Das rechte Wort zur rechten Zeit
Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 2008, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05906-8
Vorwort
Kirchliches Handeln geschieht grundsätzlich in der Öffentlichkeit. Es folgt dem Öffentlichkeitsauftrag Jesu an seine Jünger: "Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen" (Matthäus 10,7). Und dem korrespondiert das Sendungswort des auferstandenen Christus: "Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Matthäus 28,18-20).
Aber im Rahmen des Öffentlichkeitsauftrags, der mit dem Verkündigungsauftrag der Kirche selbst gegeben ist, besteht eine besondere Aufgabe darin, in die Öffentlichkeit hinein zu Grundfragen des politischen und gesellschaftlichen Lebens Stellung zu nehmen. Diese Aufgabe ist der evangelischen Kirche durch die geschichtlichen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts nachdrücklich bewusst geworden. Die vielfältigen Formen, in denen das in den zurückliegenden Jahrzehnten geschah, waren stets von grundsätzlichen Überlegungen zu den Kriterien, der Verbindlichkeit und der Reichweite solcher Äußerungen begleitet.
"Schweigen hat seine Zeit, Reden hat seine Zeit" - so heißt es in der biblischen Weisheit (Prediger 3,7). Aber wann ist Reden und wann ist Schweigen geboten? Und wie sollte die Kirche sich äußern, wenn sie nicht nur auftrags- und sachgemäß reden möchte, sondern auch öffentlich Gehör finden will? Solche Fragen stellten sich verstärkt, seit die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 1962 mit der Denkschrift "Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung" Denkschriften zu einer regelmäßigen Grundform ihrer Äußerungen gemacht und in diesem Sinn das "Denkschriften-Zeitalter" eingeleitet hat. Bald darauf wurde die Frage nach dem Sinn und dem Status solcher Denkschriften in einem größeren Zusammenhang grundsätzlich erörtert. Im Jahr 1970 erschien eine von der Kammer für soziale Ordnung der EKD unter der Leitung ihres damaligen Vorsitzenden, Akademiedirektor D. Dr. Eberhard Müller (Bad Boll), vorbereitete Denkschrift mit dem Titel: "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen". Auch wenn dieser Text unterschiedliche kirchliche Äußerungsformen im Blick hatte, widersprach es durchaus nicht seiner Intention, wenn die Veröffentlichung bald als "Denkschriften-Denkschrift" bezeichnet wurde.
Mehr als eine Generation später bat der Rat der EKD im Jahr 2004 die Kammer für Öffentliche Verantwortung, "grundsätzliche Überlegungen zur Frage des Umfangs, der Grenze und der Art und Weise der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung durch die evangelische Kirche" anzustellen. Die Anknüpfung an die Denkschrift von 1970 war unverkennbar. So war es kein Wunder, dass alsbald das Stichwort von einer neuen "Denkschriften-Denkschrift" die Runde machte. Die Kammer für Öffentliche Verantwortung richtete eine Arbeitsgruppe zu dieser Thematik ein, der unter der Leitung von Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler Prof. Dr. Wilfried Härle, Klaus Jancovius, Rezzo Schlauch, Prof. Dr. Gerhard Robbers und als Geschäftsführer Dr. Eberhard Pausch angehörten. Die Kammer konnte den Textentwurf im Frühjahr 2008 einstimmig verabschieden. Der Rat der EKD nahm den vorgelegten Text mit großer Zustimmung auf. Der Dank des Rates gilt allen Kammermitgliedern, insbesondere denjenigen, die an der Erarbeitung dieses Textes unmittelbar beteiligt waren.
Auf einige wichtige Leitlinien der vorgelegten Überlegungen will ich besonders aufmerksam machen:
- Bei aller Kontinuität der grundsätzlichen Orientierung sind die einschneidenden Veränderungen zu berücksichtigen, die sich in den letzten Jahrzehnten im Blick auf die medialen und kommunikativen Rahmenbedingungen für kirchliches Wirken und Reden vollzogen haben. Dem gilt deshalb die besondere Aufmerksamkeit dieses Textes.
- Bereits der Titel "Das rechte Wort zur rechten Zeit" macht deutlich, dass nicht nur der Inhalt des kirchlichen Redens thematisiert werden muss, sondern ebenso auch seine Zeit- und Situationsgemäßheit. Es muss somit Kriterien geben für die Bestimmung des passenden Zeitpunkts und der passenden inhaltlichen Zuspitzung des kirchlichen Redens; das ist notwendig, um Beliebigkeit und Undeutlichkeit zu vermeiden.
- Eine Typologie von Verlautbarungen der evangelischen Kirche, wie sie in diesem Text vorgelegt wird, bildet natürlich keine kirchenrechtliche oder lehramtliche Definition von Äußerungsformen oder einer zwischen ihnen bestehenden Hierarchie. Aber sie hilft bei einer Verständigung darüber, welche Erwartungen man an bestimmte Äußerungsformen herantragen kann und welchen Erwartungen diese genügen sollen. Auch dies dient der klaren Erkennbarkeit sowie der Unterscheidbarkeit solcher Äußerungen.
- Die Evangelische Kirche in Deutschland strebt eine möglichst weitgehende Kohärenz kirchlicher Äußerungen an. Äußerungen zu neuen Fragestellungen werden zu bisherigen Äußerungen ins Verhältnis gesetzt, aus ihnen entwickelt und an ihnen überprüft. Am Beginn der Erarbeitung einer Thematik sollte deshalb ausgewertet werden, was hierzu bereits früher seitens der EKD oder eines ihrer Gremien gesagt wurde. Kohärenz und Kontinuität kirchlicher Äußerungen schließen die Möglichkeit von Lernprozessen aber nicht aus, da die evangelische Kirche in all ihren Teilen um ihre Irrtumsfähigkeit weiß und sich deshalb um Lernfähigkeit bemüht.
- Besondere Beachtung verdient der Vorschlag, künftig so klar wie möglich zwischen der seelsorglich-pastoralen und der sozialethisch-politischen Dimension kirchlicher Äußerungen zu unterscheiden.
- Kirchliche Äußerungen ergreifen, wenn das nötig ist, Partei. Es ist besonders wichtig, ausdrücklich zu reflektieren, welche Folgerungen im Falle einer solchen Parteinahme für politische Maßnahmen, gesellschaftliche Prioritätensetzungen und auch für das eigene Handeln der Kirche zu ziehen sind.
- Die evangelische Kirche äußert sich unter den gesellschaftlichen Bedingungen des Pluralismus, der von einer bloßen Pluralität zu unterscheiden ist. Denn in ihm geht es nicht nur um die Hinnahme, sondern um die bewusste Wahrnehmung und Gestaltung von Pluralität; unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen liegt hierin eine Bedingung der Freiheit. Es gehört deshalb zum Selbstverständnis der evangelischen Kirche, dass sie sich inmitten des gesellschaftlichen Pluralismus auch selbst als pluralismusfähig erweist.
- Die evangelische Kirche analysiert nicht nur die Kommunikationsbedingungen, unter denen sie existiert; sondern sie hat die Aufgabe, sich unter den Bedingungen der modernen Mediengesellschaft öffentlichkeitswirksam zu artikulieren. Sie bedarf zur erfolgreichen Kommunikation ihrer Denkschriften wie ihrer sonstigen Äußerungen einer nachhaltigen Kommunikationsstrategie.
Der Rat der EKD erhofft auf der Grundlage der vorliegenden Denkschrift anregende und weiterführende Diskussionen. Sie können zur Klärung der Frage beitragen, worin in der Gegenwart für die evangelische Kirche und für die Gesellschaft "das rechte Wort zur rechten Zeit" besteht. Die Evangelische Kirche in Deutschland stellt sich und die Botschaft des Evangeliums, die sie zu bezeugen hat, mitten hinein in die durch Pluralität und Pluralismus gekennzeichnete Welt der Gegenwart. Sie tut dies im Vertrauen darauf, dass Gott dieser Welt seinen Segen verheißen hat.
Hannover/Berlin, im Juli 2008
Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)