Friedensethik in der Bewährung

Friedensethik in der Bewährung

Eine Zwischenbilanz

zu:
Schritte auf dem Weg des Friedens.
Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik.
Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Inhalt

Vorbemerkung

  1. Veränderungen in der friedenspolitischen Lage und der friedensethischen Diskussion
  2. Unterstreichungen und Verdeutlichungen
    1. Gerechter Friede als Leitbegriff christlicher Friedensethik
    2. Der Vorrang nicht-militärischer Instrumente bei der Friedenssicherung
    3. Ausbau von Wegen der zivilen Konfliktbearbeitung
    4. Stärkung der internationalen Friedensordnung als einer Rechtsordnung
    5. Der Einsatz militärischer Gewalt als ultima ratio
  3. Ergänzungen und Weiterführungen
    1. Völkerrecht, Mandatierung und "humanitäre Intervention"
    2. Die Rolle der NATO und einer europäischen Sicherheitspolitik im Rahmen der internationalen Friedensordnung
    3. Aufgaben und Struktur der Bundeswehr
    4. Zivile Konfliktbearbeitung und zivile Friedensdienste
    5. Ausblick

Mitglieder der Kammer für Öffentliche Verantwortung


Vorbemerkung

Auf seiner Sitzung am 7./8. September 2001 hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland den hier vorgelegten Text abschließend beraten und zur Veröffentlichung freigegeben. Am 11. September 2001 geschahen die Terrorangriffe von New York und Washington. Dieses zeitliche Zusammentreffen wird die Wahrnehmung des Textes nachhaltig beeinflussen.

Auch nach den Terroranschlägen behält der hier vorgelegte Text seinen Wert. Zwar teilen viele die Einschätzung, die Welt sei eine andere geworden und der internationale Terrorismus schaffe eine völlig neue friedenspolitische Situation. Doch die Gefährdungen des Friedens werden auch in der Zukunft nicht ausschließlich, vielleicht nicht einmal vorrangig, terroristischer Natur sein. Die Konsequenzen der Ereignisse des 11. September 2001, auch für die Sicherheitspolitik, sind noch in keiner Weise absehbar. Der Rat hält es daher erst recht für geboten, sich zum jetzigen Zeitpunkt auf eine Zwischenbilanz zu beschränken. Erst die nächsten Jahre können zeigen, ob die bisherigen friedensethischen Grundsätze und Konzepte einer tiefgreifenderen Revision bedürfen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hatte nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ihre friedensethische Position in zwei Texten neu bestimmt: in der Kundgebung der Synode von 1993 und in den Orientierungspunkten des Rates "Schritte auf dem Weg des Friedens" von 1994. Mit der Vorbereitung und Veröffentlichung des hier vorgelegten neuen friedensethischen Beitrags entspricht der Rat dem von mehreren Seiten geäußerten Wunsch, die bisher eingenommene Position im Lichte der Entwicklung der letzten Jahre einer Überprüfung zu unterziehen. Vor allem die Konflikte auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, bis hin zu der noch andauernden krisenhaften Zuspitzung in Mazedonien, haben es nötig gemacht, sich Rechenschaft darüber zu geben, ob und inwieweit sich bisherige friedensethische Ansätze und Konzeptionen in der neuen weltpolitischen Konstellation bewährt haben. Im Auftrag des Rates hat sich die Kammer für Öffentliche Verantwortung der Aufgabe unterzogen, dieser Frage im Blick auf die Äußerungen aus den Jahren 1993/94 nachzugehen. Der Rat dankt der Kammer für die Vorbereitung des hier veröffentlichten Textes.

Die Synode hat bei ihrer Tagung im Jahr 1999 den Rat ausdrücklich gebeten, die Erarbeitung einer neuen Friedensdenkschrift in Auftrag zu geben und das Ergebnis in spätestens zwei Jahren zu veröffentlichen. Die Notwendigkeit für die Erarbeitung einer eigenständigen neuen Friedensdenkschrift war nach Überzeugung des Rates allerdings nicht gegeben. Was heute im Rückblick auf die Ereignisse und Entwicklungen der vergangenen Jahre gesagt werden kann und muß, steht in deutlicher Kontinuität mit den früheren friedensethischen Stellungnahmen. Darum knüpft der Text, auch in der äußeren Gestalt, ausdrücklich an die "Orientierungspunkte" von 1994 an und geht nach einigen Hinweisen auf Veränderungen in der friedenspolitischen Lage und der friedensethischen Diskussion in zwei Schritten vor: Zunächst werden die friedensethischen Grundsätze unterstrichen und verdeutlicht, die schon 1993/94 leitend waren und sich auch in der Folgezeit als tragfähig erwiesen haben. Sodann werden einige Aspekte behandelt, die angesichts der neueren Entwicklung ergänzend oder weiterführend hinzutreten müssen.

So beispiellos die in den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sichtbar gewordene Dimension terroristischer Gefährdung ist und so unvorbereitet die Menschheit und mit ihr Politik, Polizei und Militär davon getroffen wurden - die künftig sich stellenden friedens- und sicherheitspolitischen Herausforderungen kommen in dem hier vorgelegten Text, vor allem in dem am Schluß stehenden Ausblick, durchaus bereits in den Blick. Mit den terroristischen Angriffen des 11. September 2001 wird nämlich eine historisch ablesbare Linie weitergezogen, die vom herkömmlichen Typ des Krieges und von der Anwendbarkeit herkömmlicher militärischer Mittel bei der Bewältigung von Krisen immer weiter wegführt: Derjenige Typ des Krieges, bei dem reguläre Armeen feindlicher Staaten gegeneinander kämpfen, hat seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts immer weiter an Bedeutung verloren. Stattdessen haben gewaltsame Konflikte innerhalb von Staaten ihrer Zahl, Dauer und Intensität nach stark zugenommen. Dabei sind die Konfliktparteien aber noch mehr oder weniger gut identifizierbar. Bei Terroranschlägen gegen zivile Ziele und die verletzliche Infrastruktur hochindustrialisierter Staaten hat man es demgegenüber mit einem weithin unsichtbaren Gegner zu tun. Hinzu kommt, daß für Selbstmordattentäter eine Voraussetzung nicht mehr zutrifft, die jeder rechtsstaatlichen Sanktion gegen Straftäter zugrundeliegt: daß diese nämlich nach ihrer Straftat weiterleben wollen und darum auf die (im Sinne der Generalprävention oder Spezialprävention verstandene) abschreckende Absicht von Strafmaßnahmen reagieren.

Schon am Verlauf der Konflikte im ausgehenden 20. Jahrhundert ließ sich ablesen, daß die Anwendung militärischer Gewalt bei der Aufgabe der Sicherung, Bewahrung und Förderung des Friedens nur begrenzt weiterhilft. Die politischen Ziele müssen vielmehr vorrangig mit politischen Strategien verfolgt werden. Dieser Vorrang der Politik vor dem Einsatz militärischer Gewalt, der übrigens bei den klassischen strategischen Denkern spätestens seit Clausewitz längst vorausgesetzt wird, ist auch für die Abwehr der terroristischen Gefährdung von Bedeutung. Das gilt schon in dem Sinne, daß sich die Terrorismusbekämpfung in erster Linie nicht auf militärische Mittel, sondern eine Kombination politischer, wirtschaftlicher, polizeilicher, geheimdienstlicher und möglicherweise auch militärischer Maßnahmen stützen muß. Gefragt sind vor allem verbesserte Sicherheitsvorsorge für die Bürger, fundierte Ursachenanalysen sowie langfristige Konzepte der Konfliktprävention. Die rasche Bereitschaft, im Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus von "Krieg" oder gar dem neuen, für das 21. Jahrhundert charakteristischen Typ des "Krieges" zu sprechen, ist voreilig. Bei der Bekämpfung des Terrorismus bleibt der demokratische Rechtsstaat in Prävention und Reaktion an die Mittel gebunden, die mit seiner demokratischen Verfassung, den Menschenrechten und der Herrschaft des Rechts vereinbar sind. Die Ausrichtung des gesamten politischen Handelns auf die Überwindung friedensgefährdender Konflikte - wie vor allem in Israel und Palästina - und die Schaffung einer gerechteren internationalen Ordnung ist gerade auch für die Abwendung terroristischer Gefährdung von Gewicht: Denn eine solche Politik bietet immer noch die besten Aussichten, Haß und Fanatismus als den gefährlichsten Brutstätten für terroristische Bewegungen das Wasser abzugraben.

Hannover, den 25. September 2001

Präses Manfred Kock
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland


I. Veränderungen in der friedenspolitischen Lage und der friedensethischen Diskussion

Mehr als sieben Jahre sind vergangen, seit die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland ihre "Kundgebung zur Friedensverantwortung" beschlossen und der Rat unter dem Titel "Schritte auf dem Weg des Friedens" seine "Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik" veröffentlicht hat. In dem Zeitraum seit 1993/94 haben sich Entwicklungen vollzogen, die die friedenspolitische Lage in einigen Hinsichten verändert und neue Anfragen in die friedensethische Diskussion gebracht haben. Das macht es erforderlich, die seinerzeit vorgelegten friedensethischen Äußerungen der Evangelischen Kirche in Deutschland einer kritischen Sichtung zu unterziehen, sie zu bekräftigen, wo sie sich als tragfähig erwiesen haben, sie aber auch zu ergänzen und weiterzuführen, wo zusätzliche Klärungen erforderlich geworden sind.
Die friedensethischen Äußerungen von 1993/94 reagierten auf die tiefgreifenden politischen Umwälzungen, die mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und des bipolaren Systems nuklearer und konventioneller Abschreckung verbunden waren. Die damit entstandenen Koordinaten der Friedenspolitik bestehen fort. Soweit sich zwischenzeitlich Veränderungen vollzogen haben, handelt es sich zu einem erheblichen Teil um Beiträge zur Stabilisierung der Lage in Europa. Die Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns in die NATO ist bereits vollzogen, die Aufnahme weiterer mittelosteuropäischer und osteuropäischer Staaten wird vermutlich in absehbarer Zeit folgen. Wenig mehr als ein Jahrzehnt nach der Auflösung des Ost-West-Konflikts ist weithin in Vergessenheit geraten, welche Befürchtungen im Angesicht potentieller nuklearer Kriegsgefahr die Menschen in Ost und West alltäglich beherrscht haben und welche äußeren und inneren Belastungen die Teilung Europas und Deutschlands im Banne der Ost-West-Konfrontation mit sich gebracht hat. Um so mehr besteht auch heute Grund dazu, dankbar an die positiven Auswirkungen und die Chancen der neuen weltpolitischen Konstellation zu erinnern und sie als mahnende Verpflichtung für die Zukunft zu begreifen.

Die friedensethischen Äußerungen von 1993/94 haben herausgearbeitet, welche vordringlichen Aufgaben sich in der neuen Konstellation in friedenspolitischer Hinsicht stellen: die Entwicklung von Lösungen für die überlebenswichtigen Probleme der weltweiten Armut und der fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens, die Errichtung und Durchsetzung einer internationalen Ordnung des Friedens unter der Herrschaft des Rechts, die Eindämmung der Rüstungsproduktion und des Waffenhandels und der Ausbau der Möglichkeiten und Ansätze ziviler Konfliktbearbeitung. Die Bilanz im Blick auf die Erledigung dieser Aufgaben ist ernüchternd. Die Aufbruchstimmung zum Zeitpunkt der Wende ist einem mühsamen Ringen um jeden einzelnen Reformschritt gewichen. Besonders deutlich wird dies beim Klimaschutz: Die Umsetzung der Vereinbarungen zur CO2-Reduzierung im Kyoto-Protokoll von 1997 ist ins Stocken geraten. Auf dem Gebiet der Abrüstung sind in quantitativer Hinsicht spürbare Erfolge erzielt worden. Bei der Truppenstärke ist es zu einschneidenden Reduzierungen gekommen; hier hat es zweifellos eine "Friedensdividende" gegeben. Die Rüstungsdynamik, die zur Entwicklung von technologisch weiter verfeinerten Waffensystemen führt, setzt sich jedoch fort.

Unter den Gefährdungen richtete sich 1993/94 die größte Aufmerksamkeit darauf, daß in verschiedenen Regionen der Welt Konflikte, die mit der fehlenden Anerkennung der Ansprüche und Rechte von Minderheiten zusammenhängen und lange mit Zwangsmaßnahmen unterdrückt worden sind, verdeckt schwelen und aufzuflammen drohen. Die seither eingetretene Entwicklung hat diese Befürchtung vollauf bestätigt. Derjenige Typ des Krieges, bei dem reguläre Armeen feindlicher Staaten gegeneinander kämpfen, hat in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts immer weiter an Bedeutung verloren. Statt dessen haben gewaltsame Konflikte innerhalb von Staaten ihrer Zahl, Dauer und Intensität nach stark zugenommen, nicht nur auf dem Balkan, der als ein europäischer Konfliktherd im Zentrum des öffentlichen Interesses steht, sondern in vergleichbarer Weise in Tschetschenien, in Afghanistan, in anderen Teilen Asiens und nicht zuletzt in Afrika. "Die Decke der Zivilisierung des menschlichen Verhaltens ist" – so haben es die Orientierungspunkte von 1994 (S. 10) formuliert – "dünner, als wir geglaubt haben. Unter ihr sind auch heute noch die Bereitschaft zu archaischer Gewaltanwendung und die Fähigkeit zu Grausamkeit und Brutalität latent vorhanden."

Der Kosovo-Krieg im Frühjahr 1999 hat schon im unmittelbaren Zusammenhang mit dem militärischen Konflikt selbst, aber darüber hinaus vor allem in der rückblickenden Aufarbeitung der Vorgänge, die friedensethische Diskussion neu angestoßen und zugespitzt. Dies hängt insbesondere mit zwei Faktoren zusammen: Das militärische Vorgehen der NATO war nicht durch ein ausdrückliches Mandat der Vereinten Nationen bestätigt und gedeckt, und der politische Erfolg des militärischen Eingreifens der NATO stellte sich erst ein, als sich die Luftangriffe - im Gegensatz zu den Normen des Kriegsvölkerrechts und den ihnen zugrundeliegenden ethischen Kriterien - statt ausschließlich gegen militärische Objekte auch gegen die Infrastruktur Serbiens richteten. Die noch andauernde Diskussion über die rechtlichen und ethischen Aspekte des Kosovo-Krieges hat bei den Teilnehmern an dieser Diskussion völlig gegenläufige Auswirkungen gehabt: Auf der einen Seite sind aus kategorischen Gegnern jeder Anwendung militärischer Gewalt Befürworter dieses Zwangsmittels, jedenfalls im Einzelfall, geworden; auf der anderen Seite sind bei Befürwortern möglicher militärischer Einsätze Anfragen an die strategischen Bedingungen sowie grundsätzliche Zweifel an der Zulässigkeit und Wirksamkeit der Anwendung militärischer Gewalt neu geweckt worden.

Wer die 1993/94 veröffentlichten friedensethischen Äußerungen der Evangelischen Kirche in Deutschland im Lichte der seitherigen Ereignisse und Entwicklungen auf ihre Tragfähigkeit hin prüft, kommt zu dem Ergebnis: Der damalige friedenspolitische Ansatz ist weiterhin tragfähig und überzeugend. Die friedensethischen Grundsätze verdienen es, auch jetzt zur Geltung gebracht zu werden. Dies gilt selbst im Blick auf den speziellen Fall des Kosovo-Krieges. Die Unsicherheit und Gegensätzlichkeit, mit der der Kosovo-Krieg in der evangelischen Kirche friedensethisch beurteilt wurde (und wird), resultierten nicht so sehr daraus, daß die friedensethischen Äußerungen von 1993/94 unergiebig wären, sondern daraus, daß die in ihnen enthaltenen Kriterien in der evangelischen Kirche nicht immer konsequent angewandt und deutlich vernehmbar und in die politische Urteilsbildung eingebracht wurden. Die hier vorgelegte Äußerung des Rates knüpft darum, auch in der äußeren Gestalt, ausdrücklich an die "Orientierungspunkte" von 1994 an. Was heute im Rückblick auf die Ereignisse und Entwicklungen der vergangenen Jahre gesagt werden kann und muß, steht in Kontinuität mit den früheren friedensethischen Stellungnahmen. Darum sind die folgenden Ausführungen in zwei Schritte untergliedert: Zunächst werden die friedensethischen Grundsätze unterstrichen und verdeutlicht, die schon 1993/94 leitend waren, und es wird aufgezeigt, inwieweit sie sich auch in der Folgezeit als tragfähig erwiesen haben. Sodann werden Aspekte benannt, die angesichts der neueren Entwicklung ergänzend oder weiterführend hinzutreten müssen.


II. Unterstreichungen und Verdeutlichungen

1. Gerechter Friede als Leitbegriff christlicher Friedensethik

"In der Friedensdenkschrift von 1981 heißt es programmatisch: 'Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat. Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Frieden, nicht der Krieg.' Dem entspricht es, wenn die Kirchen in der DDR auf der Ökumenischen Versammlung von 1988 in Abkehr vom Gedanken des 'gerechten Krieges' die Entwicklung einer 'Lehre vom gerechten Frieden' angemahnt haben ...

Sicherheit kann nicht allein militärisch definiert werden. Sie ... ist vor allem angewiesen auf eine gerechtere Verteilung der Lebenschancen zwischen Nord und Süd sowie West und Ost, auf die Einhaltung der Menschenrechte, die Stärkung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen und den Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens. Daraus folgt, daß die Analyse und Beseitigung von Konfliktursachen langfristig die vorrangige Aufgabe darstellt und durch ein kurzfristiges militärisches Krisenmanagement von Symptomen nicht zu ersetzen ist." (Schritte auf dem Weg des Friedens, S. 14)

Der hier verwendete erweiterte Sicherheits- und Friedensbegriff deckt sich mit den Befunden der neueren Friedensforschung. Als grundlegende, interdependente Komponenten für eine verläßliche Friedensstruktur gelten ihr:

  • Rechtsstaatlichkeit, die den Schutz der Freiheit gewährleistet, und die daraus folgende Rechtssicherheit,
  • ökonomischer Ausgleich, der zum Abbau krasser ökonomischer Ungleichheiten und damit zur Linderung von Not beiträgt,
  • internationale Organisationen und das Völkerrecht, die dem Schutz vor widerrechtlicher Gewalt dienen, und
  • eine Kultur des Umgangs mit Minderheiten und Menschen anderer ethnischer Herkunft, die der Intoleranz und nationalistischen Tendenzen entgegenwirkt.

Diese vier Komponenten beziehen sich sowohl auf die Verhältnisse innerhalb einer Gesellschaft als auch auf die Beziehungen zwischen Staaten und müssen insofern in globalem Maßstab gesehen werden.

Einer Friedenspolitik, die sich an einem solchen erweiterten Sicherheits- und Friedensbegriff orientiert, muß es - in der Trias von Konfliktprävention, Konfliktlösung und Konfliktnachsorge - sowohl um die politische Bearbeitung tiefliegender Konflikte mit dem Ziel eines dauerhaften Friedens als auch um die Verhinderung krisenhaft gewaltträchtiger Zuspitzungen von konkreten Konfliktlagen gehen. Das gilt nicht nur im Blick auf die Beziehungen zwischen Staaten, sondern heute insbesondere auch im Blick auf Konflikte innerhalb von Staaten, deren Bedeutung weltweit stark zugenommen hat.

Die Einsicht, daß sich die christliche Friedensethik am Leitbegriff des gerechten Friedens orientieren muß, bestimmt auch die jüngste friedensethische Verlautbarung der römisch-katholischen Kirche. Die Deutsche Bischofskonferenz hat ihr im Jahr 2000 veröffentlichtes neues Friedenswort unter die Überschrift "Gerechter Friede" gestellt. Auch wenn in Teilbereichen etwas andere Schwerpunkte als in "Schritte auf dem Weg des Friedens" gesetzt und in Einzelfragen abweichende Positionen vertreten werden, worauf in Abschnitt II.5 dieses Textes exemplarisch eingegangen werden wird - die friedensethischen Äußerungen der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche sind Ausdruck einer gemeinsamen christlichen Friedensethik und verstärken und ergänzen sich gegenseitig.

Die Orientierung am Leitbegriff des gerechten Friedens schließt im übrigen die in der Lehre vom "gerechten Krieg" verwendeten Argumente, die an Kriterien der Eingrenzung von Gewalt orientiert sind, ein. Gerade der Kosovo-Krieg hat gezeigt: Moral allein genügt nicht. Die bloß moralische Empörung steht in der Gefahr, mit der Wucht bedingungsloser Imperative und aufwühlender Emotionen die unerläßlichen Prüffragen zu überspringen. Die Lehre vom "gerechten Krieg" schärft demgegenüber diese Prüffragen gerade ein: Was ist ein Rechtfertigungsgrund für die Anwendung militärischer Gewalt? Wer darf sie anwenden? Welche Ziele und Mittel sind legitim? Sind die Ziele überhaupt erreichbar? Wird bei der Gewaltanwendung die Verhältnismäßigkeit gewahrt?

2. Der Vorrang nicht-militärischer Instrumente bei der Friedenssicherung

"Um den Frieden zu erhalten und wiederherzustellen, müssen verschiedene Wege gegangen und unterschiedliche Mittel angewendet werden. Dabei darf nicht zuerst oder vorrangig an militärische Kampfeinsätze gedacht werden. In diesem Sinne haben die Kirchen der DDR auf der Ökumenischen Versammlung von 1989 als 'Grundorientierung in den Fragen des Friedens' eine 'vorrangige Option für die Gewaltfreiheit' vertreten. Diese Formel zielt darauf ab, die Leistungsfähigkeit nicht-militärischer Instrumente zur Bewältigung von Konflikten und zur Sicherung des Friedens zu prüfen und politisch zu nutzen und diese Instrumente zugleich weiterzuentwickeln und zu stärken." (Schritte auf dem Weg des Friedens, S. 15)

Konkret ist dabei etwa an folgende Instrumente gedacht:

  • politische Einflußnahme und präventive Diplomatie,
  • Bemühungen um gerechtere weltwirtschaftliche Verhältnisse und den Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens,
  • wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kooperation,
  • Etablierung ziviler Formen des Konfliktaustrags und der Konfliktregelung mit dem Ziel verfassungsmäßig gesicherter Koexistenz,
  • Aufbau und Einsatz von Friedensdiensten zur Ergänzung und Weiterführung der friedenssichernden Aktivitäten über den militärischen Beitrag hinaus,
  • Fortschritte bei der Abrüstung und der Begrenzung des Waffenhandels,
  • Verhängung von friedensverträglichen und friedensdienlichen Sanktionen und Embargomaßnahmen.

Das vom Zentralausschuß des ÖRK auf seiner Sitzung in Potsdam im Februar 2001 beratene und den Mitgliedskirchen zur Prüfung empfohlene friedensethische Dokument ("Der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt") spricht in diesem Zusammenhang von einem notwendigen "Kontinuum von Maßnahmen". Das Ziel muß es sein, durch rechtzeitige und kontinuierliche politische Maßnahmen unter Berücksichtigung und Anwendung der genannten nicht-militärischen Instrumente der Friedenssicherung der gewaltsamen Austragung von Konflikten vorzubeugen.

Die Verpflichtung auf die "vorrangige Option für die Gewaltfreiheit" ist auch eine der Wurzeln für die im Jahr 2001 begonnene Ökumenische Dekade zur Überwindung der Gewalt. Im deutschen Sprachraum ist dabei besondere Sorgfalt im Umgang mit dem Gewaltbegriff erforderlich. Denn im deutschen Wort "Gewalt" fließen mehrere Bedeutungen zusammen, die in den englischen Wörtern "violence", "force", "power" und "authority" unterschieden sind. Die Ökumenische Dekade zielt in ihrer englischen Version darauf, "to overcome violence". Es geht also um die Beseitigung rechtlich nicht geordneter, politische Anarchie fördernder, gewissermaßen chaotischer Gewalt, nicht um die Ablösung des Gebrauchs von (auch physischen) Zwangsmitteln zur Durchsetzung von demokratisch legitimierten Entscheidungen überhaupt. In der Einforderung einer sorgsamen Beobachtung der semantisch erforderlichen inneren Differenzierungen im Gewaltbegriff stimmt die Evangelische Kirche in Deutschland ausdrücklich mit dem neuen römisch-katholischen Friedenswort "Gerechter Friede" (vgl. dort S.8, Anm. 3) überein.

An den genannten Beispielen ökumenischer Gemeinsamkeit zeigt sich im übrigen, daß zwischen der wesensmäßigen Ökumenizität der Kirchen und einer globalen Völkerrechtsordnung wichtige Wechselbeziehungen bestehen.

3. Ausbau von Wegen der zivilen Konfliktbearbeitung

"Weil Feindschaft nicht durch Waffen überwunden werden kann und sich konfliktverursachende oder -verschärfende ungerechte Strukturen in aller Regel nicht mit Gewaltanwendung beseitigen lassen, besteht ein dringender Bedarf an wirksamen nicht-militärischen Mitteln zur Bearbeitung und Lösung von Konflikten.
In Ansätzen sind sie durchaus vorhanden. In den Kirchen haben sich vor allem die Friedensdienste ihrer Entwicklung, Förderung und Anwendung angenommen. Ein entschlossener Ausbau der vorhandenen Ansätze ist nötig und möglich." (Schritte auf dem Weg des Friedens, S. 32)

In den vergangenen Jahren hat die zivile Konfliktbearbeitung als Instrument der Friedenspolitik im staatlichen Bereich eine steigende Aufmerksamkeit und auch eine finanzielle Förderung erfahren, die allerdings verstärkt werden muß, wenn sie wirksam werden soll. Deutlicher, als dies 1993/94 beschrieben worden ist, läßt sich auf der Grundlage der konkreten Erfahrungen die Rolle der zivilen Konfliktbearbeitung vor Konflikten, in Konflikten und nach Konflikten unterscheiden. Beim Einsatz der staatlichen finanziellen Ressourcen ist das Mißverhältnis nach wie vor eklatant: Für den Einsatz militärischer Gewalt werden im aktuellen Konfliktfall kurzfristig hohe Summen aufgewendet, die für die Konfliktvorbeugung, die Maßnahmen der Konfliktschlichtung und die Konfliktnachsorge auch nicht annähernd zur Verfügung stehen. Beide Aspekte, die unterschiedlichen Zeitpunkte und Formen der zivilen Konfliktbearbeitung, insbesondere die Bedeutung der Konfliktprävention, sowie die Frage einer besseren finanziellen Ausstattung, werden in Abschnitt III wieder aufgenommen.

Besonders wichtig ist es in diesem Zusammenhang, die in vielen Fällen gegebene wechselseitige Bedingtheit und das Aufeinanderangewiesensein ziviler und militärischer Maßnahmen zur Friedenssicherung im Blick zu haben. Nur so wird eine nachhaltige Wirkung beider Wege möglich werden.

4. Stärkung der internationalen Friedensordnung als einer Rechtsordnung

"Vordringlich sind Schritte zur Stärkung der internationalen Friedensordnung, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen intendiert und angelegt ist ... Eine internationale Friedensordnung, die funktionsfähig und wirksam sein soll, muß in einer bestimmten Weise rechtlich verfaßt und darum zumindest ansatzweise institutionalisiert sein, und sie muß unter der Herrschaft des Rechts ('rule of law') stehen ... Der vornehmste Beitrag zur Rechtsgeltung ist die Akzeptanz des Rechts. Eine Friedensordnung, international ebenso wie innerstaatlich, die ihre Geltung jedoch ausschließlich auf den Gedanken der Akzeptanz stützen wollte, entbehrt nach aller geschichtlichen Erfahrung der Realität. Im Konfliktfall muß Recht auch durchgesetzt werden ... Das qualitativ Neue der durch das Recht der Vereinten Nationen begründeten, gewiß noch unvollkommenen internationalen Friedensordnung besteht darin, daß sie als ultima ratio auch den physischen Zwang als Mittel der Rechtsdurchsetzung kennt." (Schritte auf dem Weg des Friedens, S. 25-27)

Ein wichtiger Faktor für die Stärkung der internationalen Friedensordnung als einer Rechtsordnung ist die universale Anerkennung und Durchsetzung der Menschenrechte. Zunehmend werden innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft, nach 1991 (beginnend mit der auf die Situation im Irak bezogenen Resolution 688) gerade auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, massive Menschenrechtsverletzungen in einem Land nicht mehr allein als innerstaatliche Angelegenheit, sondern auch als Friedensbedrohung angesehen. Zur strafrechtlichen Verfolgung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien und in Ruanda wurden 1993 bzw. 1994 ad-hoc-Tribunale eingerichtet. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die 1998 erfolgte Verabschiedung des Statuts eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs. Dadurch sollen in Zukunft schwerste internationale Verbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und kriegerische Aggressionen) strafrechtlich verfolgt werden. Von der Errichtung eines solchen Gerichtshofs geht das Signal aus, daß bei derartigen Verbrechen künftig niemand mehr auf Straffreiheit setzen kann. Dieses Signal wird geschwächt und um seine Wirkung gebracht, wenn einzelne wichtige Staaten (wie die USA) dem Statut ihre Zustimmung verweigern oder seiner Anwendung auf eigene Bürger unüberwindliche Hindernisse in den Weg legen.

5. Der Einsatz militärischer Gewalt als ultima ratio

"Die Benutzung militärischer Macht ist um so weniger zu vertreten, je weiter sie sich von Notwehr oder Nothilfe entfernt und je mehr sie ausgeweitet wird, d.h. nicht nur Waffen, sondern auch Menschen, nicht nur militärische Einrichtungen, sondern unterschiedslos alles zu zerstören beginnt ... Umgekehrt ist die Benutzung militärischer Macht um so eher zu vertreten, je enger sie im Sinne von Notwehr oder Nothilfe auf den Schutz bedrohter Menschen, ihres Lebens, ihrer Freiheit und der demokratisch-rechtsstaatlichen Strukturen ihres Gemeinwesens bezogen bleibt und je gezielter und begrenzter sie nur die militärischen Angriffsmittel zerstört ... Um deutlich zu machen, daß der Einsatz militärischer Gewalt eine zwar offenzuhaltende, aber nur mit größter Zurückhaltung und nach sorgfältiger Prüfung in Anspruch zu nehmende Handlungsoption ist, wird er als 'ultima ratio', d.h. als äußerste Erwägung oder Maßnahme bezeichnet. In dieser Formulierung kommt sachgemäß zum Ausdruck, daß Gewaltanwendung zum Schutz des Friedens ethisch gesehen den Grenzfall darstellt. Es ist darüber zu wachen, daß der Grenzfall wirklich Grenzfall bleibt." (Schritte auf dem Weg des Friedens, S. 16-18)

Als Rechtsordnung ist die internationale Friedensordnung wie jede Rechtsordnung darauf angewiesen, das Recht auch durchsetzen zu können. Für die Rechtsdurchsetzung steht eine Reihe von nicht-militärischen Mitteln zur Verfügung. Jedoch gibt es Rechtsbrüche und Friedensbedrohungen, bei denen der Verzicht auf die Bereithaltung, Drohung und gegebenenfalls Anwendung militärischer Zwangsgewalt den Verzicht auf die Durchsetzung des Rechts bedeuten würde. Darum sieht die Charta der Vereinten Nationen (Kap. VII) auch ausdrücklich die Anwendung militärischer Zwangsmittel vor. Die "Orientierungspunkte" von 1994 haben diese Argumentation in friedensethischer Betrachtung ausdrücklich bejaht und die Kategorie der ultima ratio dahingehend präzisiert, daß mit ultima nicht ein zeitlich zuletzt eingesetztes, sondern ein qualitativ (nach dem Maß der ausgeübten Gewalt) äußerstes Mittel gemeint ist. An diesem zentralen Punkt muß man auf eine der wenigen, aber durchaus gravierenden Differenzen zum römisch-katholischen Friedenswort "Gerechter Friede" hinweisen. Dieses tendiert nämlich dazu, den Begriff "ultima" in einem zeitlichen Sinne zu verstehen (Gerechter Friede, S.84). Daran ist zwar richtig, daß die Prozesse der Sondierung und Prüfung einer gegebenen politischen Lage selbst eine zeitliche Dimension haben und ein vorschnelles Handeln ohne Prüfung der konkreten Situation ethisch nicht akzeptabel ist. Insofern wird auch eine qualitative Interpretation des ultima-ratio-Begriffes einen zeitlichen Aspekt einschließen müssen. Aber dieser zeitliche Aspekt darf nicht dazu führen, daß die notwendigen militärischen Maßnahmen zu spät ergriffen werden und damit ihre Funktion nicht erfüllen können.

Die Argumentationsfigur vom Gebrauch militärischer Gewalt als ultima ratio ist vor allem nach dem Kosovo-Krieg in der innerkirchlichen friedensethischen Diskussion heftig kritisiert worden. Ein Hauptkritikpunkt war, die Rede von der ultima ratio habe die Entscheidung über den Einsatz militärischer Gewalt nicht erschwert, sondern eine entlastende Funktion bekommen. Die Kriegführung sei durch die Berufung auf diesen Begriff legitimiert worden. Bei dieser Kritik ist nicht immer klar zu erkennen, ob die Anwendung militärischer Gewalt generell als ein untaugliches Mittel beurteilt oder ob lediglich eine strengere Fassung der friedensethischen Kriterien, mit der die Entscheidung für die Anwendung militärischer Gewalt wirkungsvoller einzugrenzen ist, angestrebt wird. Im ersten Fall wird sichtbar, daß der erstaunlich breite friedensethische Konsens, der 1993/94 in der evangelischen Kirche gewonnen worden war, zwar nicht insgesamt, aber doch im Blick auf die ethische Legitimation der Anwendung militärischer Gewalt brüchig geworden ist. Im zweiten Fall gibt es eine Übereinstimmung in der Absicht, restriktiv die Anwendung militärischer Gewalt lediglich als eine äußerste Möglichkeit, die sich überdies an der Glaubwürdigkeit der präventiven Maßnahmen messen lassen muß, zuzulassen; es ist dann die gemeinsame Aufgabe, die friedensethischen Kriterien so zu fassen, daß sie die gewünschte begrenzende Wirkung wirkungsvoll ausüben; diese Problematik ist in Abschnitt III wieder aufzunehmen. Insgesamt zeigt die bisherige Debatte um die Verwendung des überkommenen Begriffs "ultima ratio", daß dieser Begriff einer noch sorgfältigeren Reflexion bedarf, als bisher angenommen wurde.


III. Ergänzungen und Weiterführungen

1. Völkerrecht, Mandatierung und "humanitäre Intervention"

  1. Die evangelische Friedensethik orientiert sich grundlegend am Tötungsverbot des Dekalogs und am Gebot der Feindesliebe, wie Jesus es in der Bergpredigt verkündigt hat. Sie stimmt darum mit dem umfassenden Gewaltverbot von Art. 2 (4) der Charta der Vereinten Nationen überein. Mit diesem Gewaltverbot werden Krieg, Gewaltanwendung und Gewaltandrohung in den internationalen Beziehungen geächtet. Zulässig bleiben nur die individuelle oder kollektive Selbstverteidigung (Art. 51 ChVN) sowie die - auch gewaltsame - Abwehr von Aggressionen, Friedensbrüchen und -bedrohungen durch die Vereinten Nationen selbst (Art. 39 - 49 ChVN). Ein solches kollektives Vorgehen ist als Ausübung internationaler Polizeigewalt zur Rechtsdurchsetzung konzipiert.

    Im Kontext dieser Rechtsdurchsetzung sprechen die "Orientierungspunkte" von 1994 von "humanitärer Intervention". Gemeint ist ein militärisches Eingreifen mit der Begründung und dem Ziel, in einem Fall gravierender Menschenrechtsverletzung zur Anerkennung und Durchsetzung der Menschenrechte beizutragen und so den Opfern von Unterdrückung und Gewalt Schutz und Hilfe zuteil werden zu lassen. Der Begriff der humanitären Intervention ist analog zum Begriff der humanitären Hilfe gebildet. Der Kosovo-Krieg hat gelehrt, daß dieser Begriff in der Gefahr steht, beschönigend zu wirken und politisch mißbraucht zu werden. Es sollte klar beim Namen benannt werden, mit welchem Mittel, nämlich der Anwendung bewaffneter Gewalt, hier Hilfe geleistet werden soll.

    Das Problem sprachlicher Verschleierung und Irreführung ist im Kosovo-Krieg nicht nur im Falle des Begriffs "humanitäre Intervention" bewußt geworden. Daß zivile Opfer militärischer Angriffe von der NATO selbst als "Kollateralschaden" bezeichnet wurden, stellt eine Verharmlosung dar, die nicht akzeptiert werden kann. Das Problem stellt sich allerdings nicht nur für die staatliche Informationspolitik, sondern - in unterschiedlicher Weise - auch für die unabhängigen Medien. Es gehört zur Friedensverantwortung der Kirchen, ihre internationalen ökumenischen Kontakte zu nutzen, um auch Informationen zu gewinnen und zu verbreiten, die aus einer anderen Sicht stammen und nach Möglichkeit einen unabhängigen, nicht von politischen Interessen gefärbten Charakter haben.

    Im Vordergrund stehen bei den bewaffneten Interventionen zur Durchsetzung der Menschenrechte allerdings nicht terminologische, sondern sachliche Probleme: insbesondere das Problem ihrer Mandatierung und das Problem des Rückgriffs auf den Nothilfegedanken. Beide Probleme spielen in der Debatte über den Kosovo-Krieg eine maßgebliche Rolle.

  2. Im Zusammenhang mit dem Problem der Mandatierung haben die "Orientierungspunkte" den Fragen der Leistungsfähigkeit und der Belastbarkeit der Vereinten Nationen einen eigenen Abschnitt gewidmet. Er artikuliert "Zweifel, ob der tatsächliche Zustand der Organisation der Vereinten Nationen in allen Fällen eine Orientierung an den Grundsätzen und Regelungen der Charta gewährleistet - nicht zuletzt im Blick auf die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die jeden Beschluß und jede Aktion, die sie selbst oder ihre Interessen zum Gegenstand haben, mit ihrem Veto blockieren können" (S. 29). Trotz dieser Einschränkungen wird bei den Gesichtspunkten, die bei der ethischen Beurteilung einer bewaffneten Intervention angelegt werden sollen, auch auf eine Entscheidung "im Rahmen und nach den Regeln der Vereinten Nationen" (S. 28) abgehoben. Daß diese im Fall der Intervention im Kosovo nicht erfolgt ist, hatte in der ethischen und politischen Debatte über den Kosovo-Einsatz einen hohen Stellenwert. Unter welchen Umständen und aus welchen Gründen die Entscheidung verhindert worden ist, bestätigt die zitierten Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Vereinten Nationen.

    In der Tat liegt hier eine Spannung vor. Sie ist darauf zurückzuführen, daß das internationale Rechtsdurchsetzungssystem im Fall von schwerwiegenden und systematischen Verletzungen der Menschenrechte eine Lücke aufweist: Dem allgemeinen Gewaltverbot steht im gegenwärtigen Zustand des internationalen Systems kein supranationales Gewaltmonopol zur Seite, und dem moralischen Gebot der Nothilfe entspricht kein völkerrechtlich anerkanntes Recht auf (unilaterale) Intervention, obgleich Art. 51 ChVN hierfür gegebenenfalls einen Ansatz bietet. Weil jede Interpretation und Fortbildung des Völkerrechts immer einen Vorgriff auf den Soll- und Zielzustand der internationalen Rechts- und Friedensordnung darstellt, bleibt die gesamte Debatte - auch in der Friedensforschung und unter Völkerrechtlern - bisher ohne schlüssiges Ergebnis.

    Bei allen Versuchen, die Lücke im Rechtsdurchsetzungssystem zu schließen, ist zu beachten, daß sich gegenwärtig eine immer stärker verdichtende Welt internationaler Organisationen herausbildet, aber allein die Organisation der Vereinten Nationen und die ihr zugeordneten Sonderorganisationen dem Prinzip der Universalität verpflichtet sind und globale Legitimität beanspruchen können. Wenn im Fall von Blockaden des Sicherheitsrats, die von einzelnen ständigen Mitgliedern durch willkürliche Ausübung ihres Vetorechts verursacht sind, Entscheidungen für eine bewaffnete Intervention als Nothilfe unumgänglich erscheinen, sollte daher vorrangig nach Wegen gesucht werden, die mit dem Gesichtspunkt der Erhaltung, Stärkung und Weiterbildung einer universalen internationalen Rechtsordnung verträglich sind.

    Historisch hat die Resolution "Uniting for Peace" aus dem Jahre 1950 auch der Generalversammlung der Vereinten Nationen das Recht gegeben, den Mitgliedern Zwangsmaßnahmen zu empfehlen. In der Charta sind Zwangsmaßnahmen auch regionaler Abmachungen oder Einrichtungen, allerdings nur unter der Autorität des Sicherheitsrats, vorgesehen (Art. 53 Abs. 1). Daran sollte angeknüpft werden. Eine sinnvollerweise anzustrebende Regelung könnte folgendermaßen aussehen:

    Eine regionale Einrichtung der Vereinten Nationen (wie die OSZE) wäre zu Zwangsmaßnahmen dann ermächtigt, wenn sie 1. den Sicherheitsrat zum Handeln aufgefordert hat, dieser aber nicht handlungsfähig ist, wenn 2. der Sicherheitsrat die Existenz einer Friedensbedrohung nicht explizit bestreitet und wenn die Aktion 3. in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen erfolgt.

    Eine solche Stärkung regionaler Organisationen in direktem Zusammenhang mit den Vereinten Nationen hätte den Vorteil, daß auf diese Weise auch die vorhandenen universalen Organisationsstrukturen gestärkt würden. Es gibt derzeit keine Alternative zur Organisation der Vereinten Nationen, um eine internationale Rechtsordnung als Friedensordnung zu befördern. Es gibt nur die Möglichkeit und Verpflichtung, die Vereinten Nationen in eine Richtung zu reformieren, in der ein Klima allseitiger Respektierung von Geist und Sinn der Vereinten Nationen und ihrer Charta befördert wird, Entscheidungsblockaden aus partikulären Interessen zurückgedrängt werden und eine Gewaltentrennung entwickelt wird, um getroffene Entscheidungen überprüfbar und universal legitimierbar zu machen. Dabei geht es letztendlich um die Herausbildung und Absicherung rechtsstaatsanaloger Prinzipien auf internationaler Ebene: Wer stellt die Sachlage fest (fact finding)? Wer nimmt den Abgleich mit geltendem Recht vor? Wer entscheidet, ob die vorliegenden Menschenrechtsverletzungen derart sind, daß sie die Anwendung militärischer Zwangsmittel erfordern und rechtfertigen? Die Tatsache, daß derzeit der Sicherheitsrat eine politische Allkompetenz besitzt, ist nicht nur unbefriedigend, sondern widerspricht Grundprinzipien moderner Rechtsgemeinschaften. Um so wichtiger ist es, Institutionalisierungen nach Maßgabe rechtsstaatsanaloger Prinzipien zu befördern.

  3. Die "Orientierungspunkte" von 1994 stellen eine Reihe von Kriterien und Anhaltspunkten bereit, um zu überprüfen und im Maße des Möglichen dafür zu sorgen, daß die Anwendung militärischer Gewalt nur im erforderlichen Umfang und nur als ultima ratio, also als äußerste Möglichkeit, geschieht. Grundlegend ist eine Art gleitender Skala, derzufolge "die Benutzung militärischer Macht um so eher zu vertreten [ist], je enger sie im Sinne von Notwehr oder Nothilfe auf den Schutz bedrohter Menschen, ihres Lebens, ihrer Freiheit und der demokratisch-rechtsstaatlichen Strukturen ihres Gemeinwesens bezogen bleibt und je gezielter und begrenzter sie nur die militärischen Angriffsmittel zerstört" (S. 17). An anderer Stelle wird betont, daß "auch für die gewaltsame kollektive Rechtsdurchsetzung das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gilt, wie dies auch im innerstaatlichen Recht für polizeiliches Vorgehen der Fall ist" (S. 21). Schließlich werden auch jene vier Gesichtspunkte benannt, die aus der Lehre vom "gerechten Krieg", und zwar im Zusammenhang des ius ad bellum, stammen und darum zu den klassischen ethischen Kriterien der Begrenzung rechtserhaltender Gewalt gehören, daß nämlich

    • "-die Entscheidung über ein solches Eingreifen, die nicht der Souveränität einzelner Staaten überlassen bleiben darf, im Rahmen und nach den Regeln der Vereinten Nationen getroffen wird,
    • die Politik im Rahmen des Schutzes oder der Wiederherstellung einer rechtlich verfaßten Friedensordnung über klar angebbare Ziele einer Intervention verfügt,
    • die an den Zielen gemessenen Erfolgsaussichten nüchtern veranschlagt werden,
    • von Anfang an bedacht wird, wie eine solche Intervention beendet werden kann" (S. 28).

    In zwei Hinsichten sind hier Ergänzungen nötig:

    • Der Tatbestand der Nothilfe ist zwar in einzelstaatlichen Rechtsordnungen positiv-rechtlich anerkannt und auch im Völkerrecht legitim. Im Völkerrecht liegt jedoch ein Kontext vor, in dem weder ein Gewaltmonopol besteht noch eine Judikatur vorhanden ist, die in der Lage wäre, exzessiv-mißbräuchliche Inanspruchnahmen des Nothilferechts zu unterbinden. Im Rahmen der Organisation der Vereinten Nationen gibt es nur ein letztendlich politisch zu verstehendes Entscheidungsmonopol des Sicherheitsrats über Erzwingungsmaßnahmen nach Kapitel VII ChVN. Bewaffnete Interventionen als Beistandsmaßnahme im Falle von Aggression sind hier nur in eine erst im Aufbau begriffene, noch nicht voll entwickelte Rechtsordnung eingebettet. Da die "Orientierungspunkte" von dem Gedanken durchdrungen sind, eine internationale Friedensordnung als internationale Rechtsordnung zu befördern, muß daher für die ethische Beurteilung von militärischen Nothilfemaßnahmen im internationalen Kontext stets auch geprüft werden, ob solche Maßnahmen letztendlich den Aufbau und die Weiterentwicklung einer internationalen Rechtsordnung eher stärken oder schwächen.
    • Neben den eingrenzenden Kriterien, die aus der Argumentation der Lehre vom "gerechten Krieg" im Kontext des ius ad bellum stammen, sind auch diejenigen Kriterien zur Geltung zu bringen, die im Kontext des ius in bello verwendet worden sind. Im Vordergrund steht dabei die Orientierung an den Regeln des Kriegsvölkerrechts. In ihm wird die Kriegsführung eingrenzenden Bedingungen unterworfen: Die Gewaltanwendung muß das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beachten und darf nicht exzessiv erfolgen; Grausamkeiten gegenüber den militärischen Gegnern sind zu unterbinden; Auswirkungen der Kampfhandlungen auf Nichtbeteiligte, vor allem die Zivilbevölkerung, müssen vermieden, mindestens aber minimiert werden; den Geschädigten steht unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer Konfliktpartei Hilfe zu.

    Die Kriterien und Anhaltspunkte, wie sie hier zusammengestellt sind, leiten dazu an, unerläßliche Prüffragen zu stellen und zu einer sorgfältigen Urteilsbildung zu gelangen. Sie können - weil sich Differenzen in der Erfassung der Sachverhalte nicht vermeiden lassen und die Ermessensspielräume bei ihrer Bewertung beträchtlich sind - aber nicht verhindern, daß die auf dieser Grundlage getroffenen Urteile möglicherweise voneinander abweichen. Die Leistungsfähigkeit friedensethischer Kriterien muß nüchtern und ehrlich eingeschätzt werden: Sie schärfen ein, daß die eigene ethische Urteilsbildung unerläßlich ist; sie führen aber, auch bei sachgemäßer Anwendung, nicht notwendig zu deckungsgleichen Ergebnissen.

2. Die Rolle der NATO und einer europäischen Sicherheitspolitik im Rahmen der internationalen Friedensordnung

Im April 1999 billigten die Staats- und Regierungschefs der NATO das neue Strategische Konzept des Bündnisses. In diesem Konzept wird in Ziffer 15 unterstrichen, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die "primäre Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" trägt. In Ziffer 24 wird bestätigt, daß "im Fall eines bewaffneten Angriffs auf das Gebiet der Bündnispartner, aus welcher Richtung auch immer, ... Artikel 5 und 6" des Nordatlantikvertrags Anwendung finden. Darauf folgend heißt es: "Die Sicherheit des Bündnisses muß jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken umfassender Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen. Die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte, kann ebenfalls Probleme für die Sicherheit und Stabilität des Bündnisses aufwerfen." Und entsprechend wird in Ziffer 29 ausgeführt: "Militärische Fähigkeiten, die für das gesamte Spektrum unvorhersehbarer Umstände wirksam sind, stellen auch die Grundlage für die Fähigkeit des Bündnisses dar, durch die nicht unter Artikel 5 fallende Krisenreaktionseinsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung beizutragen."

Der in Ziffer 15 enthaltene Verweis auf die "primäre Verantwortung" der Vereinten Nationen kann die gravierenden Bedenken nicht zerstreuen, die von den weit gefaßten und unbestimmten Aussagen in Ziffer 24 über "Sicherheitsinteressen des Bündnisses" und "Risiken umfassender Natur" ausgelöst werden. Die Nennung von Beispielen wie Sabotage, organisiertes Verbrechen und Sicherung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen läßt vermuten, daß das Feld für den Einsatz militärischer Gewalt außerordentlich weit gezogen wird. Die Tendenz zur einseitigen Entscheidung über die Anwendung militärischer Zwangsmittel scheint wesentlich kräftiger als die Rückbindung an die in der Charta der Vereinten Nationen angelegte Ordnung. Die nicht vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen autorisierte militärische Intervention der NATO im Kosovo wird vor diesem Hintergrund von kritischen Stimmen als erstes praktisches Beispiel dafür gesehen, wie sich die veränderten sicherheitspolitischen Perspektiven der NATO nach Ende des Ost-West-Konflikts auswirken könnten, nämlich als Unterhöhlung geltenden Völkerrechts. Diese Stimmen warnen zu recht vor der Möglichkeit einer gefährlichen Fehlentwicklung. Das gilt insbesondere dann, wenn neben der Charta der Vereinten Nationen auch der "Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermords" aus dem Jahre 1948 als integralem Bestandteil des Völkerrechts Geltung verschafft werden soll.

Gegenwärtig gibt es verstärkte Bemühungen um eine relativ eigenständige europäische Sicherheitspolitik. Sie sind auf eine Friedensordnung und Sicherheitsarchitektur in Europa gerichtet. Nicht weniger als im Falle der NATO ist bei diesen Bestrebungen auf die Verträglichkeit mit der Charta der Vereinten Nationen zu achten. Insbesondere kommt es darauf an, die militärische Komponente einer europäischen Sicherheitspolitik so auszugestalten, daß sie sich in den Friedenssicherungsmechanismus der Vereinten Nationen einfügt und diesen stärkt. Dazu gehören vor allem: der Vorrang der Konfliktprävention, die Mandatierung von Einsätzen durch die Vereinten Nationen oder ein regionales System kollektiver Sicherheit und eine enge geographische Begrenzung der Reichweite der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Friedenspolitisch unerläßlich ist es in diesem Zusammenhang, daß – entsprechend dem im Juni 2001 auf der EU-Ratstagung in Göteborg gefaßten Beschluß – die angestrebte Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GESVP) institutionell in die Lage versetzt wird, die nichtmilitärischen Kapazitäten der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung verläßlich zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört insbesondere eine europäische Polizeitruppe, die in Notsituationen tatsächlich mit ausreichenden und qualifizierten Kräften zur Verfügung steht.

Es ist bemerkenswert, daß in den wichtigen friedens- und sicherheitspolitischen Dokumenten der vergangenen Jahre der Begriff der zivilen Konfliktprävention und die nichtmilitärischen Aspekte der Konfliktverhütung sowie der Krisenbewältigung zunehmend eine bedeutende Rolle spielen. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, daß die dafür eigentlich erforderlichen organisatorischen Vorkehrungen sowie die eingesetzten finanziellen Volumina im Vergleich mit den in bestehenden Militärapparaten vorgesehenen militärischen Mitteln unverhältnismäßig gering ausfallen. Das Hauptproblem besteht jedoch darin, daß selbst diese für Konfliktprävention vorgesehenen Mittel und die zugesagten Personalkontingente in Krisen- und Notfällen nicht, zu spät oder in viel zu geringem Maße zur Verfügung stehen. Die friedensethische Glaubwürdigkeit einer deutschen Beteiligung an einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beruht jedoch auf einer nachdrücklichen Einforderung und Umsetzung gerade der nichtmilitärischen Komponenten. Das macht auch eine betonte Förderung der OSZE-Mechanismen und deren institutionelle Unterfütterung erforderlich (Früherkennungskapazitäten, Schutzregeln für Minderheiten, Demokratieförderung u.a.). Um entsprechende politische Prozesse zu fördern, bedarf es eines breiten demokratischen Konsenses auf der Grundlage einer andauernden politischen Sensibilisierung für die Friedensproblematik. Es muß auch gelingen, die Kluft zu überwinden, die derzeit zwischen den finanziellen Mitteln, die aufgrund einer hochgradig alarmierten Öffentlichkeit für militärische Kriseneinsätze kurzfristig verfügbar gemacht werden, und den um viele Größenordnungen geringeren Mitteln für eine dauerhafte Friedenssicherung besteht. Vonnöten ist desgleichen eine engere und abgestimmte Kooperation zwischen zivilen und militärischen Instanzen. Letztere dienen heute bekanntlich vielfach als Lückenbüßer für nicht existierende zivile Vorkehrungen.

3. Aufgaben und Struktur der Bundeswehr

Was im vorangegangenen Unterabschnitt über die Rolle der NATO und die Aufgaben einer europäischen Sicherheitspolitik ausgeführt worden ist, gilt auch für die Bundeswehr. Damit sind zwei Gesichtspunkte unterstrichen, die schon 1994 in den knappen Aussagen der "Orientierungspunkte" zur Neubestimmung des Auftrags der Bundeswehr enthalten waren:

  • Die belastete Vergangenheit rechtfertigt "keine grundsätzliche Sonderrolle Deutschlands ... Was friedensethisch und friedenspolitisch für die anderen Staaten der Vereinten Nationen gilt, das gilt auch für Deutschland" (S.31).
  • Der Auftrag der Bundeswehr muß sich "ethisch an den Einsichten in die friedenspolitische Verantwortung im Rahmen einer auf die Herrschaft des Rechts gegründeten internationalen Friedensordnung und rechtlich streng an den Vorgaben des Grundgesetzes orientieren ... Ein sehr weit gefaßter Begriff nationaler Sicherheit, der sich aus dem Blickwinkel des nationalen Interesses an möglichen Risiken orientiert, beschwört die Gefahr einer weltweiten 'Kanonenbootpolitik' herauf" (S.30). Diese Gefahr ist in dem vom Bundesminister der Verteidigung im Jahr 2000 vorgelegten Papier "Die Bundeswehr - sicher ins 21. Jahrhundert. Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf", mit dem er auf den Bericht der von der Bundesregierung berufenen unabhängigen Kommission "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" reagiert hat, keineswegs gebannt. Die Aussagen zur "Konfliktverhütung und Krisenbewältigung", auch außerhalb Europas und seiner Peripherie, sind nicht deutlich genug auf die Teilnahme an der friedenspolitischen Verantwortung im Rahmen einer auf die Herrschaft des Rechts gegründeten internationalen Friedensordnung bezogen. Die Klärung der Verfassungslage ist inzwischen in bestimmtem Umfang durch zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - das Urteil vom 12. Juli 1994 und den Beschluß vom 25. März 1999 - erfolgt.

Die Spannung zwischen den im Grundgesetz gemachten expliziten Aussagen zum Auftrag der Bundeswehr einerseits und der politischen und militärischen Wirklichkeit andererseits ist allerdings beträchtlich: Der in der Verfassung vorgesehene Regelfall ist zum unwahrscheinlichen Ausnahmefall, der Ausnahmefall hingegen zum Regelfall geworden. Art. 87a GG bestimmt in Abs. 1: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." In Abs. 2 heißt es dann: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt." Alle Einsätze der Bundeswehr im Rahmen eines Mandats der Vereinten Nationen, der NATO oder der eigenen Krisenreaktionsstreitkräfte der Europäischen Union geschehen unter Verweis auf Art. 24 Abs. 2: "Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen". So begründete Einsätze aber sind es, die derzeit Aufbau und Planung der Bundeswehr im wesentlichen bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat die gegenwärtige politische Praxis noch nicht beanstandet. Insofern besteht keine unabweisbare Notwendigkeit für eine Verfassungsdebatte. Jedoch ist es bedenklich, daß sich die politischen und militärischen Entwicklungen im Rahmen von Verfassungsbestimmungen vollziehen, die erkennbar von anderen Voraussetzungen ausgehen, und daß die Unterschiede zwischen einem System kollektiver Verteidigung und kollektiver Sicherheit verwischt werden.

Ein entsprechendes Problem stellt sich bei der Formulierung von Eid und feierlichem Gelöbnis, die nach § 9 des Soldatengesetzes den Berufsoldaten und Soldaten auf Zeit einerseits und den Wehrdienstleistenden andererseits abverlangt werden. In beiden Fällen wird die feierliche Verpflichtung eingegangen, "der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen". Diese Formulierung wird der Rolle des Soldaten, wie sie sich aus der hier vorausgesetzten friedensethischen Konzeption ergibt, nicht mehr gerecht.

Die Neubestimmung des Auftrags der Bundeswehr, bei der sich die Gewichte von der Landesverteidigung zur Mitwirkung bei Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen oder einer über den Washingtoner Vertrag von 1949 (Art. IV: "Kollektive Verteidigung") hinausgehenden, in ihrem Aufgabenspektrum erweiterten NATO verschoben haben, bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Frage nach dem Fortbestand der allgemeinen Wehrpflicht. Denn für die internationalen Kriseneinsätze kommen, allein schon von der Ausbildung her, nur die Berufs- und Zeitsoldaten in Betracht.

Manche Anzeichen deuten darauf hin, daß die Wehrpflicht in absehbarer Zeit wegfallen oder doch einstweilen ausgesetzt werden könnte. Es gilt darum, auf Verhältnisse vorbereitet zu sein, in denen die Bundeswehr lediglich von Berufs- und Zeitsoldaten gebildet wird. Dafür ist es wichtig, das Problem der Eignung der Soldaten in den Blick zu nehmen. Zur Eignung gehören auch die Bereitschaft und Fähigkeit zu einem ethisch sorgsamen Umgang mit den Mitteln militärischer Gewalt. Das setzt ein geschärftes Gewissen voraus. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat schon bei einer früheren Gelegenheit ("Wehrdienst oder Kriegsdienstverweigerung? Anmerkungen zur Situation des Christen im Atomzeitalter". Vorgelegt von der Kammer für Öffentliche Verantwortung, EKD-Texte 29, 1989, S.11) darauf aufmerksam gemacht, daß nicht nur die Kriegsdienstverweigerung, sondern auch das Soldatsein den Christen in seinem Gewissen beanspruchen: Die Entscheidung ist in beiden Fällen vor dem Gewissen zu verantworten. Soldat zu sein, ist kein Beruf wie jeder andere, denn zur Berufsausübung gehört in diesem Fall einerseits der Einsatz von Waffen mit zum Teil großer Zerstörungskraft, andererseits die Bereitschaft, gegebenenfalls sein Leben zu riskieren. Schon heute kommt es darauf an, Angehörige der Bundeswehr breit und nachhaltig für die Einsatzsituationen zu qualifizieren, in denen herkömmliches Freund-Feind-Denken dysfunktional ist, weil der Einsatz häufig zwischen den Fronten stattfindet.

4. Zivile Konfliktbearbeitung und zivile Friedensdienste

  1. Noch ist der Sprachgebrauch für die mit dem Begriff der zivilen Konfliktbearbeitung gemeinten Aufgaben nicht einheitlich. Im Zusammenhang mit Kapitel VI der Charta der Vereinten Nationen und darin besonders dem Artikel 33 wird von "friedlicher Streiterledigung" oder "Streitbeilegung" gesprochen. Diese Kategorien beziehen sich auf die Ebene der Regierungen und das offizielle diplomatische Handeln. Der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen Boutros-Ghali hatte 1992 im Rahmen der "Agenda für den Frieden" mit den Begriffen der vorbeugenden Diplomatie, der Friedensschaffung, Friedenssicherung und Friedenskonsolidierung (post-conflict peace building) jene Handlungsformen benannt, in denen auch friedensrelevante Beiträge gesellschaftlicher Gruppen ins Blickfeld kommen können. In der angelsächsischen Friedensforschung und Konfliktberatung wird vorgeschlagen, den Begriff peace building für das Gesamt der Stufen und Ansätze zu nutzen, die nötig sind, um zu dauerhaftem Frieden zu kommen. Im deutschsprachigen Raum hat sich jedoch inzwischen als umfassender Begriff für die Bearbeitung gewaltträchtiger oder gewaltförmiger Konflikte (von ihrer Transformation oder Umwandlung in nicht-gewaltförmige Konflikte bis hin zur gewaltfreien Konfliktregelung bzw. Konfliktlösung) das Konzept der konstruktiven oder zivilen Konfliktbearbeitung herausgebildet. An diesen Sprachgebrauch wird im folgenden angeknüpft. Mit dem Begriff des Zivilen ist dabei – neben der Bedeutung des Nichtmilitärischen – zweierlei gemeint: zum einen, daß die Aktivitäten nicht nur auf der diplomatisch-politischen Ebene angesiedelt sind, sondern von Bürgerinnen und Bürgern getragen werden, zum anderen, daß sich diese Aktivitäten auf die friedensfördernde Umgestaltung der Beziehungen in einem Gemeinwesen richten.
  2. Die Aufgaben ziviler Konfliktbearbeitung legen eine neue Zusammenarbeit nicht nur zwischen gesellschaftlichen Initiativen, sondern auch zwischen staatlichen Vertretern der Außenpolitik, inter- und supranationalen Organisationen sowie friedenspolitisch engagierten gesellschaftlichen Akteuren nahe:
    Im Politikfeld der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung ist in der Bundesrepublik Deutschland seit langem eine Kooperation zwischen gesellschaftlichen und staatlichen Trägern verankert, da durch das Entwicklungshilfegesetz schon seit Jahren ein Konzept der Delegation bundesdeutscher Verpflichtungen an nationale und internationale gesellschaftliche Träger, darunter auch an entwicklungspolitisch orientierte Friedensdienste, geschaffen wurde. Bundesdeutsche Friedensdienste, die im Nord-Süd-Verhältnis tätig sind, haben neben den sogenannten solidarischen Lerndiensten, die im Rahmen des Zivildienstgesetzes als sogenannter anderer Dienst im Ausland gemäß § 14 b anerkannt werden, Fachdienste geschaffen, die als ökumenische Entwicklungsdienste in der Regel im Rahmen des bundesdeutschen Entwicklungshilfegesetzes als anerkannte Vertragspartner tätig sind. Zu den hier gemeinten Friedensdiensten, die im evangelischen Bereich in der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) zusammengeschlossen sind, ist insbesondere EIRENE zu zählen, ebenso der Weltfriedensdienst und europäische Freiwilligenprogramme. Ein neues Instrument der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit ist der vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung konzipierte und finanziell geförderte Zivile Friedensdienst (ZFD) als Gemeinschaftsaufgabe staatlicher und nichtstaatlicher Träger. Dabei geht es um den Abbau struktureller Konfliktursachen sowie um Beiträge zur Vermittlung in Konflikten, zum Wiederaufbau und zur Versöhnung.

    Im Politikfeld der Sicherheit und der Krisenprävention, also dem Bereich klassisch hoheitlicher Politik, wird in jüngerer Zeit auf staatlicher Seite ein deutlicher Bedarf an Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen, auch mit Friedensdiensten, artikuliert. Dabei geht es zunächst um Fachpersonal für die Kurz- und besonders auch die Langzeitmissionen, die im Rahmen der neuen OSZE-Mechanismen zur Krisenprävention und Demokratieförderung eingesetzt werden. Das erklärte politische Ziel dabei ist, daß Deutschland mit dem im Aufbau befindlichen Personenpool einen Beitrag zu den Krisenreaktionskräften der OSZE (REACT), der EU und der Vereinten Nationen leistet.

    Im Politikfeld der Menschenrechte und der Demokratie finden sich zahlreiche unabhängige gesellschaftliche Akteure, die in erster Linie als Korrektiv und Kritiker offizieller Politik tätig sind. Diese Stimmen werden ungern gehört, sobald sie das eigene Land betreffen, doch sind sie in ihrer Bedeutung für die Thematisierung von Problemlagen auch bei staatlichen Vertretern anerkannt. In diesem Feld ist die Förderung unabhängiger Medien und einer von professionellem Ethos geleiteten Berichterstattung besonders bedeutsam und wirkungsvoll.

  3. In der Praxis gibt es mit Blick auf das Handlungsziel dauerhaft ziviler Konfliktbearbeitung viele sich überlappende Tätigkeitsfelder für Regierungs- und für Nichtregierungsorganisationen: in der politischen, der infrastrukturellen und der interaktiven Dimension. Doch trotz vielversprechender Ansätze für die Förderung ziviler Friedensdienste und für die Erhöhung ihrer Wirksamkeit kann von einer ausreichenden Unterstützung bei weitem noch nicht gesprochen werden. Vielmehr muß auf der Ebene der Politik und der gesellschaftlichen Kräfte eine deutlich stärkere Unterstützung ausdifferenzierter ziviler Friedensdienste angemahnt werden, sowohl in finanzieller als auch in organisatorischer Hinsicht. Eine Klärung von Aufgabenteilung, Zuständigkeiten und Kooperation zwischen zivilen Aktivitäten und militärischen Aktivitäten ist dringlich.

    Konzeptionelle Überlegungen zur Zukunft christlicher Friedensdienste sind in einem Bericht zur "Zukunft christlicher Friedensdienste" vom Rat der EKD im November 1996 der Synode der EKD vorgelegt worden. Im Bereich der christlichen Friedensdienste lassen sich drei Handlungsfelder identifizieren, die sich bezüglich ihrer Aufgaben, Ziele und der Anforderungen an die Menschen, die tätig werden, unterscheiden:
    Soziale Friedensdienste ermöglichen den Teilnehmenden selbst Lernprozesse in sozialen Arbeits- und Konfliktfeldern im In- und Ausland. Die Einsätze haben oft zeichenhaften Charakter im Sinne der Versöhnungsarbeit. Ein anderer wichtiger Akzent liegt im interkulturellen Lernen. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang sind Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste und EIRENE.

Im Handlungsfeld regionale Friedensarbeit und Konflikttraining geht es vorwiegend darum, daß Menschen Kompetenzen entwickeln und Gelegenheit erhalten, sich friedensförderlich zu engagieren, sei es in der Jugendbildungsarbeit zur Gewaltprävention, in Streitschlichtungsprogrammen an Schulen oder Fortbildungsstätten. In diesem Handlungsfeld sind besonders der Ökumenische Dienst im konziliaren Prozeß und die verschiedenen Werkstätten für gewaltfreie Aktion von Bedeutung.

Das dritte Handlungsfeld wird in Analogie zum fachlichen Entwicklungsdienst Friedensfachdienst benannt. Hier geht es um die fachlich qualifizierte aktive Mitwirkung im Zusammenhang eines bestimmten Konfliktes. Das Spektrum reicht von der im engeren Sinn politischen Dimension über den Ausbau oder den Aufbau verläßlicher Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung bis hin zur Erneuerung gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese Tätigkeiten sind nicht ohne entsprechend abgestufte, durch besondere Qualifizierung erworbene Kompetenzen möglich, sei es als potentieller "Bürger-als-Friedensstifter" auf der Ebene politischer Multiplikatoren unterhalb der höchsten politischen Führungsebene, sei es als Beobachter von Gerichtsverfahren und Wahlen, sei es als Vermittler von Dialogen zwischen verfeindeten Kollektiven.
Die Erfahrung lehrt, daß bürgerschaftliches Engagement und zivile Friedensdienste gerade nach einer Phase offener Gewalt und militärischer Auseinandersetzungen eine ganz besondere Bedeutung haben. Hilfe beim Wiederaufbau von Häusern und materieller Infrastruktur, bei der Herausbildung demokratischer Strukturen, z. B. unabhängiger Medien, aber auch einer funktionierenden Verwaltung gehören dazu ebenso wie eine geduldige und sensible Hilfe bei der Wiederanknüpfung von Beziehungen zwischen verfeindeten Gruppen. Der Perspektive einer dauerhaft gelingenden Versöhnung, auf deren Grundlage sich Konflikte künftig gewaltfrei bearbeiten lassen, wird auch auf EU-Ebene zunehmend mehr Gewicht beizumessen sein, um historisch tief eingebrannte Gewaltzyklen zu beenden.

Die Kirchen haben hier besondere Kompetenzen. Ihre Rolle im Dienst am Frieden hat ihre Grundlage im Gebet und in der Gestaltung von Gottesdiensten. Ihre Aufgabe ist es aber auch, im umfassenden Sinne für den Frieden zu bilden. Die evangelische Kirche kann dabei auch an die in zivilen christlichen Friedensdiensten versammelten Erfahrungen anknüpfen und in Verbindung mit weiteren Partnerorganisationen, die unter anderem auch in der "Plattform Zivile Konfliktbearbeitung" zusammengeschlossen sind, eine langfristig orientierte Friedens- und Versöhnungsarbeit stärken. Diese Stärkung bedarf abgestufter, vielfältiger, aber vernetzter Qualifizierungsangebote sowie einer begleitenden Forschung und Evaluation. Dabei ist auch auf die Weiterentwicklung von Berufsbildern und Ausbildungsangeboten und die Absicherung von qualifizierten hauptberuflichen Friedensfachkräften zu achten. Sonst bleibt dieses Arbeitsfeld überwiegend reduziert auf diejenigen, die es sich aufgrund von finanzieller Absicherung und/oder hohem Idealismus und Risikobereitschaft 'leisten' wollen und können, für eine begrenzte Zeit dafür tätig zu werden.

5. Ausblick

Der Kosovo-Krieg hat - in der evangelischen Kirche, aber auch weit darüber hinaus - die kontrovers geführte Debatte neu angefacht, ob es ausreicht, durch die Entwicklung und strikte Anwendung ethischer Kriterien für eine Begrenzung der Anwendung militärischer Gewalt zu sorgen, oder ob es im Gegenteil darauf ankommt, der Anwendung militärischer Gewalt überhaupt die ethische Legitimation zu entziehen. Diese Kontroverse begleitet die Geschichte der christlichen Kirchen von ihren Anfängen an. In unterschiedlichen Situationen haben sich Christen in ihrem Gewissen unabweisbar mit der Frage konfrontiert gesehen, ob das Evangelium nicht die radikalpazifistische Konsequenz fordert oder jedenfalls nahelegt. Auf der Ebene der grundsätzlichen ethischen Diskussion ist die Kontroverse unentschieden und wohl auch unentscheidbar. Viele Anzeichen deuten allerdings darauf hin, daß die Veränderung der politischen Verhältnisse heute zu einer Situation geführt hat, in der faktisch der Einsatz militärischer Gewalt durch eingeschränkte Erfolgsaussichten charakterisiert ist.

Es war bereits davon die Rede (s. oben I), daß derjenige Typ des Krieges, bei dem reguläre Armeen feindlicher Staaten gegeneinander kämpfen, seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts immer weiter an Bedeutung verloren hat. Statt dessen haben gewaltsame Konflikte innerhalb von Staaten ihrer Zahl, Dauer und Intensität nach stark zugenommen. Die bisherigen Erfahrungen nähren den Zweifel, ob die Anwendung militärischer Gewalt geeignet ist, solche Konflikte zu beenden, die Gefahr für die Gewährleistung grundlegender Menschenrechte zu beseitigen und eine dauerhaft friedensförderliche politische Ordnung zu schaffen. Der Verlauf von Konflikten unterschiedlicher Art und in unterschiedlichen Regionen - Nordirland, Israel/Palästina, Somalia, Liberia, Tschetschenien, manche zählen Bosnien, Kosovo und Mazedonien hinzu - zeigt ein übereinstimmendes Muster: Eine technisch noch so hervorragend ausgestattete Armee erreicht keine - über die Unterbindung von Massenvertreibungen und -verfolgungen oder über die Trennung der kämpfenden Parteien hinausgehenden - nachhaltigen Erfolge. Das gilt insbesondere dann, wenn sie es mit kleinen, beweglichen Widerstandsgruppen (Rebellen, Terroristen) und mit einer Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Ethnien zu tun hat. Die Ablösung nationaler Armeen durch Streitkräfte, die gemäß Art. 43ff ChVN den Vereinten Nationen zugeordnet und unterstellt wären, würde an dem beschriebenen Problem wohl nichts ändern. Die nachhaltige, friedenschaffende Leistungsfähigkeit herkömmlicher militärischer Mittel in einer veränderten politischen Landschaft ist es, die in Frage steht.

Militärische Fähigkeiten sind auch in Zukunft keineswegs entbehrlich. Der Verteidigungsfall, auch der kollektive Verteidigungsfall, ist - so unwahrscheinlich er derzeit in vielen Regionen sein mag - nicht grundsätzlich auszuschließen. Dafür geeignete militärische Mittel müssen bereitgehalten werden, sie lassen sich nicht kurzfristig schaffen. Im Blick auf die Konfliktherde der Welt gibt es eine Reihe von Beispielen, an denen deutlich wird, daß ohne das Dazwischengehen bewaffneter Gewalt dem Haß, der Zerstörung und dem Morden überhaupt nicht Einhalt geboten werden könnte. Allerdings zeigt sich in diesen Fällen auch, daß die herkömmlichen militärischen Mittel nur sehr begrenzt einsatzfähig und wirksam sind und eine bewaffnete Gewalt anderer, neuer Art gebraucht wird; das ist auch gemeint, wenn von verschiedenen Seiten für den Einsatz polizeilicher statt militärischer Kräfte plädiert wird. Vor allem aber läßt sich am Verlauf der jüngsten Konflikte ablesen, daß die Anwendung militärischer Gewalt bei der vorrangigen Aufgabe der Friedensförderung nur wenig weiterhilft. Die Politikgestaltung muß vielmehr vorrangig mit Strategien verfolgt werden, die durch die Förderung von Demokratie und Wirtschaft und solchen Lebensbedingungen, die den Interessen der Menschen dienen, deren Fähigkeit zur friedenstauglichen Konfliktbearbeitung stärken. Für das kommende Jahrzehnt kommt es darauf an, mehr Klarheit darüber zu gewinnen, in welchen konkreten Kontexten welche Mittel zur Konfliktbearbeitung und Konfliktüberwindung angemessen und wirkungsvoll sind. Der Leitbegriff des gerechten Friedens dient dabei als Wegweiser für alle künftigen Schritte auf dem Weg des Friedens.


Mitglieder der Kammer für Öffentliche Verantwortung

(Stand 30. Juni 2001)

  • Ernst Benda, Karlsruhe
  • Andrea Dörries, Hannover
  • Johannes Fischer, Basel
  • Joachim Gauck, Berlin
  • Reinhard Göhner, Berlin
  • Wilfried Härle, Heidelberg (Vorsitzender)
  • Kristin Heyne, Berlin
  • Eberhard Jüngel, Tübingen
  • Hans Peter von Kirchbach, Potsdam
  • Otto Graf Lambsdorff, Berlin
  • Christine Lieberknecht, Erfurt
  • Stephan Reimers, Berlin
  • Margot von Renesse, Berlin
  • Gerhard Robbers, Trier
  • Richard Schröder, Berlin
  • Eva Senghaas-Knobloch, Bremen (stellvertretende Vorsitzende)
  • Ingrid Spieckermann, Hannover
  • Klaus Tanner, Halle
  • Ursula Voskuhl, Bonn
  • Hermann Barth, Hannover (Ständiger Gast)
  • Eberhard Pausch, Hannover (Geschäftsführer)