Zur Neuregelung des Kindschaftsrechts
I. Grundsätze für eine Neuordnung des Kindschaftsrechts
Der soziale Wandel in unserer Gesellschaft ist auch mit tiefgreifenden Veränderungen im Bereich von Ehe, Familie und Kindheit verbunden. Familienstrukturelle Veränderungen, Pluralisierung von Lebensformen und Lebensstilen, grundlegende Veränderungen im Verständnis der Rolle der Frau, von Mutterschaft und Elternschaft, ein gewachsenes Verständnis von Gleichberechtigung, die Notwendigkeit einer stärkeren Teilhabe der Männer am Familienleben und an der Familienverantwortung machen es dringend notwendig, das Kindschaftsrecht umfassend zu überdenken und neu zu ordnen. (Zu den Fragen von Ehe und Familie hat sich der Rat der EKD aus Anlaß des Internationalen Jahres der Familie 1994 geäußert in "Ehe und Familie 1994 - Ein Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland", EKD-Texte 50; herausgegeben vom Kirchenamt der EKD. Dieses Diskussionspapier beschränkt sich insofern auf die Fragen des Kindschaftsrechts.)
Eine Neuordnung des Kindschaftsrechts soll sich an folgenden Zielvorstellungen ausrichten:
Ausgangspunkt für ethische und daraus folgende juristische Überlegungen zu einer Reform des Kindschaftsrechts ist ein Perspektivenwechsel in der Art und Weise, wie Kinder heute in Familie, Gesellschaft und Kirche wahrgenommen werden. Kern dieses Perspektivenwechsels ist es, vom Kind her zu denken. Bedürfnisse, Interessen und Belange von Kindern zu respektieren bedeutet, auch alle rechtlichen Regelungen aus der Perspektive von Kindern zu überprüfen. (So auch die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die sich auf Ihrer Sitzung in Halle/Saale 1994 mit dem Schwerpunktthema "Aufwachsen in schwieriger Zeit - Kinder in Gemeinde und Gesellschaft" beschäftigt hat.)
Eine Sichtweise, die vom Kind her denkt, stellt das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt und hat folgende Konkretionen:
1. Kontinuität von Beziehungen zu beiden Eltern unterstützen
Ein Kind braucht stabile und kontinuierliche Beziehungen sowie verläßliche Fürsorge im Sinne einer beiderseitigen unkündbaren Elternverantwortung. Die Ehe bleibt die Rechtsgestalt, die am besten und aus sich selbst heraus stabile und kontinuierliche Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sichert. Sie muß deshalb aus christlicher Überzeugung, aber auch aufgrund des Artikels 6,1 GG geschützt und als die dem Wohl des Kindes am besten dienende Ordnung gefördert werden. Wo das Kind nicht in einer Ehe aufwachsen kann, muß versucht werden, dem Kind möglichst viel Gemeinschaft mit seinen Eltern zu erhalten.
2. Kinder verheirateter und nicht verheirateter Eltern gleichstellen
Ein Denken in statusrechtlichen Kategorien führt unter Umständen zu anderen Ergebnissen als eine Denkweise, die das Kind in den Mittelpunkt stellt und sich an seinem Wohl orientiert. Das gilt insbesondere für die das geltende Kindschaftsrecht prägende Einteilung in eheliche und nichteheliche Kinder. Sind die Eltern eines Kindes nicht miteinander verheiratet, so ergeben sich hieraus in vielerlei Hinsicht andere Bedingungen als sie für Kinder verheirateter Eltern bestehen. Diesen Unterschied kann das Recht nicht übergehen. Sie rechtfertigen jedoch keine prinzipiell verschiedenen Regelungen im Hinblick auf die Kinder. Das einheitliche Ziel muß es sein, dem Kind das höchstmögliche Maß an Gemeinschaft mit seinen Eltern zu ermöglichen, und zwar unabhängig vom rechtlichen Status der Eltern. Ein Kind hat Mutter und Vater - unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind oder nicht.
3. Elternrecht soll dem Kindeswohl dienen
Vom Kind her zu denken, heißt nicht, sich gegen Eltern und ihr Elternrecht zu stellen. Das Kindeswohl ist eng verknüpft mit der beidseitigen unkündbaren Elternverantwortung. Eine sozialethische Betrachtung kann auch nicht daran vorübergehen, daß die Beteiligten - Kind, Mutter und Vater - jeweils für sich berechtigte und schützenswerte Interessen haben. Dies betrifft die Eltern einzeln wie auch in ihrer Beziehung zueinander. Bei der Lösung von Konflikten der Eltern muß konsequent gelten, daß aus Elternschaft kein "Recht auf das Kind" erwächst, sondern immer eine gemeinsame Verantwortung für das Kind; diese Verantwortung ist wesenbestimmender Inhalt des Elternrechts.
4. Elternschaft vom Kind her bestimmen
Vom Kind her zu denken, bedeutet auch, Elternschaft konsequenter als bisher aus der Sicht des Kindes zu bestimmen. Neben den leiblichen (genetischen, biologischen) Eltern sind auch Personen zu berücksichtigen, deren Verhältnis zu dem Kind auf Zusammenleben und Übernahme von tatsächlicher Fürsorge und Verantwortung beruht, die allein "soziale Elternschaft". Schon im geltenden Recht ist Elternschaft nicht streng an die Abstammung geknüpft (vgl. Adoption, Scheinehelichkeit u.a.). Aus den Bedürfnissen und dem Interesse des Kindes heraus ist zu prüfen, ob gewachsene Bindungen zwischen Kindern und sozialen Eltern verstärkt zur Begründung oder Übertragung von rechtlicher Elternverantwortung führen können.
5. Elterliche Sorge einvernehmlich regeln
Die Prämisse, daß Kindern ein höchstmögliches Maß an Gemeinschaft mit beiden Eltern ermöglicht werden sollte, hat bei nicht verheirateten Eltern sowie bei Trennung und Scheidung entsprechende Konsequenzen. Die Regelung der elterlichen Sorge und des Umgangs mit dem Kind verlangt aktives Mitwirken beider Eltern, um den Interessen des Kindes gerecht zu werden. Regelungen, welche im Einvernehmen beider Eltern gefunden werden, sind in der Regel dauerhafter und entsprechen dem Kindeswohl eher als Regelungen, die vom Gericht entschieden werden müssen, weil Eltern auf konträren Standpunkten beharren. Das gerichtliche Verfahren muß darauf angelegt sein, die Bereitschaft der Eltern zu einer Einigung zu fördern und jede Chance zu einer einvernehmlichen Regelung zu nutzen. Das Recht sollte Eltern stärker als bisher darauf verweisen, ihre elterliche Verantwortung möglichst durch einvernehmliche Regelungen ihrer Konflikte wahrzunehmen.
Ist die gemeinsame Sorge beider Eltern nicht zu realisieren, so sollte darauf hingewirkt werden, daß die Eltern die Möglichkeiten zur gemeinsamen Verantwortung unterhalb der Schwelle elterlicher Sorge ausschöpfen (z.B. Umgang mit dem Kind, Austausch von Informationen über das Kind und sonstige Teilhabe an seinem Leben). Nicht jeder Konflikt um elterliche Sorge und Umgang sollte gerichtlich entschieden werden müssen.
6. Unterhaltsrecht an der Verantwortung beider Eltern ausrichten
Vom Kind her zu denken bedeutet, das Unterhaltsrecht konsequent auf die gemeinsame Veranwortlichkeit beider Eltern auszurichten. Ein nicht an "Zuteilung von Elternrecht, sondern vorrangig an der Verwirklichung von Elternverantwortung orientiertes Kindschaftsrecht muß den Zuwachs von Rechten einerseits und die stärkere Beteiligung der Eltern an den Verpflichtungen andererseits als Einheit sehen.
Im Vordergrund notwendiger Überprüfungen des Unterhaltsrechts steht die Forderung nach Aufhebung der Ungleichheit von Kindern verheirateter und nicht verheirateter Eltern. Dies betrifft die Angleichung der materiellen wie der verfahrensrechtlichen Regelungen für den Kindesunterhalt, aber auch den sogenannten Betreuungsunterhalt für Mütter. Er sollte im Interesse der Gewährleistung elterlicher Erziehung und Betreuung auch bei einem Kind nicht verheirateter Eltern voll den angemessenen Bedarf abdecken und sich zeitlich auf die für das Kind notwendige Betreuungs- und Erziehungszeit erstrecken.
In diesem Zusammenhang muß auch darauf hingewiesen werden, daß sich die Unterhaltsverpflichtung von Eltern gegenüber ihren minderjährigen und in Ausbildung befindlichen Kindern durch den Grad ihrer sozialethischen Inpflichtnahme aus den Übrigen Bestimmungen Über Verwandtenunterhalt hinaushebt. Sie ist Teil der Elternverantwortung ebenso wie das Recht und die Pflicht der elterlichen Sorge.
Die demographischen und familienstrukturellen Veränderungen verstärken zunehmend die Ungleichheiten bei der Verteilung von Unterhaltsverantwortungen.
Notwendige Änderungen des Unterhaltsrechts sind deshalb verbunden mit der Verpflichtung der staatlichen Gemeinschaft, diejenigen, die Unterhaltsverantwortung für Kinder tragen, weit stärker als bisher durch einen sozial gerechten Familienlastenausqleich und durch gezielte Transfers zu unterstützen.
7. Verantwortung beider Eltern stärken und erhalten
Vom Kind her zu denken macht es notwendig, Eltern weit stärker als dies gegenwärtig geschieht, bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung für Kinder zu unterstützen. Ein konsequent an Elternverantwortung anknüpfendes Kindschaftsrecht erfordert, daß mehr Hilfen zur Selbsthilfe angeboten und diese so ausgestaltet werden, daß sie von Eltern gerade auch in Krisensituationen wirksam genutzt werden können. Die Stärkung und Erhaltung beiderseitiger Elternverantwortung muß vermehrt in außergerichtlichen Verfahren (wie Beratung und Mediation) gesucht werden. Erforderlich sind Angebote sozialer Beratung mit hoher Kompetenz und Akzeptanz sowie ein Rechtsanspruch auf Beratung. Im Vorfeld müssen vermehrt Eltern? und Familienbildung dazu beitragen, Eltern zu befähigen, die Kinder Über einen Umgang, der sie ernst nimmt, zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten und Gemeinschaftsfähigkeit zu erziehen. Eltern sollten darin unterstützt werden, auch bei Krisen auf der Partnerebene Elternverantwortung gegenüber den Kindern zu erfüllen.
8. Lebens- und Gestaltungsbedingungen für Familien verbessern
Vom Kind her zu denken, bedeutet auch, die Novellierung des Kindschaftsrechts als die rechtliche Ordnung zwischen dem Kind und seinen Eltern zu verbinden mit dem Anspruch an die staatliche Gemeinschaft, insgesamt die Gestaltung der Lebensbedingungen an der Verantwortung für Kinder und an deren Anspruch auf Entwicklung und Entfaltung auszurichten. Die "strukturelle Rücksichtslosigkeit" der Gesellschaft gegenüber Kindern hat vielfältige Auswirkungen:
- zunehmende Verengung natürlicher Erlebens- und Erfahrungsräume für Kinder durch Siedlungs-, Wohn- und Verkehrsstrukturen,
- Kommerzialisierung der kindlichen Lebenswelten,
- einseitige an Erwachseneninteressen orientierte Gestaltung der Medien
- und die dominant an "Wirtschaft" orientierten Arbeitsbedingungen.
Solche Faktoren führen dazu, daß Familien mit Kindern diese als Ursache vielfältiger Benachteiligungen erleben, z.B. als Hindernis für eine adäquate Beteiligung am beruflichen Aufstieg und gesellschaftlichen Leben. Unter bestimmten Bedingungen stellen Kinder sogar ein Armutsrisiko dar. Die notwendige Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit ist in einem Maße erschwert, daß dadurch ein Dauerkonflikt für Familien entsteht. Die Bereitschaft und Fähigkeit zu verantwortlicher Elternschaft wird durch solche Gegebenheiten eingeschränkt und verringert.
9. Kinder in Entscheidungen einbeziehen
Vom Kind her zu denken macht es unerläßlich, das Kind in alle seine Lebenssituation betreffenden Verfahren einzubeziehen. Es gibt nicht nur eine Elternverantwortung für das Kind und ein Wächteramt des Staates über die Ausübung dieser Verantwortung, sondern auch wachsende Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes zu selbständigem und verantwortungsbewußtem Urteil. Das Kind kann und soll auch auf seine Verantwortung für sich selbst angesprochen werden. Damit wird auch seine Fähigkeit und Bereitschaft wachsen, für andere Mitverantwortung zu übemehmen und sich zu einer gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu entwickeln. Im Recht muß die Anhörung des Kindes und die Beachtung der vom Kind selbst eingebrachten Vorschläge mehr Raum haben.
Ein Kind unter vierzehn Jahren hat gegenwärtig in familiengerichtlichen Verfahren nicht einmal das Recht, angehört zu werden. Widerspricht es einem übereinstimmenden Vorschlag der Eltern, so ist das Gericht dennoch in der Regel - ohne Rücksicht auf den Willen des Kindes - an deren Vorschlag gebunden. Die Erfahrungen zeigen, daß Kinder durchaus in der Lage sind, die Schwierigkeit einer Situation zu erfassen und zu einem vernünftigen Urteil zu kommen, wenn sie sich in einer angstfreien Atmosphäre äußern können. Ihre eigenen Gedanken darüber, was für sie selbst, für die Eltern und die Geschwister am besten ist, sind oft weiterführend und verdienen in jedem Falle sorqfältige Beachtung für die notwendige Entscheidung.