Das rechte Wort zur rechten Zeit
Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 2008, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05906-8
2. Wer spricht für die Kirche?
- Christen übernehmen persönliche Verantwortung, indem sie sich zu Wort melden und ihrem Glauben in Auseinandersetzung mit Fragen der Zeit Ausdruck verleihen. Nach biblischem Zeugnis und evangelischer Überzeugung sind sie dazu berechtigt und gefordert.
- Zu unterscheiden davon, wenngleich darauf zu beziehen, sind Äußerungen der Kirche als Institution. Sie sucht mit solchen Äußerungen den Auftrag wahrzunehmen, den Christus seiner Kirche gegeben hat. Diese Äußerungen sind nicht allein durch die persönliche Verantwortung Einzelner, sondern auch durch eine institutionalisierte Verantwortung legitimiert und wenn als unzutreffend erkannt auch korrigierbar.
- Auch wenn das Reden der evangelischen Kirche in der Öffentlichkeit vornehmlich durch ihre Amtsträger und Organe geschieht, hat doch jedes einzelne Kirchenmitglied Teil an der Verkündigung und damit am Öffentlichkeitsauftrag der Kirche. Neben kirchlich autorisierten Texten haben Äußerungen einzelner Christenmenschen als Ausdruck der "freien Geistesmacht" (Friedrich Schleiermacher) [13] eine unverzichtbare Bedeutung. Sie können auch dazu führen, dass die Kirche als Institution solche Anregungen aufnimmt und sich nach einem längeren Prozess der Konsultation zu dem entsprechenden Themenkomplex äußert. Man kann dabei etwa an die Debatten um die Nutzung von Kernenergie denken.
- Inwiefern kirchliche Verlautbarungen zum öffentlichen Leben bindende Wirkung haben, ist im Blick auf ihre innere Richtigkeit gewissenhaft zu prüfen. Diese Richtigkeit bemisst sich nach der Erfüllung des Verkündigungs- und Sendungsauftrages der Kirche Jesu Christi und nach der Schrift- und Sachgemäßheit der Verlautbarungen. Die bindende Wirkung solcher kirchlichen Verlautbarungen ist dementsprechend nicht einklagbar. Sie hat im Unterschied zu kirchlichen Gesetzen und Ordnungen keinen (kirchen-)rechtlichen, sondern geistlichen Charakter, indem sie die Gewissen bindet.
- Die evangelische Kirche äußert sich durch ihre Repräsentanten und Repräsentantinnen zu Fragen des öffentlichen Lebens in der Form der Predigt, in Kanzelabkündigungen und synodalen Kundgebungen, in Worten, Stellungnahmen, Erklärungen und Denkschriften, in Interviews und Pressemitteilungen, auf Kirchentagen und Akademien, in Talkshows und in Gesprächskreisen. Dies geschieht unter den Bedingungen der Partizipation von Kirchenmitgliedern an der jeweiligen Diskussion, die kennzeichnend für die evangelische Kirche ist; nicht selten auch in ökumenischer Gemeinsamkeit.
Schon aufgrund ihrer jeweiligen besonderen Form kann kirchlichen Verlautbarungen dabei unterschiedliches Gewicht zukommen. So lassen sich, ohne eine Hierarchie dieser Formen vorgeben zu wollen, exemplarisch folgende Unterscheidungen treffen:
- Bekenntnisse oder bekenntnisähnliche Texte werden formuliert in Situationen, in denen es um die Identität der Kirche geht. In vielen Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland steht das Augsburger Bekenntnis von 1530 in Geltung; für andere Kirchen ist der Heidelberger Katechismus von 1563 grundlegend. Diese und weitere Bekenntnis-Texte aus den Anfangszeiten der evangelischen Kirchen sind auch heute noch von großer Bedeutung für ihr Selbstverständnis. Im 20. Jahrhundert haben die theologische Erklärung der Barmer Bekenntnissynode von 1934 sowie die Leuenberger Konkordie von 1973 einen normativen Status erlangt auch wenn sie nicht Bekenntnisrang beanspruchen. Ein Bekenntnistext eigener Art, der hier wegen seiner historischen Bedeutung erwähnt werden soll, ist das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945. In ihm sind nicht Glaubenslehren formuliert, sondern es wird öffentlich Schuld bekannt und die Bitte um einen Neuanfang aus dem Geist Gottes ausgesprochen.
- Kundgebungen sind solche Äußerungen von Synoden, deren Inhalt von besonderer und grundsätzlicher Bedeutung ist, die politisches oder kirchenpolitisches Gewicht besitzen und die über den Rahmen eines Beschlusses oder einer Einzelentscheidung hinausgehen. Sie sollten auch künftig Äußerungen von starker Aussagekraft vorbehalten bleiben. [14]
- Denkschriften sollen in besonderer Weise Denkanstöße geben, eine Fragestellung von großer öffentlicher Bedeutung in grundlegender Weise erörtern und Argumente für die Diskussion liefern. Dabei soll die evangelische Kirche so klar wie möglich Position beziehen. Sie wird auch dadurch als "Kirche des Wortes" öffentlich erkennbar. Nicht immer muss ein Text bereits ursprünglich unter dem Titel "Denkschrift" vom Rat der EKD verabschiedet worden sein, um den Rang einer Denkschrift erhalten zu können. [15]
- Impulspapiere wollen Anstöße und Anregungen für die öffentliche und kirchliche Diskussion geben, ohne Diskussionsergebnisse vorwegzunehmen oder zu präjudizieren. Ein Impulspapier stellt etwa der Text "Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage" [16] dar, mit dem ein ausführlicher, über Jahre sich erstreckender Konsultationsprozess des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz eingeleitet wurde. Ein anderes Ziel hatte das im Jahr 2006 veröffentlichte Impulspapier des Rates der EKD "Kirche der Freiheit: Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert"; es wollte einen Reformprozess innerhalb der EKD und ihrer Gliedkirchen auf den Weg bringen.
- Orientierungshilfen beziehen sich in der Regel auf eine eng umgrenzte, aktuelle und umstrittene Thematik, für die in Kirche und Gesellschaft nach überzeugenden Argumenten gefragt wird, die eine Anleitung und Hilfe zu einer persönlich verantworteten Entscheidung darstellen können. Orientierungshilfen zielen häufig auf eine umfassende oder begrenzte Handlungsempfehlung im persönlichen oder im gesellschaftlichen Bereich.
- Argumentationshilfen zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine einheitliche, in jeder Hinsicht konsensuale Darstellung eines Sachverhaltes oder eines Problemfelds geben wollen, sondern dafür offen sind, die Dissonanz unterschiedlicher Argumentationslinien darzulegen und einander gegenüberzustellen (z. B. "Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen") [17].
- Gemeinsame ökumenische Texte dienen dazu, unter der biblischen Voraussetzung "ein Herr, ein Glaube, eine Taufe" (Epheser 4,5) als Christen unterschiedlicher Konfessionen miteinander Verantwortung für Mensch und Gesellschaft zu übernehmen. Zu erinnern ist etwa an das Gemeinsame Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" aus dem Jahr 1997 oder an das Gemeinsame Wort zur Zukunft des demokratischen Gemeinwesens "Demokratie braucht Tugenden" aus dem Jahre 2006. [18]
- Das kirchliche Recht bestimmt, wer für die Kirche spricht und sprechen darf. Dadurch wird die Kirche in der Öffentlichkeit sichtbar und klar nach innen und außen identifizierbar. Die kirchlichen Amtsträger und Organe müssen mit ihren Äußerungen die Kontinuität kirchlicher Äußerungen wahren. Trotz aller Vielfalt der Äußerungsformen, Inhalte und Argumentationstypen bleibt dabei die grundsätzliche Kohärenz solcher Äußerungen ein unaufgebbares Desiderat und die Wahrung dieser Kohärenz eine wichtige Aufgabe. Sie kann nur gelöst werden, wenn es gelingt, die einzelnen Veröffentlichungen der EKD widerspruchsfrei zu einer vielgestaltigen Einheit zu verbinden. Solche Kohärenz schließt die Möglichkeit von Lernprozessen aber nicht aus, sondern ein, da die evangelische Kirche sich in allen ihren Teilen als nicht unfehlbar, sondern vielmehr als irrtums-, aber auch lernfähig betrachtet. Wo die evangelische Kirche früher bezogene Positionen aufgrund neuer Einsichten korrigiert, sollte das auch offen so benannt werden. Die anzustrebende Kohärenz muss auch deshalb als eine "offene Kohärenz" gedacht werden: Sie gestattet und erfordert innovative Denkprozesse, die experimentellen Charakter haben können. [19]