B. Ethische Kriterien für die Gesundheitspolitik

B.I. Allgemein-ethische Kriterien und theologische Ethik

  1. (59) Gute Gesundheitspolitik benötigt wie jede gute Politik Grundlagen, Kriterien und Ziele, die sie bestimmen und begrenzen. Solche Grundlagen, Kriterien und Ziele für eine menschengerechte Gesundheitspolitik finden sich im Recht, in der Ökonomie, in der Medizin und der Pflege. Darüber hinaus sind vor allem solche ethische Kriterien und Gesichtspunkte entscheidend, die in der Anthropologie, der Individual- und Sozialethik begründet sind. Allgemeine Akzeptanz können gesundheitspolitische Entscheidungen nämlich nur finden, wenn sie die Möglichkeiten, ein gutes Leben in Gemeinschaft mit anderen zu führen, nicht versperren oder unterlaufen. Ob eine jeweilige Gesundheitspolitik sich ethischen, rechtlichen, anthropologischen, ökonomischen und medizinisch-pflegerischen Überprüfungen stellt, ist nicht von vornherein ausgemacht. Sicher ist Politik die "Kunst des Möglichen", aber legitimerweise auch Macht auf Zeit, die viel Kompromissfähigkeit erfordert. Deshalb sind gesundheitspolitische Entscheidungen nicht immer daraufhin transparent, wem sie dienen oder nützen. Bisweilen wollen sie dies auch gar nicht sein. Angesichts dieser Uneindeutigkeit politischer Entscheidungen kann in einem demokratisch-rechtsstaatlich organisierten Gemeinwesen mit Hilfe der im Folgenden in Erinnerung gerufenen Kriterien die Richtung der jeweiligen Politik beurteilt und ggf. bei der nächsten Wahl korrigiert werden. Religion und Moral machen zwar nicht einfach Politik; sie machen aber zum einen eine menschenfreundliche Politik möglich und damit zum anderen auch manche Politik unmöglich. Dies ist dann der Fall, wenn Bürgerinnen und Bürger angesichts bestimmter Gründe und Kriterien zu dem Ergebnis kommen, dass die eingeschlagenen Wege korrigiert werden müssen.
  2. (60) Eine gerechte und gute Gesundheitspolitik kann wesentliche Impulse aus religiösen Überzeugungen gewinnen. Tragfähige religiöse Überzeugungen stehen aber keineswegs im Widerspruch zu Orientierungen, die sich der Reflexion praktischer Vernunft verdanken. Ihre ethischen Konsequenzen lassen sich vielmehr für alle Menschen guten Willens plausibel machen. Wenn biblische, kirchliche und theologische Perspektiven und Impulse mit allgemein plausiblen Standards weitgehend übereinstimmen, dann kommt ihnen im öffentlichen Diskurs besonderes Gewicht zu. Es spricht vieles dafür, dass die ethischen Rahmenrichtlinien, die jenseits weltanschaulicher Grenzen in unseren politischen Diskursen im Prinzip Akzeptanz finden, mit zentralen Aussagen christlicher Ethik konvergieren. Dieser Zusammenhang geht im öffentlichen Bewusstsein bisweilen verloren. Die Kirche hat deshalb eine besondere Verpflichtung, daran zu erinnern, welche grundlegende Rolle der christliche Traditionsstrom für unsere Sozial- und Gesundheitspolitik spielt. Das gilt etwa für den grundsätzlichen Wert der Solidarität der Starken mit den Schwachen, die gleichzeitige Bedeutung der Eigenverantwortung, die Notwendigkeit eines gerechten Ausgleichs zwischen den Generationen, die Rechte von Menschen mit Behinderung, wie sie etwa in der entsprechenden UN-Konvention festgelegt sind, oder die Notwendigkeit, Menschengerechtes und Sachgerechtes aufeinander zu beziehen. Es gilt aber auch für die ethisch begründete Ablehnung der Verschwendung von Ressourcen, die sich im Effektivitäts- und Effizienzkriterium zeigt.
  3. (61) Im Folgenden soll es darum gehen, solche konvergierenden ethischen Grundüberzeugungen sichtbar zu machen, sie im Lichte der christlichen Überlieferung zu interpretieren und für eine Antwort auf die ethischen Orientierungsfragen des Gesundheitswesens fruchtbar zu machen. Dafür sollen Grundlagen, Kriterien und Ziele eines Gesellschaftsmodells, das auch in der Gesundheitspolitik den Menschen in den Mittelpunkt stellt, skizziert werden. Dass die evangelische Kirche dabei von den Traditionen und Glaubensinhalten ausgeht, die ihr Trost und Ansporn sind, wird nicht überraschen. Sie verbindet aber - wo es möglich ist - "Perspektiven und Impulse aus dem christlichen Glauben" [4] mit dem "Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft" [5].

"Und unsern kranken Nachbarn auch!"

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