen und Erfahrungen. Viele Menschen haben so die universale Dimension der Kirche persönlich erlebt und erfahren, dass der Leib Christi unteilbar ist. Ökumenisches Lernen hat für viele Menschen ihren Glauben neu erschlossen und ihr Bild von Kirche verändert. Teilnahme und Teilhabe am Leben der Partner bei Besuchen, in Gottesdiensten, durch Fürbitte und gemeinsame Projekte haben verlässliche Beziehungen, oft auch Freundschaften entstehen lassen.
In Partnerschaften gilt ebenso wie in der Arbeit von Werken, Einrichtungen und Gruppen, dass der Dialog auf Augenhöhe immer neu eingeübt und weiter entwickelt werden muss. Dies gilt für das Verständnis von »Entwicklung«, »Mission« oder »Gerechtigkeit« ebenso wie für die Frage, wie Entscheidungen gemeinsam getroffen werden können.
Die unterschiedlichen kulturellen, theologischen und spirituellen Prägungen können in Partnerschaften als Bereicherung erfahren werden. Aber sie können bei strittigen Fragen auch zu einem Hindernis in der Kommunikation werden. Partnerschaften gilt es auch dann vertrauensvoll zu gestalten, wenn Krisen und strittige Themen zu bewältigen sind. Die eingangs beschriebenen Krisen haben insbesondere in Partnerschaften mit Kirchen in Afrika und Osteuropa zu Erschütterungen, teils auch zu Brüchen geführt. Für die evangelischen Kirchen in Deutschland gilt es, in solchen schwierigen Situationen den Kontakt zu halten und ihre eigenen (oft mühsam errungenen) Positionen und Überzeugungen immer neu ins Gespräch einzubringen. Zugleich ist der römisch-katholischen Kirche und der evangelischen Kirche mit dem Erbe der konfessionellen Streitigkeiten ebenfalls die Aufgabe gestellt, ein ökumenisches »Healing of Memories« anzustreben. Das Datum 2017 bietet dafür einen guten Anlass [74].
In der Einen Welt ist der Dialog mit anderen Religionen zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden. Klimawandel und Armutsbekämpfung, gerechte Teilhabe für alle, die Bekämpfung von Terrorismus und die Verwirklichung von Frieden und Menschenrechten sind Anliegen, die weltweit gemeinsame Anstrengungen brauchen. Dies ist durch die gegenwärtige Situation im Nahen Osten und die Spiegelung der dortigen Konfliktlagen bis in die deutsche Gesellschaft hinein besonders deutlich geworden. Daher ist der Dialog und die Zusammenarbeit mit anderen Religionen kein »Extra, das der eigenen Entscheidung überlassen wäre«/»No optional extra«. Mit großer Dringlichkeit spricht davon Desmond Tutu: »We can be prosperous only together. We can survive only together. We can be human only together.«
Im Sinne der interreligiösen Zusammenarbeit haben der ÖRK, der Päpstliche Rat für den interreligiösen Dialog und die Weltweite Evangelische Allianz einen »Verhaltenskodex« für das christliche Zeugnis in der multireligiösen Welt empfohlen, der aus den Prinzipien des Handelns Gottes in Liebe, der Christusnachahmung, der christlichen Tugenden sowie der Taten des Dienens und der Gerechtigkeit nicht allein die Ablehnung von Gewalt und die Religions- und Glaubensfreiheit ableitet, sondern darüber hinaus auch dem christlichen Ethos die Aufforderung zum Aufbau interreligiöser Beziehungen in Vertrauen und Respekt zuspricht [75].
5.2. Ökumene vor Ort
Die weltweite Ökumene spiegelt sich an den Orten evangelischen Lebens in Deutschland. Kirchengemeinden und kirchliche Gruppen, evangelische Kindertagesstätten und Krankenhäuser, Kirchenkreise und diakonische Einrichtungen stehen vor der Aufgabe, sich ins Verhältnis zu setzen zu möglichen ökumenischen Partnern und generell zu Menschen aus anderen Kulturen und Religionen. Das in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte Konzept der »Ökumenischen Heimatkunde« [76] ist nach wie vor aktuell, um wahrzunehmen, in welchem ökumenischen Kontext evangelisches Leben in Deutschland jeweils verortet ist.
In vielen evangelischen Kirchengemeinden, Gruppen und Einrichtungen wird die Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche seit Langem gepflegt und ist selbstverständlich geworden. Oft gibt es auch gute Beziehungen zu freikirchlichen und anderen Gemeinden, deren Kirchen zur Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen gehören. Es gibt viele Herausforderungen, vor denen alle christlichen Kirchen und ihre Gemeinden stehen. Angesichts von Säkularisierung und Traditionsabbruch stehen sie gemeinsam vor der Aufgabe, das Evangelium als lebensdeutende Kraft neu zu vermitteln. Fragen weltweiter Gerechtigkeit oder der Klimawandel fordern zum gemeinsamen Handeln heraus.
Viele Möglichkeiten ökumenischer Zusammenarbeit können noch weiter ausgebaut werden beispielsweise in Kindergarten und Schule, bei Bildungsveranstaltungen und sozialdiakonischen Projekten. Auch eine gegenseitige Teilhabe an der Ausbildung der Geistlichen könnte das Verständnis füreinander stärken, ebenso wie die ökumenische/interkonfessionelle/interkulturelle Bildung auch von Mitarbeitenden.
Zum christlichen Leben vor Ort gehören auch Migrantengemeinden. Sie leben mit den anderen Kirchen und Gemeinden in Deutschland und doch oft neben ihnen. Mit vielen von ihnen könnten die einheimischen evangelischen Kirchengemeinden sogar »gemeinsam evangelisch« sein [77] und damit erkennbar machen, dass das christliche Zeugnis viele Farben hat. Zum Beispiel können viel mehr haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende »anderer Sprache und Herkunft« in der EKD und ihren Gliedkirchen tätig sein. Evangelische Migrantengemeinden sollten mehr als gegenwärtig die Möglichkeit haben, zu Gemeinden der einheimischen evangelischen Kirchen zu werden; aber auch andere Gemeinde- und Kooperationsmodelle bieten die Chance eines vertieften Miteinanders. Die ökumenische Vision von Neu Delhi, dass »alle an jedem Ort, die in Jesus Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen«, zusammengehören, gilt es mit Leben zu erfüllen. Dazu gehört der theologische Dialog ebenso wie die praktischen Fragen des Lebens.
An »jedem Ort« leben aber nicht nur verschiedene christliche Gemeinden zusammen, sondern Menschen unterschiedlicher Religionen. Der ökumenische Dialog findet heute im Kontext multireligiöser Erfahrungen statt. Beide bedingen einander und stehen in einem Bezug, selbst wenn dieser nicht immer wahrgenommen wird. Auch wenn theologisch die Beziehung zu anderen christlichen Kirchen anders beschrieben werden muss als die zu anderen Religionen, gehört die Präsenz von Menschen und Gruppen anderer Religionen heute selbstverständlich zum ökumenischen Kontext. Der Dialog bietet Chancen der Vergewisserung und der Weiterentwicklung der eigenen religiösen Identität, aber auch die Chance zur Bezeugung des eigenen Glaubens. Religionsfreiheit, die Bedeutung der Menschenrechte als ethisch-politische Grundlage und der gegenseitige Respekt vor der Religion der anderen können Grundlagen gemeinsamen Handelns werden. Die Wechselwirkung zwischen globalen Entwicklungen und lokalen Erfahrungen zu verstehen und zum Wohl der Menschen zu entwickeln, ist nicht die exklusive, aber doch die spezielle Aufgabe der Christen in der Welt. Das »universale Wort spricht immer Dialekt« und trägt gerade so zum Blick über den eigenen Horizont hinaus bei. Daher enthält die Ökumene vor Ort immer auch Hoffnung für die ganze Welt.
Das Zusammenleben mit anderen Gemeinden und Kirchen, mit anderen Kulturen und Religionen setzt auch Konfliktbereitschaft und Klärungen innerhalb der evangelischen Kirchen voraus. Immer wieder ist es notwendig, dass evangelische Kirchen eigene theologische und ethische Einsichten in den Dialog mit anderen Konfessionen, Kulturen und Religionen einbringen. Im Gespräch mit Freikirchen oder orthodoxen Kirchen stehen oft Fragen nach den Grenzen der Vielfalt auf der Tagesordnung, und evangelische Kirchen werden gefragt, ob sie nicht liberalistische und relativistische Positionen vertreten und damit einem Verfall christlicher Werte Vorschub leisten. Sie sollten notwendige Auseinandersetzungen nicht scheuen, zum Beispiel mit Positionen, die Menschenrechte infrage stellen, fundamentalistisch argumentieren oder spiritistische Praktiken fördern. Gleichzeitig müssen sie jedoch selbst Rechenschaft darüber ablegen, wie sie das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung bestimmen.
Evangelische Kirchen sind aber auch gefragt, wie sie selbst mit der Präsenz von Menschen aus anderen Kirchen, Kulturen und Religionen umgehen. Mehr denn je werden die Kirchen (nicht nur die evangelischen) daran gemessen, ob sie mit ihrem Zeugnis zu einem friedlichen und respektvollen Zusammenleben in einer multikulturellen und zunehmend multireligiösen Gesellschaft beitragen. Die Öffnung für Mitarbeitende aus anderen Kulturen und Religionen erfordert eine Verständigung darüber, wie ein christliches Profil in einem veränderten Kontext gelebt werden kann. Möglicherweise hilft hier auch ein Blick auf die Praxis von Partnerkirchen, zum Beispiel in Indien, wo in den Schulen und diakonischen Einrichtungen Angehörige anderer Religionen selbstverständlich mitarbeiten.
Um sich in einem vielfältig ökumenisch, multikulturell und multireligiös geprägten Umfeld angemessen orientieren und Beziehungen verantwortlich gestalten zu können, müssen in Studium und Ausbildung für Pfarrerinnen und Pfarrer und kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (auch z. B. Erzieherinnen und Erzieher, Krankenpfleger und Krankenschwestern) entsprechende Inhalte und Praxisorientierungen vermittelt werden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Ebenso wichtig ist es, dass im Ausland abgeschlossene theologische Studiengänge unter bestimmten Voraussetzungen in Deutschland anerkannt werden, damit Geistliche aus anderen Ländern und Kulturen hier tätig werden können.
5.3. Folgerungen für die Ökumene-Arbeit der EKD und ihrer Gliedkirchen
Die Ökumene-Arbeit der EKD und ihrer Gliedkirchen ist in den vergangenen Jahren immer wieder unter Druck geraten. Kritische Fragen wurden gestellt: Brauchen wir die differenzierten Strukturen im Bereich Ökumene, Missionswerke, Ökumenischer Diakonie und weiteren kirchlichen Organisationen und Hilfswerken? Sind die Zuwendungen an Partnerkirchen oder für ökumenische Projekte gerechtfertigt? Leisten die ökumenischen Organisationen eine auch für die Kirchen in Deutschland wichtige Arbeit?
Die evangelischen Kirchen in Deutschland bringen für die ökumenische Zusammenarbeit wichtige Erfahrungen mit. Als Kirchen, die einem theologisch reflektierten, »aufgeklärten« Protestantismus zugerechnet werden, können sie einen Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit dem ideologischen Missbrauch von Religion(en) leisten. Diese gilt es zu nutzen und die Zusammenarbeit mit Kirchen und Religionsgemeinschaften zu suchen, die ihrerseits fundamentalistischen Tendenzen entgegenwirken wollen.
Die Ökumene-Arbeit der EKD und ihrer Gliedkirchen braucht Klärung (im Sinn von Strukturen und Programmatik) und Stärkung (im Sinn von personeller bzw. finanzieller Sicherung und Effektivität). Noch wird vielerorts die Ökumene als ein »Optional Extra« angesehen, schön zu haben, aber in Zeiten zurückgehender Einnahmen zumindest teilweise entbehrlich. Diese Einschätzung übersieht die theologischen und ekklesiologischen Orientierungen, die jede Kirche in ihrer eigenen Art den christlichen Glauben zu leben bedeutsam macht und sie gleichzeitig in der weltweiten Ökumene verortet. Ein Blick auf die veränderte »Landkarte« des Christentums (s. 2.2) und auf die Notwendigkeit der Kooperation mit anderen Religionen zeigt, dass die Erfahrungen und Kompetenzen der evangelischen Kirchen mehr denn je gefragt sind, wenn es um ökumenische Beziehungen, interkulturelles Lernen und den interkonfessionellen und interreligiösen Dialog geht.
Tatsächlich ist es notwendig, die ökumenische Arbeit mit anderen kirchlichen Handlungsfeldern wie Verkündigung, Seelsorge und gesellschaftlicher Verantwortung stärker zu vernetzen und inhaltliche Weichenstellungen an kirchenleitendes Handeln zurückzubinden. Ökumene ist mehr als Aufbau und Pflege von Beziehungen in Partnerschaften, in Dialogen oder im interreligiösen Gespräch – die Beziehung zu anderen Kirchen, Kulturen und Religionen ist ein sensibles, gelegentlich auch mit Konflikten behaftetes Arbeitsfeld. Jede einzelne Beziehung steht in einem größeren Zusammenhang, der mit reflektiert und gestaltet werden muss. Die evangelischen Kirchen in Deutschland können ihre Erfahrungen und Kompetenzen effektiver nutzen, wenn sie hier selbst Klärungen über die Ziele ihrer ökumenischen Arbeit herbeiführen. Denn vieles im ökumenischen Bereich geschieht nach wie vor unverbunden nebeneinander oder auch parallel. Die Mitgestaltung des interkonfessionellen, interkulturellen und interreligiösen Zusammenlebens in Deutschland und international braucht Expertise/ Professionalität, Strukturen der Kooperation und Programme. In diesem Bereich sind Akteure mit unterschiedlichen Mandaten auf dem gleichen Weg. Im Interesse aller Beteiligten müssen Mandate miteinander abgestimmt und gemeinsam Leitvorstellungen entwickelt werden [78].
Die EKD und ihre Gliedkirchen haben sich seit Jahrzehnten in besonderer Weise in ökumenischen Institutionen/Organisationen engagiert. Sie haben damit auch darauf geantwortet, dass ihnen nach der Herrschaft des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg von anderen Kirchen der Weg zurück in die ökumenische Gemeinschaft eröffnet wurde. Sie haben aber auch selbst von ökumenischen Beziehungen und der Mitwirkung in ökumenischen Organisationen profitiert. Lieder aus der Ökumene sind in Gottesdiensten und bei Kirchentagen präsent. Ökumenische Dialoge helfen, immer neu zu beschreiben und zu bezeugen, was es heißt, evangelisch zu sein. Gelebte Kirchengemeinschaft stärkt und ermutigt dazu, bei allen bleibenden Unterschieden gemeinsam als Geschwister zu reden und zu handeln. Gemeinsame Gebete und Gottesdienste machen die weltweite Kirche Jesu Christi erfahrbar. In der theologischen Reflexion und im praktischen kirchlichen Leben werden Rituale aus anderen Kirchen praktiziert. »Erinnerungskultur« wird als Wert für die eigenen Kirchen erkannt. Ökumenische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen öffnen den Blick für andere Formen der Frömmigkeit und des Kircheseins. Interkulturelle Begegnungen brechen eigene Gewohnheiten auf. Die Partnerschaft mit Minderheitskirchen lehrt Bescheidenheit und stellt die Frage nach ökumenischer Zusammenarbeit mit besonderem Nachdruck. Ökumenische Visitationen ermöglichen einen neuen Blick auf die eigene Gemeinde und Kirche. Befreiungstheologische Ansätze und sozialgeschichtliche Exegese gewinnen in ökumenischen Begegnungen und Gesprächen an Konkretion und fordern dazu heraus, das Evangelium auch auf den aktuellen sozioökonomischen Kontext hin zu deuten. Theologische Lehrgespräche und interkonfessionelle Gespräche schärfen das theologische Nachdenken und nötigen zur Re-Vision scheinbar gesicherter Überzeugungen und »Wahrheiten«. Ökumenische Diakonie und kirchliche Entwicklungszusammenarbeit setzen Zeichen der Solidarität und der Gerechtigkeit in der Einen Welt.
Die EKD und ihre Gliedkirchen brauchen ökumenische Beziehungen und auch Organisationen für ihr eigenes Kirchesein. Sie bringen dafür besonders günstige Voraussetzungen mit, aus denen auch eine besondere Verantwortung hergeleitet werden kann. Ihre Stellung als große und im Vergleich zu den meisten anderen Kirchen in Europa und weltweit nach wie vor finanziell gut ausgestattete Kirchen macht dies nicht immer einfach. Die EKD und ihre Gliedkirchen sollten ihre Rolle in der Ökumene gleichzeitig selbstbewusst und sensibel wahrnehmen. Sie sollten die ihnen wichtigen Anliegen zur Sprache bringen und sich aktiv an den Debatten über wichtige Programme und inhaltliche Weichenstellungen beteiligen.
Im Hinblick auf die anstehenden Herausforderungen ist es ratsam, dass EKD und Gliedkirchen die eigene ökumenische Expertise erhalten, ja sogar stärken, vorhandene Kräfte bündeln und vermehrt gemeinsam Ziele formulieren und umsetzen.
5.3.1 Ökumenische (Aus-)Bildung
Wird ernst genommen, welche Entwicklung in den vorausgehenden Abschnitten dargestellt worden ist, so stellt sich die Frage nach den Konsequenzen für die theologische Ausbildung. Der Deutsche Ökumenische Studienausschuss publizierte 2001 eine Analyse zum Stand der ökumenischen Ausbildung an Theologischen Fakultäten und Instituten in Deutschland [79]. Im Ergebnis der Untersuchung wurde deutlich, dass Vorstellungen der Kirchen zur ökumenischen Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern und Religionslehrerinnen und -lehrern nur zu einem Teil an den universitären Ausbildungsstätten umgesetzt wurden. Nicht zuletzt wird der Grund darin gesehen, dass christliche ökumenische Theologie »höchst selten unmittelbar Gegenstand der Prüfungen in der ersten theologischen Ausbildungsphase« sei. Das Lehrangebot zu Fragen der Ökumene sei »stark abhängig von den jeweiligen Interessen der Lehrenden«, sodass eine grundständige ökumenische Bildung sowohl für Pfarramts- als auch für Lehramtsstudierende nicht gewährleistet gesehen werden könne. Auch »Fragen der ökumenischen Praxis in Schulen und Gemeinden treten in den Hintergrund.« Man wird wohl sagen müssen, dass sich an dieser Situation bis heute kaum etwas geändert hat [80]. Oben in Kapitel 4 wurde dargelegt, dass eine spezifisch ökumenische Kompetenz nicht nur für die künftige Arbeit im Pfarramt notwendig ist, sondern auch dafür, die kirchliche Arbeit in den ökumenischen Gremien auch künftig qualifiziert weiterzuführen. Vor allem ist den Kirchen deshalb ans Herz zu legen, eine breite Kommunikation über die Themen des klassischen ökumenischen Dialogs und den Bereich der weltweiten Ökumene zu initiieren und für eine Neu-Reflexion christlicher Glaubensinhalte zu nutzen. Dafür ist eine verstärkte Aufmerksamkeit für die universitäre Ausbildung vonnöten, aber auch für Fort- und Weiterbildungen auf nicht-akademischer Ebene. Eine solche Aufmerksamkeit lässt sich zudem verbinden mit entsprechenden Bestrebungen des Ökumenischen Rates der Kirchen. Schließlich wären auch spezifische ökumenische Module und Kooperationen in der Ausbildung von Vikarinnen und Vikaren sowie von Referendarinnen und Referendaren zu entwickeln bzw. auszubauen. Zugleich muss die Aus- und Fortbildung über die klassische Konsensökumene hinaus auch interreligiöse und interkulturelle Kompetenz vermitteln.
Ergänzend zu den Fragen der unterschiedlichen Traditionen und Lehren der christlichen Kirchen ist auch der sozialethische Dialog zu Fragen der Normen und Werte sowohl im innerchristlichen Kontext als auch in interreligiösen Zusammenhängen zu führen.
5.3.2 Den Generationswechsel gestalten
Für die zukünftige ökumenische Arbeit in Deutschland geht es darum, den Generationswechsel in der Ökumene informiert, kreativ und nachhaltig zu gestalten. Die Kirchen und ökumenischen Netzwerke haben daher die Aufgabe, die Themen- und Fragestellungen der jungen Generation im ökumenischen Diskurs aufzugreifen. Dadurch kommen neue Themen in das ökumenische Gespräch – etwa die Bedeutung des interreligiösen Gesprächs für den ökumenischen Dialog oder die Frage nach (post-) konfessionellen Identitäten. Zugleich werden damit die Erfahrungen und Einsichten der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts – etwa das Ringen um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung innerhalb des konziliaren Prozesses der 1980er-Jahre – in die Sprache der Gegenwart übersetzt und mit gegenwärtigen Fragestellungen verknüpft.
Ökumenische Kompetenzen, die sich junge Erwachsene während ihres Freiwilligendienstes [81], ihres Studiums [82] oder ihrer postgraduierten Ausbildung [83] erarbeitet haben, werden allerdings vielfach noch nicht ausreichend mit der ökumenischen Arbeit der Kirchen in Deutschland verknüpft. Dies gilt auch für die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten ökumenischer Institutionen, wie etwa für das theologische Bildungsprogramm des ÖRK (Ecumenical Theological Education, im Folgenden: ETE) oder für die Einbindung und Begleitung junger Delegierter und Stewards vor und nach ökumenischen Konferenzen [84]. In Deutschland bieten die Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend (im Folgenden: aej), die Evangelischen Studierendengemeinden (im Folgenden: ESG) und insbesondere das nach der ÖRK-Vollversammlung 2006 gegründete ökumenische Netzwerk More Ecumenical Empowerment Together (im Folgenden: MEET) Ort, an denen junge Christinnen und Christen ihre ökumenischen Erfahrungen reflektieren können und daraus eigene Themen für den nationalen und internationalen ökumenischen Dialog formulieren [85]. Auch Bildungsangebote der Missionswerke, wie etwa das »Ecumenical Leadership Training« der VEM, sorgen dafür, dass ökumenische Erfahrungen reflektiert und multipliziert werden [86]. Auf europäischer Ebene erfüllt der »Ecumenical Youth Council of Europe« (EYCE) die Aufgabe der Vernetzung und Multiplikation [87]. Weltweit erstreckt sich das »Global Young Reformers Network« (GYRN) des LWB [88]. Doch das Potential der Rückbindung ökumenischer Erfahrungen in den deutschen ökumenischen Kontext ist damit noch nicht ausgeschöpft und muss ausgebaut werden [89].
5.3.3 Zur Arbeit in ökumenischen Organisationen auf nationaler und internationaler Ebene
Ein wichtiger Kooperationspartner der EKD, der Landeskirchen und der Gemeinden für die multilaterale ökumenische Begegnung und Zusammenarbeit in Deutschland ist die ACK. Als bundesweit organisiertes Gremium mit regionaler und lokaler Untergliederung kann die ACK das gegenseitige Verstehen ihrer Mitgliedskirchen fördern und Initiativen der europäischen und der weltweiten Ökumene im multilateralen ökumenischen Kontext vermitteln, wie dies etwa durch Veranstaltungen und Publikationen zur Charta Oecumenica geschehen ist [90]. Damit die ACK die multilaterale Ökumene im deutschen Kontext effektiv fördern kann, ist sie allerdings auf die Stärkung durch ihre Mitgliedskirchen angewiesen, die in der Vergangenheit vielfach nur halbherzig erfolgte. Nur mit dieser Unterstützung und wenn sie sich auf wenige Kernbereiche konzentriert, wird die ACK z. B. auch einen Beitrag zur Transmission der Beschlüsse von Busan im oder zum gemeinsamen ökumenischen Einsatz für verfolgte und bedrängte Christen leisten können.
Die GEKE hat sich seit 1973 konsequent weiterentwickelt. Die Gestaltung und Vertiefung der Kirchengemeinschaft, die theologische Arbeit in Lehrgesprächen und Studien, die Verständigung in ethischen Fragen, die Bearbeitung wichtiger Themen in Konsultationen und Regionalgruppen und die gemeinsame Verortung in Europa sind auch für die evangelischen Kirchen in Deutschland weiterhin wichtig. Auch wenn sie finanziell und personell bereits viel Verantwortung übernommen haben, sollten sie weiterhin dazu beitragen und dafür eintreten, dass die GEKE ihre anspruchsvolle Arbeit mit einer professionellen und gesicherten Infrastruktur tun kann.
Die KEK hat seit ihrer Gründung 1959 eine wichtige Rolle beim »Brückenbau« in Europa gespielt, insbesondere in der Zeit des Kalten Krieges. Sie bietet einen Rahmen für Begegnung und Zusammenarbeit von evangelischen (einschließlich der vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder und der Freikirchen), anglikanischen und orthodoxen Kirchen. Noch ist nicht ganz erkennbar, wohin der Weg der KEK führen wird. Mit dem Rückzug der ROK 2008 hat eine große und in der Vergangenheit auch wichtige Mitgliedskirche die KEK verlassen. Finanzielle Einbrüche haben die KEK – ihre Personaldecke, ihre Projekte und Programme – stark geschwächt. Der bei der Vollversammlung in Budapest 2013 beschlossene »Revision Process« dauert noch an. Auseinandersetzungen gab es immer wieder um die inhaltliche Profilierung der KEK. Notwendig ist also zum einen die strukturelle und dabei auch zum anderen finanzielle Konsolidierung der KEK. Diese aber wird nur dann Kraft entfalten können, wenn das Vertrauen und das Engagement vieler Mitgliedskirchen zurückgewonnen wird. Damit steht die KEK vor einer sehr schwierigen Aufgabe: Gleichzeitig die Reorganisation zu bewältigen und programmatisch deutlich zu machen, wofür sie steht und inwiefern ihre Arbeit für die Mitgliedskirchen wichtig ist. So ist gegenwärtig etwa die Frage nach Verständigung und Zusammenarbeit unter den Kirchen Europas auch und gerade über die Grenzen der EU hinaus eine unbedingt wieder anzugehende Aufgabe. Wenn es der KEK gelingt, ihr inhaltliches Profil derart zu schärfen, wird die sie in den Augen aller Mitgliedskirchen eine Zukunft haben.
Als (Welt-)»Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und damit gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind zur Ehre Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes« ist der ÖRK auch ein kompetenter Gesprächspartner der Vereinten Nationen in Fragen von Religionsfreiheit und Menschenrechten, christlichem Friedenszeugnis und religiös motivierter Gewalt sowie interreligiösem Dialog und Fundamentalismus. Für die Vereinten Nationen und weitere säkulare Organisationen kann der ÖRK ein mit Kirchen, anderen Religionen und Nichtregierungsorganisationen gut vernetzter Partner sein, der zugleich über seine Mitgliedskirchen schnellen Kontakt auch in entlegene ländliche Kirchengemeinden fast überall auf der Welt herstellt. Wie die nachhaltige und schnelle Kommunikation zwischen Vereinten Nationen, ÖRK und Gemeinden vor Ort funktionieren kann, hat die Bekämpfung der Ebola im Jahr 2014 eindrücklich gezeigt. Wohl keine andere globale Organisation verfügt über ein vergleichbares globales Netzwerk.
Die großen innerkirchlichen und politischen Erwartungen an den ÖRK stehen allerdings in einem Spannungsverhältnis zu der derzeitigen strukturellen Schwäche der Organisation. Es ist eine große Aufgabe, mit einem verkleinerten Stab die finanzielle und konzeptionelle Konsolidierung voranzutreiben und zugleich den gewachsenen Erwartungen gerecht zu werden. Dennoch hat die Vollversammlung in Busan 2013 mit der Verabredung zur »Pilgrimage of Justice and peace« viele Gemeinden, Landeskirchen und Netzwerke in Bewegung gesetzt und ökumenische Projekte entstehen lassen, in denen sich Kirchenmitglieder zusammen mit weiteren Akteuren der Zivilgesellschaft engagieren.
Als eine Antwort auf den Aufruf des Weltrates der Kirchen sei hier exemplarisch der Pilgerweg für Klimagerechtigkeit genannt, zu dem ein breites ökumenisches Bündnis aus evangelischen Landeskirchen, katholischen Diözesen, christlichen Entwicklungsdiensten, Missionswerken, Jugendwerken, Ordensleuten und anderen Verbänden eingeladen hat, um im Herbst 2015 von Flensburg zur Weltklimakonferenz nach Paris zu pilgern. 91
Unternehmungen wie der »Pilgrimage« liegt eine Ekklesiologie zugrunde, die sich an der Partizipation der Kirche(n) an der Missio Dei orientiert.
5.3.4 Fazit
Die hier angesprochenen Themen und Herausforderungen lassen erkennen, dass die Weggemeinschaft von Kirchen große Chancen bietet, den eigenen Glauben in ökumenischer Weite zu leben und zu bezeugen. Auf diesem Weg, der auch als »Pilgerschaft« beschrieben werden kann, liegen verheißungsvolle Begegnungen, überraschende Erfahrungen von Gemeinschaft, die geteilte Freude am Evangelium Jesu Christi. Doch alle, die sich auf diesen Weg begeben, begegnen auch den für sie noch offenen Fragen, ungelösten Konflikten und der Infragestellung eigener Überzeugungen und Positionen. Dies macht ökumenische Weggemeinschaft auch anstrengend. In der Begegnung mit anderen Kirchen, Konfessionen und Religionen kann sich der eigene Horizont weiten und die eigene religiöse Identität gestärkt werden. Gleichzeitig werden in der Nähe zu den Anderen Themen angerührt, die im eigenen Kontext als heikel angesehen werden. Dazu gehören zur Zeit die Frage nach der interkulturellen Öffnung von kirchlichen und diakonischen Arbeitsverhältnissen, die Frage, wie Geistlichen »anderer Sprache und Herkunft« der Weg ins Pfarramt ermöglicht werden kann, aber auch die Frage, wie (mehr) Gerechtigkeit in der Einen Welt verwirklicht werden kann. Ökumenische Weggemeinschaft hat Konsequenzen für die eigene Kirche und für ihre Art und Weise, den christlichen Glauben zu leben und zu bezeugen. Doch sie bietet auch die Erfahrung, dass es bei allen Unterschieden und manchmal auch Differenzen möglich werden kann, gemeinsam Kirche zu sein. »Kirche sind wir nur gemeinsam!« In diesen Worten klingt die Verheißung an, dass Christinnen und Christen in ihren partikularen Kirchentümern an die eine universale Kirche Jesu Christi nicht nur glauben, sondern sie in der lokalen und der weltweiten Ökumene auch erleben.