Verantwortung und Weitsicht.
Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur Reform der Alterssicherung in Deutschland, Gemeinsame Texte 16, 2000
3. Die entscheidenden Herausforderungen - Situationsanalyse
Das bisherige System der gesetzlichen Rentenversicherung ist auf die gemeinschaftliche Absicherung der elementaren Lebensrisiken ausgerichtet: Erwerbsunfähigkeit, Alter und Ausfall des Ernährers durch Tod. Seine Grundstruktur folgt dem richtigen Grundgedanken, die Alterssicherung in Solidarität der Generationen gesetzlich auszugestalten: Die tragenden Elemente sind
- die regelmäßige Anknüpfung der Versicherungspflicht an eine Beschäftigung als Arbeitnehmer,
- die Umlagefinanzierung über rechtlich und organisatorisch verselbständigte Träger, die jeweils hälftige Aufbringung der Beiträge durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber,
- die Beitrags- und damit Lohnbezogenheit der Renten sowie
- die an den Ausfall des Unterhalts durch den Versicherten anknüpfende, abgeleitete Hinterbliebenenversorgung.
Die Neuordnung der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahre 1957 hat sich als Eckpfeiler unseres Sozialstaates bisher bewährt. Durch diese Reform wurde die Teilnahme der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer am wachsenden Ertrag der Wirtschaft gesichert. Die Neuordnung orientierte sich jedoch an den damaligen sozialen Verhältnissen und Leitvorstellungen, denen zufolge Heirat und Familie mit Kindern das Normale waren und Väter in der Regel dauerhaft erwerbstätig, Mütter aber weitgehend voll mit hauswirtschaftlichen und Erziehungsaufgaben beschäftigt waren. Dies hat sich grundlegend gewandelt. Zudem kamen auf die Alterssicherungssysteme in der Folgezeit viele politisch motivierte, vom Parlament beschlossene Änderungen und Ausweitungen zu. Solange die Wirtschaft wuchs und auch immer mehr Arbeitsplätze entstanden, konnten die Beitragseinnahmen und die Leistungsausgaben einigermaßen im Gleichgewicht gehalten werden.
Dieses System steht vor grundlegenden Herausforderungen:
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Eine entscheidende Bedeutung für die Zukunft der Alterssicherung hat die Geburtenrate . Nach den Feststellungen der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission "Demographischer Wandel in Deutschland" liegt die Zahl der Geburten unter der für die Erhaltung der Bevölkerungsgröße erforderlichen Zahl. Das gerade für die Altersvorsorge so bedeutsame "Bestanderhaltungsniveau" wurde in Deutschland bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts unterschritten und später trotz des sog. Babybooms in den 60er Jahren von keiner Generation mehr erreicht. Seit Mitte der 70er Jahre liegt die Zahl der Geburten um rund 1/3 unter der für die Erhaltung der Bevölkerungsgröße erforderlichen Zahl.
Die Folgen dieser Entwicklung für die Alterssicherung sind gravierend. Als umlagefinanziertes Alterssicherungssystem ist die gesetzliche Rentenversicherung einem besonderen Risiko ausgesetzt, wenn sich das zahlenmäßige Verhältnis der Generationen zueinander spürbar verändert. Dann nämlich ändert sich das Verhältnis von Leistungsempfängern und Beitragszahlern grundlegend. Mittel- und langfristig ist deshalb mit erheblichen Schwierigkeiten für die Alterssicherung zu rechnen.
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Zum anderen verschiebt sich seit längerer Zeit die Relation zwischen Erwerbstätigen und Rentenbeziehern aufgrund der erfreulicherweise deutlich gestiegenen und voraussichtlich weithin steigenden Lebenserwartung : Heute hat ein 65jähriger Versicherter eine verbleibende durchschnittliche Lebenserwartung von über 15 Jahren, eine Versicherte gleichen Alters von annähernd 19 Jahren. Dementsprechend verändert sich die durchschnittliche Rentenbezugsdauer. Es ist augenscheinlich, daß dieser Effekt durch eine "Frühverrentung" von Versicherten zusätzlich verstärkt wird.
Beide Faktoren - die demographische Entwicklung wie die Verlängerung der durchschnittlichen Rentenbezugsdauer infolge der gestiegenen Lebenserwartung - sind bereits heute für die weitere Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung bedeutsam. Zwar hängt eine genaue Prognose der auf die gesetzliche Rentenversicherung zukommenden Belastungen von verschiedenen weiteren Faktoren ab. Diese können aber voraussichtlich die durch die demographische Entwicklung bedingten Effekte nur teilweise glätten und sind ihrerseits in ihren konkreten Auswirkungen nur bedingt abschätzbar.
- Als bedeutsamer Faktor für die gesetzliche Rentenversicherung erweist sich die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen : Sie zahlen eigene Beiträge zur Rentenversicherung und erwerben eigene Ansprüche. Damit nimmt auch der Anteil derjenigen zu, die im erwerbsfähigen Alter sind und tatsächlich einer Erwerbsarbeit nachgehen. Allerdings haben Frauen meist geringere Einkünfte als Männer, sind öfter teilzeitbeschäftigt oder haben unvollständige Versicherungsbiographien. Dies bleibt nicht ohne Folgen für ihre Sicherung im Alter.
- Von erheblicher Bedeutung ist auch die durchschnittliche Dauer des Erwerbslebens . Diese hat sich in den letzten Jahrzehnten durch die Verlängerung der Ausbildungsphase einerseits und die Zunahme von Frühverrentungen andererseits in größeren Bevölkerungsgruppen sehr verkürzt. Nur wenn es gelingt, trotz des starken ökonomischen Wandels die älteren Arbeitskräfte wieder länger in Beschäftigung zu halten, könnte hier eine Entlastung der Rentenversicherung erreicht werden.
- Wichtig für die Situation der Alterssicherung ist auch die Frage des Zuzugs von Ausländern . Der ist bei weitem nicht so groß, daß eine deutliche Verbesserung für die Renten erwartet werden könnte. Es müßte dann schon jährlich eine sehr hohe Zahl von Ausländern einwandern und mit ihren Familien integriert werden. Dies erscheint kaum realistisch.
- Eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt auch der medizinische Fortschritt : Er hat erheblichen Einfluß auf die Entwicklung der Lebenserwartung, beeinflußt aber auch die Kosten des Gesundheitswesens und damit die auf die gesetzliche Krankenversicherung zukommenden Lasten.
- In den jüngeren Generationen gleichen sich die Erwerbsbiographien von Männern und Frauen an. Viele Frauen wollen auf Erwerbstätigkeit zu Gunsten von Kindern nicht mehr verzichten, während bei den Männern Unterbrechungen der Erwerbsbiographien zunehmen. Das Bild vom lebenslang alleinverdienenden Mann, der in einem Vollzeitberuf bis zum Renteneintritt seine Familie versorgt, tritt mehr und mehr zurück. Eine zunehmende Bedeutung haben Erwerbsbiographien von Frauen und Männern, die durch Kinderpause, durch Arbeitslosigkeit, durch Auslandsaufenthalt, durch eine Phase ehrenamtlicher Arbeit und andere Anlässe unterbrochen sind. Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigungen nehmen zu. Die Folgen für die Alterssicherung dieser Menschen sind gravierend.
Es sind also zwei neue Dimensionen sozialer Ungleichheit entstanden: diejenige zwischen Personen mit generativen Beiträgen und solche ohne Kinder und diejenige zwischen Personen mit lebenslangen Erwerbsperspektiven (Normalarbeitsverhältnisse) und solchen mit wechselhaften und unsteten Erwerbsverläufen.
Alles in allem besteht deshalb dringlicher Handlungsbedarf im Hinblick auf eine langfristig angelegte Reform des derzeitigen Systems der Altersvorsorge. Dieser erstreckt sich nicht zuletzt auf die Zeit nach 2030, da schon heute erkennbar ist, daß die Relation zwischen der Zahl der Erwerbstätigen und der der Rentenbezieher spätestens dann deutlich ungünstiger wird.