Herz und Mund und Tat und Leben
EKD-Denkschrift Nr. 143, 1998
3. Weichenstellungen und Entscheidungen
(65) Diakonischer Dienst legt Gewicht auf Freiheit, Mündigkeit und Selbständigkeit des hilfesuchenden Menschen und auf seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Deshalb setzt sich die Diakonie dafür ein, daß seiner Gottesebenbildlichkeit und Würde dadurch Rechnung getragen wird, daß ihm Recht verschafft wird. Soziale Strukturen sind so zu gestalten, daß der Hilfesuchende seinen Anspruch auf Menschenwürde auch selbst verwirklichen kann.
(66) In einer Zeit, die von einer zunehmenden Dominanz des Ökonomischen, von Spuren sozialer Kälte, von einer fortschreitenden Privatisierung der sozialen Lebensrisiken, von zunehmender Ungleichheit zwischen Bessergestellten und Benachteiligten gekennzeichnet ist, steht die Diakonie auf der Seite der Hilfebedürftigen, der Armen, Benachteiligten und Ausgegrenzten. Sie nimmt den einzelnen Menschen wahr, pflegt, heilt, tröstet, stärkt und fördert ihn in seinen Belangen. Die Diakonie widerspricht einem Menschenbild vom ausschließlich starken, gesunden und leistungsfähigen Menschen, der keiner Hilfe bedarf; sie sieht vielmehr den ganzen Menschen, also auch Krankheit, Behinderung, Gefährdung und Tod sowie die Krisen mitten im Leben. Ihr Menschenbild ist bestimmt von der Würde der Menschen und ihrer Rechte, aber auch von der Gebrochenheit menschlicher Existenz, von menschlicher Schuld und dem Zerbrechen menschlicher Gemeinschaft und Sozialität, das durch Gottes versöhnendes Handeln und seine Liebe geheilt wird. Diakonie will ein menschliches, erfülltes und gesellschaftlich integriertes Leben selbst im Horizont dieser Einschränkungen und Gefährdungen möglich machen.
(67) Diakonie ist deshalb beseelt von einer "Leidenschaft für den Menschen", der von Gott als einzigartig und wertvoll angesehen wird. Sie arbeitet "nahe am Menschen". Im "Leitbild Diakonie" heißt es zum Menschenbild der Diakonie: "Die Bibel nennt den Menschen, Mann und Frau, das 'Ebenbild Gottes'. Gott will und liebt jeden Menschen, unabhängig davon, was er ist und was er kann. Er nimmt ihn an - auch im Scheitern und in der Schuld. Daran richten wir unser Handeln aus. Wir treten besonders für Menschen ein, deren Würde mißachtet wird." Ausgangspunkt ist das biblische Gebot: "Liebe deinen Nächsten". Danach gibt es keine Trennung zwischen Starken und Schwachen, Hilfesuchenden und Helfern. Jeder und jede ist Helfer und Tröster des anderen. Diakonische Hilfe ist partnerschaftlich angelegt; sie ist nicht einfach nur ausgerichtet auf Defizite oder Schwächen eines Menschen, sondern vor allem ausgerichtet auf die vorhandenen Stärken und Kompetenzen im Sinne eines selbstbestimmten Lebens. Den anderen in seiner Würde anzunehmen und entscheiden zu lassen ist die grundlegende Haltung der Diakonie. Aus dem biblischen Menschenbild folgt, daß Hilfe bekommen und Hilfe geben nicht das Annehmen oder Verteilen von Almosen ist, sondern daß der bzw. die Hilfebedürftige ein Recht auf Hilfe hat. Hilfebedürftige werden in ihrer Würde beschädigt, wenn sie zu Bittstellern gemacht werden . Die Pflicht zum Helfen muß zum Rechtsanspruch des Hilflosen werden. Nur dann kann die Partnerschaft zwischen Helfenden und Hilfesuchenden verwirklicht werden. Nur ein Rechtsanspruch versetzt die Hilfesuchenden in die Lage, die Helfer und auch die Hilfe zu wählen. Die Diakonie ist mitverantwortlich für die Strukturen, in denen hilfebedürftige Menschen würdig leben können.
(68) Erfahrungen diakonischer Arbeit zeigen, wie wichtig es ist, daß Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wird. Betroffene finden oft eher die ihnen angemessenen und günstigen Lösungswege. Betroffene besitzen eine Kompetenz in eigener Sache, die auch durch ein noch so umfangreiches Wissen erfahrener Helferinnen und Helfer nicht ersetzt werden kann. Es ist deshalb wichtig, daß es ihnen ermöglicht wird, sich ihrer Kompetenz bewußt zu werden und sie verantwortlich in Anspruch zu nehmen. Die andersartige Befähigung der Helferinnen und Helfer tritt dann ihrer eigenen Begabung partnerschaftlich zur Seite. Die Hilfebedürftigen werden ernst genommen und das heißt: Gerade deshalb sind sie auch gefordert, selbst soweit wie möglich zur Bewältigung ihrer Lage beizutragen.
(69) Das Verhältnis zwischen Helfern und Hilfesuchenden ist von Nähe und Distanz gekennzeichnet. Es ist auch darin begründet, daß dem einen aufgegeben ist, Hilfe zu geben, und dem anderen, Hilfe anzunehmen. Beides ist nicht selbstverständlich. Hilfebedürftige können nie ganz von denen verstanden werden, die helfen und nicht selbst in der Situation des Hilfsbedürftigen sind. Helferinnen und Helfer erfahren in dieser Situation auch die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Zu echter Solidarität zwischen Hilfebedürftigen und Helfern kommt es dort, wo beide ihre Stärken und Schwächen einsetzen können. Es gibt auch Stärken der "Schwachen", die den "Helfern" zu einer Hilfe und Bereicherung ihres Lebens werden können.
(70) Gegen alle Versuche in der Gesellschaft, das Thema Armut zu tabuisieren und die Armut zu verdrängen und zu verschweigen, ist es das zentrale Anliegen der Diakonie, denen, die keiner hört, eine Stimme zu geben. Anliegen ist es, Orte zum Leben anzubieten und Menschen nach Möglichkeit in ihrer angestammten Lebenswelt zu fördern und ihnen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verhelfen. Aus Betroffenen müssen Beteiligte werden.
3.2 Gesellschaftspolitische Mitverantwortung in Staat und Gesellschaft wahrnehmen
(71) Diakonie gilt nicht allein dem einzelnen. Sie hat darüber hinaus eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe. Sie muß sich für die verantwortliche Gestaltung eines solidarischen und gerechten Gemeinwesens mit guten Lebensbedingungen für alle einsetzen und gegen die Entsolidarisierung und die Erosion der sozialen Sicherungen in Staat und Gesellschaft sowie gegen die Bürokratisierung und Lebensferne im System eintreten. Eine wichtige Aufgabe ist dabei die Zusammenarbeit mit anderen Diensten, Initiativen und Einrichtungen in der Zivilgesellschaft.
(72) Diakonie ist ein Beitrag für ein gerechteres und solidarischeres Gemeinwesen. Diakonie bekämpft nicht nur Symptome und hilft nicht nur den Opfern gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Ihre Aufmerksamkeit und ihr Engagement gelten vielmehr auch den Ursachen und Anlässen, die zu Ausgrenzung, Armut, Ratlosigkeit und Hilfebedürftigkeit führen. Diakonie versteht sich bewußt als Dienst der Kirche an der Gesellschaft. Sie tritt ein für die Prinzipien der Solidarität als moralische Verpflichtung, Pluralität als zu garantierende Form der Hilfeleistung und Subsidiarität als Grundprinzip gegen einen überregulierenden Staat. Gemeinsam mit anderen gestaltet sie eine menschenwürdige Gesetzgebung mit und tritt für eine chancengerechte Gesellschaft und eine konsequente Orientierung am Gemeinwohl ein. Sie wirkt bei der Erhaltung und beim notwendigen Umbau des Sozialstaates aktiv mit. Ihre Arbeit verbindet sich mit konkreten Vorstellungen und Visionen einer menschlicheren Gesellschaft.
Die Diakonie nimmt als Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege ihre Aufgabe bei der Gestaltung des Sozialstaats wahr. Die Freie Wohlfahrtspflege ist insgesamt von dem Gedanken der Subsidiarität und Pluralität geprägt. Die Diakonie ist dabei dem kirchlichen Selbstverständnis verpflichtet und handelt als Träger sozialer Aufgaben in eigenem Auftrag. Die Verpflichtung des Staates zur Daseinsvorsorge kann nicht von ihr übernommen werden. Die Diakonie bietet Menschen, die sich gesellschaftlich engagieren wollen, entsprechend ihren zeitlichen Möglichkeiten und persönlichen Fähigkeiten Betätigungs- und Beteiligungsmöglichkeiten und gestaltet damit auch Lernfelder für gesellschaftliche Verantwortung und Solidarität. Diese Ausrichtung ihrer Arbeit ermöglicht es, ihre der Gemeinschaft dienenden Überzeugungen und Werte gestaltend einzubringen und Nöten vorbeugend zu begegnen. Mit ihren Diensten unterstützt die Diakonie Menschen in individuellen Notlagen, nimmt mit ihnen Interessen der Betroffenen wahr und bringt diese in die öffentliche Diskussion ein.
(73) Mit ihrer Erfahrung und ihrer Nähe zu den Betroffenen kann die Diakonie durchaus auf Fehlentwicklungen und Defizite im Gemeinwesen aufmerksam machen, Gefährdungen benennen und Veränderungen anmahnen. Wer Flüchtlingen hilft, der weiß auch von der Notwendigkeit, Vertreibung und Krieg ein Ende zu setzen. Wer sich um arme Menschen kümmert, der kennt auch die Ursachen der Not. Mit ihrer sozialen Anschauung, Erfahrung und Phantasie kann die Diakonie zur Gestaltung der sozialen Sicherung im Land beitragen. Im Rahmen ihrer konkreten Arbeit kann sie neue Ansätze und Modelle erproben, die zu Vorbildern für umfassendere Regelungen werden können.
(74) Es geht der Diakonie um mehr, als nur um ihren engeren sozialen Aufgabenbereich. Es geht um das Eintreten für eine soziale und menschengemäße Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, um Beiträge zum gesellschaftlichen und politischen Miteinander, um die Förderung der bewahrenden Beziehungen, d. h. der "bewahrenden Ressourcen" in der Gesellschaft. Hierbei handelt es sich um überschaubare Lebensbeziehungen wie Familie, Ehe, dauerhafte Lebensgemeinschaften, soziale Netze, Nachbarschaftshilfen, ehrenamtliche und freiwillige Tätigkeit. Nicht minder geht es um die Mitgestaltung sozialer Sicherungssysteme, um das Mittragen und Mitgestalten von notwendigen Veränderungen in der Gesellschaft.
(75) Damit nimmt die Diakonie ihre biblische Aufgabe wahr, "der Stadt Bestes" zu suchen (Jer 29,7). Die Diakonie kann hier Ideengeberin, Vorbild, Gestalterin, Moderatorin im gesamtgesellschaftlichen Gespräch und Mahnerin sein. Die Stimme der Diakonie wird in der gesellschaftspolitischen Diskussion gehört. Vieles, was heute in weiten Teilen der sozialen Sicherung insbesondere auf kommunaler Ebene und Landesebene Standard ist, geht auf Vorschläge, Vorgaben und Anstöße aus der Diakonie der Kirche zurück. Nicht jede und jeder in der Kirche ist sich dessen bewußt. Diakonische Arbeit ist ein elementarer Beitrag zur Sozialkultur einer Gesellschaft (z.B. in Bereichen wie Ausbildung, Kranken- und Altenpflege, Gefährdetenhilfe, Sozialpädagogik, Sozialgesetzgebung) und zu einem versöhnten Miteinander. Sie wirkt mit ihren Möglichkeiten vorbeugend. Sie stärkt mit ihrem Engagement die solidarischen Kräfte der Gesellschaft.
(76) Gesellschaftspolitischer Dienst heißt auch: Dienst in Kritik und Widerspruch. Die Diakonie muß kritische Mahnerin sein im Blick auf Trends der Entsolidarisierung und Singularisierung in der Gesellschaft, im Blick auf Intoleranz, Ignoranz gegenüber behinderten und bedürftigen Menschen, Unkenntnis gegenüber der Lebenssituation von Menschen in besonders belastender Lebenssituation, Neid und Mißgunst gegenüber notleidenden Hilfeempfängern, krasse Benachteiligung, fortschreitende Ökonomisierung der Lebenswelt, zunehmende Armut, Ellenbogenmentalität und Ausgrenzung. Die Diakonie muß die Lebenslagen von Menschen kennen. Die Armutsberichte der Diakonie oder die jüngste Lebenslagenuntersuchung "Menschen im Schatten" sind wichtige Beispiele für diesen Dienst. Es geht darum, für ein kritisches Bewußtsein in der Bevölkerung zu sorgen und zu einer Schärfung der Gewissen beizutragen, um auf diese Weise wirkliche Veränderungen anzustoßen. Ein weiteres Ziel ist die selbstkritische Überprüfung der eigenen Angebote im Blick auf Leistungsfähigkeit, Akzeptanz und Kirchlichkeit.
(77) Die Diakonie muß aber auch Mahnerin sein im Blick auf Fehlentwicklungen in der Politik, etwa dann, wenn über das Maß des Verantwortbaren hinaus die Sozialgesetze ausgehöhlt und Hilfen für Benachteiligte in problematischer Weise abgebaut werden. Wir sehen heute mit Besorgnis, wie offene Sozialarbeit reduziert, gemeindenahe Beratungsangebote abgebaut und Jugendhilfe eingeschränkt wird. Vor allem die präventiven Angebote gehen zurück.
(78) Viele befürchten, daß die Arbeit der Diakonie zunehmend von staatlichen und kommunalen Geldern abhängig wird. Damit würde sich die Frage stellen, inwieweit die Diakonie noch ein freies und unabhängiges Werk ist, und ob sie sich nicht vielmehr in Abhängigkeit begeben habe und ihr eigenes Selbstverständnis nicht mehr verwirklichen könne. Die Gefahr, daß die Diakonie zum bloßen Ausführungsorgan der Geldgeber werde, sei nicht zu übersehen. Hierbei ist freilich zu beachten: Die Arbeit der Diakonie wird zum überwiegenden Teil aus Geldern finanziert, die den Hilfesuchenden aufgrund von selbst erworbenen Rechtsansprüchen zustehen (Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung). Daneben wird die Arbeit der diakonischen Werke und ihrer Einrichtungen finanziert aus Leistungen aufgrund des Bundessozialhilfegesetzes oder freiwilligen kommunalen Leistungen, die in Würdigung der wertgebundenen Arbeit und des ehrenamtlichen Engagements gegeben werden. Nicht zu vergessen sind beträchtliche kirchliche und gemeindliche Mittel sowie die Eigenmittel der Diakonie, die die Unabhängigkeit und die Profilierung der Diakonie sichern helfen. Sie tragen insbesondere zur Innovation bei. In der Tat gibt es einen Reglementierungsdruck auf die Diakonie. Allerdings geht er nicht so sehr vom Staat als vielmehr von den Kostenträgern (Krankenkassen, Pflegekassen, Sozialhilfeträger) aus, die Leistungsangebote gleichförmiger gestalten wollen. Sie geraten nicht nur in den Konflikt mit der Diakonie, sondern auch mit dem Subsidiaritätsgebot und Pluralitätsgebot. Ihre Erwartungen sind weitgehend von funktionalen Gesichtspunkten bestimmt, die wertgebundene Gesichtspunkte außer acht lassen. Die Arbeit der Diakonie geschieht dann unter Bedingungen, die sie selbst nicht mehr bestimmt oder zumindest mitbestimmt. Dies ist für die Diakonie problematisch, denn es stellt sich damit die Frage, inwieweit es ihr möglich ist, als freies und unabhängiges kirchliches Werk zu arbeiten. Das immer bürokratischere Verhalten, das der Diakonie aufgezwungen wird, muß überwunden werden. Die Diakonie ist verpflichtet, alles zu tun, um bürokratische Strukturen abzubauen - vor allem bei sich selbst -, ihre Unabhängigkeit zu wahren, ihren kirchlichen Charakter auszuprägen und ihre Arbeit wertgebunden zu gestalten.
(79) Eine konstruktive wie kritische (und selbstkritische) Partnerschaft besteht nicht nur zwischen Diakonie und Staat, Diakonie und Sozialhilfeträgern sowie Versicherungsträgern, sondern auch zwischen der Diakonie und den Kräften der Zivilgesellschaft. Das Zusammenwirken der Diakonie mit den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege und anderer Initiativen hat sich bewährt. Es hat den gesellschaftlichen Konsens gestärkt und eine gewisse Vernetzung der Bemühungen möglich gemacht.
(80) Zwischen Diakonie und Caritas ist seit vielen Jahren eine vertrauensvolle Arbeit gewachsen. Dazu haben nicht zuletzt die guten Erfahrungen in Ostdeutschland beigetragen. Immer mehr sind Diakonie und Caritas dazu übergegangen, gegenüber Gesellschaft und Staat gemeinsam aufzutreten und ihre Kooperation zu vertiefen. Auch wenn getrennte Wege gegangen werden, ist zu fragen, ob bei innovativen Projekten verbindlichere Formen der Zusammenarbeit gefunden werden können.
3.3 Innovationen wagen - neue Modelle erproben
(81) Es gehört zur Aufgabe der Diakonie, ihre Aufgabenfelder in der Gesellschaft und in der Lebenswelt der einzelnen Menschen immer wieder neu zu entdecken, mit sozialer Phantasie neue Modelle der Hilfe und Begleitung aufzunehmen, zu unterstützen, zu erproben und einfallsreich verbesserte Arbeitsformen vorzuschlagen. Ihre Möglichkeit, auch ungewöhnliche Wege zu gehen, muß sie nutzen und darum Altes befragen.
(82) Diakonie hat in langen Traditionen vielfältige Formen diakonischer Hilfe entwickelt und so Sozialgeschichte mitgestaltet. Sie lebt aus diesen Traditionen, begegnet aber ungewohnten Herausforderungen innovativ. Ihr kommt darin eine Vordenker- und Vorreiterrolle zu. Wo die Angebote neu geordnet werden müssen, bringt sie ihre geistlichen Wurzeln und ihre fachliche Kompetenz zur Geltung.
(83) In auffallender Parallelität zur Zeit Johann Hinrich Wicherns entstehen gegenwärtig an vielen Orten und auf unterschiedlichsten Gebieten Initiativen, die sich neuartiger Problemlagen annehmen oder herkömmliche Probleme auf neue Art und Weise angehen. Sie erweitern das Erfahrungs- und Handlungsfeld sozialer Arbeit durch die unmittelbare Wahrnehmung von Problemen in der Lebenswelt der Betroffenen. Es mag sein, daß diese neue basisbezogene Arbeit auch auf den Rückzug des Sozialstaats zurückzuführen ist. Vor allem aber haben wir es hier mit einer neu erwachten Wahrnehmungsfähigkeit und Verantwortlichkeit für das soziale Zusammenleben zu tun. Es zeigt sich zugleich, daß erstaunlich viel soziale Kompetenz in der Bevölkerung geweckt werden kann und daß die Spendenbereitschaft für persönlich mitverantwortete Initiativen groß ist; auch stellen Menschen viel von ihrer Zeit zur Verfügung, sofern sie nur die Notwendigkeit dafür erkennen können.
(84) Viele dieser innovativen Modelle sozialer Arbeit wecken in den lokalen Gemeinden neues Leben und tragen dazu bei, die Kluft zwischen Kirchengemeinde und institutioneller Diakonie zu überbrücken. Initiativen, die aus der diakonischen Arbeit an der Basis neu entstehen, machen in aller Regel auch Defizite im System der Diakonie selbst sichtbar. Dazu gehören z.B. Angebote für junge Arbeitslose, diakonische Basisgemeinschaften für Flüchtlinge und Wohnungslose, Wohnraumprojekte, Netzwerke für Freiwillige, integrierte Hilfen zur Erziehung, Modelle von Jugendsozialarbeit, neue Wege im Ausbildungsbereich, Zentren von arbeitslosen Frauen, Seniorenhöfe für alte Menschen, sozialpsychiatrische und psychosoziale Hilfen, regionale Hilfen für mehrfach beeinträchtigte Suchtkranke, Selbsthilfeinitiativen für verwaiste Eltern, aber auch Angebote in der gemeindlichen Arbeit (z. B. Religionsunterricht für Erwachsene und junge diakonische Gemeinden u. a.). All dies sind Impulse mit dem Ziel, eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wieder zu ermöglichen.
(85) Diakonie und Caritas haben gemeinsam eine Lebenslagenuntersuchung für die neuen Bundesländer durchgeführt. Das Ergebnis enthält Anregungen für die weitere diakonische Gestaltung der Arbeit mit den Armen. Es eröffnet neue Einsichten und Möglichkeiten kirchlichen Engagements. Diese Initiative der kirchlichen Wohlfahrtsverbände hat eine empfindliche Lücke der Sozialstatistik geschlossen und die öffentliche Diskussion verändert.
(86) Die Hospizbewegung mit ihrer Begleitung und Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen kann heute als besonders sinnfälliges Beispiel für ein innovatives, lokal verankertes, von Freiwilligen und Hauptamtlichen gemeinsam ausgestaltetes neues Handlungsfeld verstanden werden.
(87) Innovationen beschränken sich nicht nur auf die diakonische Basisarbeit. In großer Vielfalt werden Innovationen von zahlreichen Einrichtungen entwickelt, im Bereich der Altenarbeit, der Behindertenhilfe und vor allem im Krankenhaus. So hat die Weiterentwicklung im Krankenhausbereich durch neue Methoden zu geringerer Belastung von Patienten und zur Verkürzung von Behandlungszeiten geführt und den Charakter der Einrichtungen als Orte des Lebens verstärkt. Solche neuen Wege und Methoden tragen dazu bei, Einrichtungen aus ihrer isolierten Stellung zu befreien und sich in regionalen Bezügen gemeindenah und lebensweltorientiert zu öffnen.
(88) Auch im Bereich Kampf gegen Armut und Wohnungslosigkeit entstand ein vielfältiges Netz von Initiativen auf unterschiedlichen Ebenen. Seit mehreren Jahren öffnen sich Kirchentüren für Wohnungslose, Einsame und Arme. Immer mehr Gemeinden - vor allem in den großen Städten - gestalten ihre Kirchen als "Vesperkirchen", in denen sich nicht nur die Gäste wohlfühlen, sondern auch die Helfer, die sie bewirten und die ärztliche und andere Hilfe gewähren. Bei denen, die aus Zeitgründen nicht mithelfen können, und bei Geschäftsleuten vor Ort stoßen die Aktionen häufig auf breite Zustimmung: Geld und Sachspenden fließen. Aus der unmittelbaren Wahrnehmung von Wohnungslosigkeit entstehen Initiativen wie Vereine "Betreutes Wohnen", in denen Menschen mit großem persönlichem Engagement Wohnungslosen oder nichtseßhaften Alleinstehenden eine Wohnung und nicht selten auch Arbeit verschaffen. Ein besonderes Beispiel für bürgerschaftliches und diakonisches Engagement ist die Gründung des Hamburger Spendenparlaments, das aus der Wohnungslosenarbeit hervorging. Im Spendenparlament verbinden sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten und politischen Lagern zu einer neuen Öffentlichkeit, um gemeinsam mit den Betroffenen nach Lösungswegen zu suchen. Durch einen jährlichen Betrag und möglichst einer zusätzlichen Spende in individueller Höhe entstehen Mitgliedschaften. Die Mitglieder entscheiden gemeinsam, welche Projekte der Armutsbekämpfung vorrangig aufgegriffen werden und mit welchen Methoden der größtmögliche Erfolg der Hilfe erzielt werden kann. In diesem Fall hat das Diakonische Werk den Start für ein breitgefächertes, selbstverwaltetes und viele Menschen einbeziehendes Hilfesystem gegeben. Dieses Modell hat zahlreiche Nachahmer in Deutschland gefunden.
(89) Verschiedene Elemente können in Zukunft zur Förderung innovativer Wege und Modelle beitragen:
Die häufig beklagte Distanz der heutigen Kirchengemeinden zu den Handlungsfeldern der Diakonie kann überwunden werden, wenn in den Gemeinden die Wahrnehmung von Not und Initiativen zu ihrer Überwindung gefördert, begleitet und reflektiert werden. So entsteht eine Basisdiakonie, die ihrerseits die institutionelle Diakonie neu beleben kann.
Charakteristisch für die neuen Modelle ist der unmittelbare Kontakt zu den von Not Betroffenen. Sie werden nicht nur als hilfebedürftige Mitmenschen ernst genommen, sondern nehmen an den Entscheidungen und an der Ausgestaltung der Hilfe teil. In ähnlicher Weise verläuft das Zusammenwirken von beruflichen Fachkräften und Freiwilligen, deren Kompetenz angeregt, angeleitet und genutzt wird.
Auch in neuen Ansätzen bei der Organisation von diakonischen Einrichtungen liegen Möglichkeiten, den Bedürfnissen der Hilfesuchenden noch besser zu entsprechen.
Das Entstehen neuer Kooperationsstrukturen im Gemeinwesen ist eine zusätzliche Chance. Durch die Vernetzung mit außerkirchlichen Initiativen entsteht eine Sensibilität für das Gemeinwohl und ein hohes Maß an Kooperations- und Integrationsbereitschaft. "Runde Tische sozialer Verantwortung" oder lokal orientierte "sozialpolitische Offensiven" machen es möglich, auch auf höherer Ebene neues Handeln freizusetzen.
3.4 Sich dem Wettbewerb stellen
(90) Die Diakonie befindet sich mit anderen im Wettbewerb und bejaht ihn. Sie geht in den Wettbewerb mit einem klaren diakonischen Profil.
(91) Auch in den Bereichen, in denen es um die Versorgung von Pflegebedürftigen und kranken Menschen geht, sind die Prinzipien Markt und Wettbewerb in den Vordergrund getreten. Der Wettbewerb zwischen öffentlichen, gemeinnützigen und privat-gewerblichen Anbietern nimmt zu. Darüber hinaus ist ein Wettbewerb innerhalb der gemeinnützigen Einrichtungen entstanden. So entstand eine große Zahl von privaten Altersheimen, Pflegediensten, Versorgungseinrichtungen, Behinderteneinrichtungen in den traditionellen Arbeitsfeldern von Diakonie und Caritas. Die Diakonie muß in diesem Wettbewerb ihr Selbstverständnis als eine frei-gemeinnützige Einrichtung deutlich zur Geltung bringen.
(92) Jeder Wettbewerb ist Gefahr und Chance zugleich - auch und erst recht für die Diakonie, die gerade den Menschen dienen will, die dem Wettbewerb nicht gewachsen sind:
Auf der einen Seite ist es ein eigenes Anliegen und eine Herausforderung für zahlreiche diakonische Einrichtungen, ihre Arbeit kostengünstiger und der Not der Hilfebedürftigen angemessener zu gestalten. Es geht um einen klügeren Einsatz der Mittel, um eine stärkere Konzentration auf die bedürftigen Menschen, um ein besseres Wahrnehmen der Aufgabe. Die ständige Veränderung und Verbesserung ist nicht nur die Chance der Diakonie, sie ist auch ein notwendiges Merkmal ihrer gegenwärtigen Situation und ihrer Geschichte. Die Anwendung des Wettbewerbsprinzips kann dazu führen, das Wahl- und Wunschrecht der Hilfebedürftigen zu stärken, wirtschaftliche Entscheidungen zu dezentralisieren, Macht zu verteilen und rationelle Formen des Leistungsangebots zu fördern.
Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland im Sozialbereich keinen wirklich freien Markt. Es gibt keine Elastizität der Nachfrage und keine Homogenität der Güter. Daneben ist die Kundensouveränität in diesem Bereich eingeschränkt. Es ist für die Diakonie nicht unproblematisch, unter den derzeit geltenden Konditionen in einem ökonomisch dominierten Spiel mitzuwirken. Schwache und Hilfebedürftige dürfen nicht zu bloßen "Kunden" degradiert, Hilfe und Zuwendung zu Bedürftigen dürfen nicht zu bloßen "Marktartikeln" umfunktioniert werden. Diakonische Arbeit muß die Kostenstruktur der Arbeit und die Entwicklung der Standards mit äußerster Konzentration betrachten. Dazu gehört die Entwicklung der vereinbarten Vergütungen ebenso wie die Sicherung der Standards der Sozialarbeit. Wettbewerbsfähigkeit hängt zudem in hohem Maße von qualifizierten Mitarbeitern ab. Die wettbewerbsbedingte Kostensenkung kann zu einer Reduzierung der Vergütungen und der Qualifikationsanforderungen führen.
(93) Um die Position der Diakonie im Wettbewerb zu verbessern, müssen betriebswirtschaftliche Innovationen realisiert werden. Dazu gehören: effektive und transparente Betriebsstrukturen, die Modernisierung der Arbeitsabläufe, die Modernisierung des Arbeitsrechts, ein ständiges Controlling, die interne Qualitätsentwicklung, die Herstellung von Quervergleichen gegenüber anderen Anbietern hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit und Qualität der eigenen Leistung.
(94) In weiten Bereichen der diakonischen Arbeit gibt es eine intensive Bemühung um den optimalen Einsatz der Ressourcen, um verstärktes Kostenbewußtsein und eine möglichst hohe Klientenorientierung im Sinne eines verantwortlichen Verbraucherschutzes. Damit sollen bürokratischer Aufwand, Dienstbesprechungen, Wegezeiten, Abrechnungszeiten und dergleichen möglichst gering gehalten werden. Zur sozialen Phantasie muß - dies war der Diakonie stets deutlich - die ökonomische Phantasie hinzukommen und das Nachdenken darüber, wie eine noch bessere Hilfe zu noch günstigeren Bedingungen angeboten werden kann. Unter diesem Blickwinkel ist das ökonomische Prinzip eine heilsame Antwort auf Tendenzen der Schwerfälligkeit, der Bürokratisierung, der mangelnden Kostentransparenz sowie der ungebremsten Kostensteigerung. Das ökonomische Prinzip wirkt so gesehen dem Trend entgegen, immer teurere, aufwendigere, kostenintensivere Dienste anzubieten und sie gleichsam auf dem Verwaltungswege zum Standard zu machen.
(95) Die diakonische Arbeit ist bereit, im fairen Wettbewerb mit gewerblichen Anbietern sozialer Dienstleistungen ihren Teil zur Bewahrung und zum verbessernden Umbau des Sozialstaates beizutragen. Dieser Wettbewerb kann Machtkonzentration auch in der sozialen Arbeit verhindern und dezentralisierend wirken. Er kann die in der diakonischen Arbeit der Kirche Tätigen zu Mobilität, Anpassungsleistungen und Veränderungen sowie innovativen, preisgünstigen und menschenfreundlichen Leistungen drängen. Weil andere Anbieter im gleichen Sektor tätig sind, werden diese zu Konkurrenten. Innovation, Kreativität und Phantasie machen die Diakonie wettbewerbsfähig. Die Effizienz wird nicht nur von Wirtschaftsprüfern überprüft, sondern von den Patienten, Ratsuchenden und Hilfebedürftigen selbst verglichen. Effizienz und gute Versorgung sprechen sich herum und sind für die Entwicklung der Arbeit wichtiger als die Öffentlichkeitsarbeit mit ihren werbenden Angeboten. Im sozialen Wettbewerb wirbt am besten das, was diejenigen weitersagen, die gute Hilfe gefunden haben.
(96) Zu warnen ist allerdings vor einer undifferenzierten Sicht. Fairer Wettbewerb ist nur möglich, wenn die Eintrittsbedingungen für alle Anbieter gleich sind. Dies ist aber bei der Diakonie gerade nicht der Fall. Die frei-gemeinnützigen und die privat-gewerblichen Anbieter nehmen in unterschiedlichen Arbeitssystemen mit unterschiedlichen Freiräumen und Bedingungen am Wettbewerb teil. In weiten Bereichen findet die diakonische Arbeit der Kirche keine wettbewerblich geordneten Bedingungen vor. Die Refinanzierung von Leistungen im Bereich des Gesundheitswesens und des Sozialwesens erfolgt aufgrund von Rahmenverträgen und Vereinbarungen zwischen staatlichen Kostenträgern einerseits und den Spitzenverbänden und ihren Mitgliedern andererseits. Die Vorgaben der Kostenträger sind eng, die Kostensätze sind gedeckelt, der Spielraum für unternehmerisches Disponieren und Gestalten ist vielfach nicht gegeben. Es kommt hinzu: Viele Hilfebedürftige haben nicht die Möglichkeit, die Rolle des auswählenden "Marktteilnehmers" zu übernehmen.
(97) Zu der persönlichen Notlage vieler Hilfebedürftiger zählt gerade die Tatsache, daß sie Angebotsstrukturen am Markt nicht durchschauen können und auf eine verläßliche, ganzheitlich ausgerichtete Form der Hilfe angewiesen sind. Es geht bei der Hilfe für Mitmenschen nicht einfach nur um Versorgungsbedarf und Versorgungsleistungen, sondern es geht letztendlich um die Qualität der Arbeit im sozialen Bereich. Der Rat der EKD stellt in seiner Stellungnahme zur Reform der Sozialhilfe zu recht die Frage: "Geht es nach rein ökonomischem Kalkül um einen Wettbewerb der Preise und Billigangebote je nach dem, 'was der Markt hergibt'? Oder geht es um einen Wettbewerb um mehr Menschlichkeit, einen Wettbewerb um die Qualität, die Bedarfsgerechtigkeit und die Verläßlichkeit der erbrachten Leistung? Geht es um die Leistung, die dem Patienten und seiner Zukunft gemäß ist?" Soziale Effizienz kann in keiner Weise den preisorientierten Leistungen der Wirtschaft vergleichbar berechnet werden, wenn es beispielsweise um die komplexen Notlagen von Behinderten oder Wohnungslosen geht. Sobald die Arbeit mit Menschen eine besondere Zuwendung voraussetzt, Vertrauen, menschliche Nähe, Teilen und Mitteilen von Leid, Einfühlung, Klärung von Zerwürfnissen, Annahme von Gefühlen, Bewußtmachung und Aufarbeitung von Konflikten, taugt eine auf Berechenbarkeit setzende Ökonomisierung nicht. Ein an möglichst günstiger Rendite orientierter Anbieter sozialer Dienste hingegen wird dazu neigen, vor allem diejenigen Dienste zu erbringen, die "sich rechnen".
(98) Aus dem Selbstverständnis der Diakonie ergibt sich das Eintreten für die Gemeinnützigkeit ihrer Arbeit. Die Gemeinnützigkeit ist planmäßige, zum Wohl der Allgemeinheit und nicht des Gewinnstrebens wegen ausgeübte Sorge für notleidende und gefährdete Menschen. Etwa erzielte Gewinne werden für Hilfesuchende wieder eingesetzt. Weder natürliche Personen noch Vereinigungen dürfen durch Ausgaben, die dem Zweck fremd sind oder durch unverhältnismäßig hohe Vergütungen begünstigt werden. Freigemeinnützige Arbeit setzt dem legitimen Prinzip der Gewinnmaximierung privatgewerblicher Leistungsanbieter ausdrücklich das Prinzip des Mehrnutzens für den Hilfeempfänger und für die Gesellschaft schlechthin entgegen. Gemeinnützigkeit ist ein Qualitätssiegel diakonischer Arbeit. Sie bildet die Grundlage ehrenamtlichen Engagements.
(99) Zur Gestaltung der Diakonie in Markt und Wettbewerb sollen folgende Grundsätze beachtet werden:
Veränderungsdruck: Die Diskussion um Wettbewerb im sozialen Bereich muß der Tatsache Rechnung tragen, daß eine noch höhere Belastung der Bevölkerung in Deutschland mit Sozialausgaben kaum auf Akzeptanz stoßen wird. Diakonie hat in dieser Situation eine doppelte Aufgabe: Sie muß sich auf die Notwendigkeit von Kostensenkungen einstellen, und zugleich muß sie auch dafür eintreten, daß die Gesellschaft bereit ist, die Versorgung zu finanzieren, die die Schwachen und Bedürftigen brauchen. Eine zu hohen Kosten arbeitende Diakonie ist den gegenwärtig anstehenden Problemen nicht gewachsen. Es ist wenig hilfreich, sich den Veränderungen zu verweigern. Entscheidend ist, auch von Seiten der Diakonie konstruktive Überlegungen darüber anzustellen, wo sie sich verändern kann. Eine verantwortliche und besonnene wettbewerbliche Gestaltung sozialer Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zur Lösung der anstehenden Probleme. Dabei gilt: Nicht das Billigere ist unbedingt das Bessere. Die Diakonie kann, wie viele Beispiele zeigen, auch mit Angeboten, die hochwertig sind, im Wettbewerb bestehen.
Offensive Gestaltung des Wettbewerbs: Wettbewerb im Bereich sozialer Arbeit muß ein Wettbewerb sein, in dem die Diakonie ihre Rolle selbst bestimmt und ihren Eigenbeitrag selbst definiert. Eine reine Ökonomisierung sozialer und diakonischer Arbeit wäre ein schwerer Schaden für das Gemeinwesen. Die Teilnahme am Wettbewerb bedeutet nicht zwangsläufig, daß die Diakonie ihren besonderen Charakter als Verband der freien Wohlfahrtspflege aufgeben muß. Als uneigennützig arbeitende kirchliche Einrichtung wird sie eine besondere Rolle wahrnehmen. Die Diakonie nimmt anders als andere Anbieter am Wettbewerb teil - und findet gerade darin die Anerkennung der Betroffenen. Sie weiß sich zum Angebot der Hilfe für jeden verpflichtet.
Herausstellen der Besonderheit und der Vorzüge der Diakonie: Eine wettbewerbsfähige Diakonie wird immer wieder neu um die Qualität zu ringen haben, die sich herumspricht. Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit gehört die aktive Beachtung der Qualitätsentwicklung hinsichtlich der Leistungen und Hilfen. Im Interesse der Betroffenen und der Pflegebedürftigen ist der Ausbau eines diakonischen Verbraucherschutzes notwendig. Qualitätsmerkmale sozialer Arbeit sind unter anderem: gute Erreichbarkeit, die Beteiligung der Betroffenen, die ganzheitliche Hilfe, die Fürsprecherfunktion für die Hilfebedürftigen, die Orientierung an den Bedürfnissen der Betroffenen selbst und an ihren Wünschen. Schwerpunkte sind zudem soziale Wärme und Zuwendung, ganzheitliche Versorgung, besonderer Zeitaufwand, Empathie, Versorgung auf der Basis einer guten Ausbildung und die Bedeutung des Gesprächs. Die diakonischen Einrichtungen setzen insbesondere auf eine möglichst hohe Präsenz bei den Patienten, auf Sorgfalt und fachlich hochstehende ärztliche wie pflegerische Versorgung, bis hin zur Vorbereitung der Pflegekräfte auf Gespräche - auch auf Gespräche mit Menschen in Angst und vor dem Sterben. Die sozialen Leistungen der Diakonie sind ohnedies eingebettet in die geistliche Begleitung: Seelsorgerliche Gespräche, Gottesdienste, Andachten, geistliche Konzerte sowie das Gebet für und mit den ihr Anvertrauten bestimmen und tragen ihre ganze Arbeit. Dieses Besondere der Diakonie - auch die gemeindenahe Versorgung möglichst in der Lebenswelt - muß im Wettbewerb gewahrt werden, ja es muß als Chance und geradezu als "Wettbewerbsvorteil" betont werden. Letztlich geht es um mehr als nur um ein Mithalten im Wettbewerb, es geht um die kirchliche Sendung, um die Zuwendung zum Nächsten und um die Sicherung von verantwortlichen Standards der Hilfe. Wenn dies deutlich gemacht werden kann, muß um das Bestehen der Diakonie im Wettbewerb nicht gefürchtet werden. Eine offensive Öffentlichkeitsarbeit muß die eigenen Vorzüge herausstellen.
Diakonie zwischen Markt und Staat: Die Diakonie hat auch weiterhin eine wichtige Rolle im Gemeinwesen als Gestalterin einer Kultur des Helfens. "Es gibt keinen vernünftigen Grund, die besondere Stellung von Kirchen und Verbänden der freien Wohlfahrtspflege zu verändern. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung des Sozialstaats." (Stellungnahme des Rates der EKD zur Reform der Sozialhilfe) Auch jenseits der Bereiche, die wettbewerblich zu gestalten sind, muß die Diakonie in Zukunft präsent sein. Und sie muß Hilfen auch dort gewährleisten, wo keine öffentlichen Finanzierungen gewährt werden. Die Diakonie kann alternative Strategien entwickeln und gegenüber öffentlichen Einrichtungen und privatgewerblichen Anbietern sich als profilierter "Dritter Sektor" etablieren.
Zusammenarbeit statt Konkurrenz in der Zivilgesellschaft: In der Orientierung an der Menschenwürde und den Rechten der Betroffenen sucht Diakonie nicht Konkurrenz, sondern Kooperation mit Trägern anderer Wohlfahrtsverbände, mit freien Trägern und mit allen auf ein gemeinsames Ziel hin orientierten gesellschaftlichen Kräften. Sie haben eine gemeinsame Verpflichtung für das Gemeinwohl. Die bewährte Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen und Wohlfahrtsverbänden muß sich an der Weiterentwicklung des Sozialrechts bewähren. Es ist nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen sinnvoll, wenn Einrichtungen der Diakonie mit anderen Wohlfahrtseinrichtungen zusammenarbeiten.
Fairneß im Wettbewerb: Wenn es wirklich um mehr Wettbewerb gehen soll, dann muß dies ein fairer Wettbewerb sein. Das bedeutet: kein Übermaß an staatlichen Vorgaben, keine Einschränkung in der Gestaltung der Arbeitsformen, Wahrung der Freiheit der freien Träger, leistungsgerechte Entgelte, Geltung anerkannter Standards, Vergleichbarkeit der Standards der beruflichen Qualifikationen.
3.5 Freiwillige mobilisieren - die Sozialkultur stärken
(100) Ein wesentlicher Teil diakonischer Arbeit wird von freiwilligen Helferinnen und Helfern geleistet. Freiwillige zu gewinnen ist eine große Chance für Kirche und Gesellschaft. Was die Freiwilligenarbeit besonders auszeichnet, sind der hohe Anteil an Selbsthilfe, die Möglichkeit der Partizipation und der Freiraum für eigenverantwortliches Handeln. Wichtig ist dabei ein gutes Miteinander von Hauptamtlichen und Freiwilligen.
(101) Diakonische Arbeit ist ohne ehrenamtliche bzw. freiwillige Mitarbeit nicht zu denken. Es geht deshalb darum, in Zukunft verstärkt Ressourcen zu mobilisieren, Freiwillige zu gewinnen und zu ermutigen und aus Betroffenen Beteiligte zu machen. Damit werden Impulse für mehr Solidarität vor Ort und für eine stärkere Sozialkultur vermittelt. Die Diakonie versteht sich als Impulsgeberin und Agentin, die andere zur Mitverantwortung ermuntert und sie anleitet. Die verstärkte Mobilisierung von Ehrenamtlichen und die Stärkung subsidiärer Hilfe sind dazu bestimmt, im Gemeinwesen mehr Solidarität zu verankern und soziale Netze aufzubauen; es geht nicht darum, Lebensrisiken zu privatisieren.
(102) Die Innere Mission mobilisierte von Anfang an viele "Ehrenamtliche" und "kirchliche Laien". In vielen Tätigkeitsbereichen hat sich dieses Selbstverständnis bis heute erhalten, auch wenn die Arbeitsbedingungen einem starken Wandel unterworfen sind. Ehrenamtliche geben der Gesellschaft das Kostbarste, was sie besitzen, nämlich ein Stück Lebenszeit.
(103) Die Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement ist ungebrochen hoch. Inzwischen sind an vielen Orten in der Bundesrepublik Deutschland sogenannte "Freiwilligen-Zentren" entstanden. Freiwillige bzw. Ehrenamtliche sind direkt beteiligt am Aufbau und Betrieb solcher Zentren. Selbstorganisation ist ihr Kennzeichen. In Kuratorien und Beiräten vereinen sich sachkundige und sozial interessierte Personen, Vertreter und Vertreterinnen der Kirchen, Verantwortliche verschiedener Verbände, Initiativen, selbstorganisierte Hilfegruppen und Entscheidungsträger.
(104) Freiwillige Mitarbeit auf der Ebene des direkten persönlichen Dienstes wird meist von Frauen ausgeübt und weist starke Parallelen zur Haus- und Familienarbeit auf. Allein die evangelische Frauenhilfe umfaßt heute ca. 65.000 Mitglieder, die insbesondere in den Ortsgemeinden ihre Wirksamkeit entfalten und zu den "stillen Helferinnen im Lande" zu zählen sind. Freiwillige in Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbänden und traditionellen Frauenverbänden sind mehrheitlich Frauen ab der sog. "Kinder-Phase", d.h. Frauen, die älter als 50 und nicht erwerbstätig sind und keine Kinder unter 18 Jahren (mehr) haben. Doch auch jüngere Frauen, die erwerbstätig sind, mit und ohne Kinder, sind ehrenamtlich tätig. Sie verbinden damit einen jeweils unterschiedlichen spezifischen Sinn: etwa berufsrelevante Erfahrungen zu sammeln, Arbeitslosigkeit (nach der Ausbildung oder durch Verlust des Arbeitsplatzes) zu überbrücken, einen Ausgleich zur Erwerbsarbeit zu finden, Kontaktmöglichkeiten mit der Öffentlichkeit zu haben, eine Wiedereingliederung ins Berufsleben zu erleichtern und für ein menschenwürdiges Leben für Hilfe- und Pflegebedürftige einzutreten.
(105) Bürgerengagement ist nicht einfach gleichzusetzen mit einer fachlich schwächer ausgeprägten Arbeit von "Laien". Freiwillige Arbeit hat eine hohe Professionalität. Auch die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie halten die freiwillige Mitarbeit für erforderlich und engagieren sich selbst. 70% der Mitarbeitenden der Diakonie engagieren sich im ehrenamtlichen Bereich.
(106) Die hohe Bereitschaft in der Bevölkerung zu freiwilligem Engagement stellt für die Diakonie die Verpflichtung dar, Betroffene und selbstverständlich auch andere zu aktivieren. Dabei darf nicht in erster Linie das Argument knapper finanzieller Mittel bei gestiegenem Bedarf an qualifizierter Hilfe als Begründung gelten, so wichtig diese Gesichtspunkte auch sind. Mitmenschliches Handeln, aus persönlicher Verantwortung und christlicher Grundüberzeugung für andere da zu sein - darin liegen von jeher die Quellen der Diakonie, lange vor jeder verbandlichen Organisation und hauptberuflichen Ausgestaltung der Dienste. Das Ehrenamt gehört zu den konstitutiven Wurzeln kirchlicher sozialer Arbeit.
(107) Soziale Arbeit kann und muß heute eine Mobilisierung von Solidarität bewirken. Engagierte Bürgerinnen und Bürger bringen eine Fülle von Lebenserfahrung mit - Erfahrungen vor allem aus dem Beruf, der Kindererziehung, der Pflege, aus familiären und nichtfamiliären Zusammenhängen, selbst aus Freizeitaktivitäten und von Reisen. In dieser Vielfalt liegen Chancen und Schwierigkeiten. Es gibt viele Menschen, die eine Notwendigkeit zum Handeln sehen und sich zum Handeln entschließen. Ihre Aktivitäten müssen miteinander vernetzt und in eine wirksame Form gebracht werden. Hinzu kommt die Aufgabe, den meisten Menschen in ihrem jeweiligen Horizont Chancen sozialer Mitwirkung zu eröffnen und dafür geeignete Formen zu entwickeln.
(108) Auffallend ist die starke Motivation, die Begeisterung und Bereitschaft für ihre Arbeit, die Freiwillige mitbringen. Sie werden tätig, weil sie Bereicherung erleben. Das, was Freiwilligen einbringen, und der ideelle Nutzen, den sie aus ihrer Tätigkeit gewinnen, müssen im Gleichgewicht stehen. Es ist wichtig, daß die Freiwilligen in anderer Währung für ihre Arbeit belohnt werden als in Geld: Dazu gehören Einarbeitung in neue Aufgaben, Sinnfindung, Wertschätzung ihrer Person, Anerkennung ihrer Arbeit und Weiterbildung. Freiwillige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sollten versichert, ihre Auslagen sollten ihnen ersetzt werden.
(109) Die freiwilligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen brauchen einen gewissen Freiraum zur selbstverantwortlichen Gestaltung ihrer Arbeit. Sie sind keine Zuarbeiter, sondern haben eigenständige Aufgaben. Viele Freiwillige suchen auch befristete Tätigkeiten, und sie wollen ihr Engagement mit ihrer persönlichen Lebenssituation gut verbinden können. Die Arbeit mit Freiwilligen bedarf der professionellen Unterstützung. Die Freiwilligen müssen geschult und begleitet werden. Die Arbeit mit ihnen ist letztlich nicht kostenlos zu haben.
(110) Freiwillige setzen ein Zeichen für ein menschliches Miteinander in unserer Gesellschaft. Schon deshalb sollte gerade die Diakonie einen Auftrag sehen, solche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu gewinnen. Freiwillige müssen erfahren, daß sie eine wichtige, nützliche, sinnvolle und notwendige Aufgabe leisten. Sie sind in Entscheidungen mit einzubeziehen. Die Bedeutung ihrer Tätigkeit muß betont und öffentlich anerkannt werden. Die Arbeit der Freiwilligen muß also in vielfältiger Weise gewürdigt werden.
(111) Hauptamtliche und freiwillige Mitarbeiter müssen in vertrauensvoller Kooperation zusammenwirken. Viele Hauptamtliche sind durch die Zunahme der freiwilligen Arbeit beunruhigt und fürchten, unausgebildete und freiwillige Helfer nähmen ihnen qualitativ und quantitativ etwas weg. Hauptamtliche und freiwillige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können und sollen einander jedoch nicht ersetzen. Ihre Aufgaben haben unterschiedliche Schwerpunkte. Freiwillige sind in der Lage, in die soziale Arbeit etwas Eigenes einzubringen, das von den Hauptamtlichen so nicht geleistet werden kann, und ebenso kann die Arbeit der Hauptamtlichen nicht von Freiwilligen ersetzt werden. Hauptamtliche sollten das Miteinander mit Ehrenamtlichen und deren Eigeninitiativen nicht defensiv sehen, sondern sie sollten offensiv als Impulsgeber, Anleiter, Moderatoren, Berater, Initiatoren und Koordinatoren für ein verstärktes soziales Engagement von Laien sorgen.
(112) Durch ein Klarlegen der unterschiedlichen Aufgaben können Spannungen zwischen Hauptamtlichen und Freiwilligen vermindert werden. Es geht nicht um das Modell "oben - unten", sondern um ein dynamisches, kooperatives Modell der Zusammenarbeit im Bewußtsein unterschiedlicher Zuständigkeiten und Möglichkeiten. Während die Freiwilligen sich einen gewissen Freiraum zur selbstverantwortlichen Gestaltung ihrer Arbeit wünschen, legen die Hauptberuflichen Wert darauf, daß ihr Verantwortungsbereich geachtet wird. Sie sind es auch, die die Freiwilligen fachlich schulen und weiterbilden und in deren Aufgabengebiet begleiten und fördern. Konkurrenzen, gar Befürchtungen um die Wahrung von Arbeitsplätzen können abgebaut werden, wenn beide Teile ihr Augenmerk auf die Hilfebedürftigen richten, für die ihre unterschiedlich geprägte Arbeit geschieht.
3.6 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motivieren
(113) Einen guten Dienst kann die Diakonie nur mit zufriedenen und motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern tun. Notwendig ist deshalb die Stärkung der Identifikation, der Sinnerfahrung, der Mitsprache und der Beteiligungsmöglichkeiten, des persönlichen Engagements sowie der Arbeitszufriedenheit.
(114) Diakonische Arbeit der Kirche lebt von einer motivierten, loyalen und gut ausgebildeten Mitarbeiterschaft. Die Dienstgemeinschaft der Diakonie sammelt Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Stärken, unterschiedlichen Prägungen und Motivationen, unterschiedlichen Charakteren und Stilen. Die Motivation zum diakonischen Dienst wird nicht erst im Dienst selbst erworben und aufgebaut, sie wird mitgebracht. Aber wenn diakonische Arbeit gelingen soll, müssen Motivation, Partnerschaft und fachliche Kompetenz ständig gefördert, muß die Professionalität der Arbeit in Aus-, Fort- und Weiterbildung gesichert werden. Hilfebedürftige haben Anspruch auf gute, fachlich qualifizierte und ausreichende Hilfe, die in den meisten Fällen ohne ein Zusammenwirken von beruflichen und freiwilligen Kräften nicht gewährt werden kann.
(115) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihr Christsein und ihre Kirchenmitgliedschaft als Voraussetzung in die Dienstgemeinschaft einbringen, wollen ihren Dienst mit dem Zeugnis ihres Glaubens und ihrer Berufung verbinden. Mitarbeitende, die nicht Christen sind, dürfen keinem Zwang ausgesetzt werden, sie sind aber einzuladen, sich mit Auftrag, Arbeit und Geschichte der Diakonie zu identifizieren, mit der Kirche zu leben. Deshalb sind Angebote der Information über den Glauben und der seelsorgerlichen Begleitung wesentlich.
(116) Im "Leitbild Diakonie" heißt es: "Wir unterstützen einander in unserer täglichen Arbeit. Dazu gehören Angebote der Sinngebung, der Glaubenshilfe und der Seelsorge. Durch gegenseitige Information schaffen wir Vertrauen und Transparenz. Wir fördern Eigeninitiative und fachliche Kompetenz. Konflikte und Kritik nutzen wir als Chance, um unsere Arbeit zu verbessern. Durch Aus-, Fort- und Weiterbildung sichern wir Professionalität. Wir praktizieren und fördern die Gleichstellung von Frauen und Männern."
(117) Insgesamt arbeiten über 400.000 Personen beruflich in der Diakonie mit. Von ihnen wird ein engagierter Dienst getan. Es sind keine Einzelfälle, wenn von selbstlosem persönlichem Einsatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Diakonie erzählt wird, von einem hohen Maß an Zuwendung und Freundlichkeit, von imponierender Geduld und Ausdauer. Sicherlich müssen immer auch die Grenzen des Möglichen, die Unzulänglichkeiten und die bitteren Erfahrungen gesehen werden. Es ist ein Dienst, in dem auch Konflikte und menschliche Schwächen zu Tage treten. Idealismus und einfache Arbeit, imponierende Leistung und Routinearbeit, hochmotivierter Einsatz und Ausgebranntsein, christlicher Idealismus und persönliche Zweifel, Erfolgserlebnisse und auch die Erfahrung des Versagens bzw. der Unlösbarkeit von Problemen stehen nebeneinander - und beide Seiten gehören zum Gesamtbild. Häufig genug erlebt die Mitarbeiterschaft die Bedrängnis dieser Arbeit in ihrer eigenen Person. Die motivierte, gut ausgebildete und fachlich qualifizierte Mitarbeiterschaft ist ein ungemein wertvolles Gut der diakonischen Arbeit.
(118) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie werden mit der Kirche und ihrer Diakonie identifiziert. Auch ihre eigene Identifikation ist hoch. Sie erleben alle Konflikte und Auseinandersetzungen um die Kirche am eigenen Leibe.
Viele sind vom christlichen Glauben geprägt und verstehen ihren diakonischen Beruf als innere Berufung. Sie wollen Mitarbeiter Gottes sein zum Heil und Wohl hilfebedürftiger Mitmenschen. Sie sind bereit zu persönlichen Opfern vor dem Hintergrund eines gelebten persönlichen Glaubens an Gott, der sich in Barmherzigkeit den Menschen zugewandt hat. Über die Hälfte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagt, der wichtigste Grund für ihre Tätigkeit in der Diakonie komme aus ihrem Glauben als Christen.
Andere kommen in diese Arbeit, weil sie sich für Mitmenschen und für ein menschliches Gemeinwesen engagieren wollen.
Schließlich kommen wieder andere in die Diakonie, weil sie nur hier eine Beschäftigung finden. Sie stehen, wie die Erfahrung zeigt, ebenso loyal zu dieser Arbeit und ihren Zielen und engagieren sich ebenso bereitwillig wie andere auch. Auch sie werden mit der Kirche identifiziert.
Im "Leitbild Diakonie", heißt es: "Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen auf verschiedenen Wegen zur Diakonie. In unserer Dienstgemeinschaft lassen wir unterschiedliche Meinungen gelten. Konflikte tragen wir in gegenseitigem Respekt aus. Wir bleiben verpflichtet, theologisch begründet, sozial kompetent, fachlich qualifiziert, ökonomisch verantwortlich und ökologisch orientiert zu handeln."
(119) Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden es bedrängend, wie sehr unter dem Druck der Sparzwänge die Schere zwischen vorhandenen Ressourcen für ihre Arbeit und den wachsenden Aufgaben auseinander geht. In einer Zeit der zunehmenden sozialen Kälte und des Sozialabbaus wird auch die Situation der Arbeitenden in der Diakonie ernster und angespannter. Es ist ein kaum erträgliches Dilemma, daß gerade in einer Situation, in der immer mehr Menschen auf die Hilfe der Diakonie angewiesen sind, solche Dienste eingeschränkt und aufgelöst werden. Die Aufmerksamkeit muß sich auf Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen richten. Als großer Arbeitgeber hat die Diakonie als kirchlicher Wohlfahrtsverband eine menschliche und allgemein soziale Verantwortung.
(120) Ebenso notwendig ist es, sich neu auf die diakonischen und geistlichen Ressourcen der Arbeit zu konzentrieren. Wie an der Tradition der diakonischen Lebensberufe zu sehen ist, ist die Diakonie auf prägende und geprägte Persönlichkeiten und Gemeinschaften angewiesen. Deshalb sind Investitionen in Ausbildung und seelsorgerliche Begleitung eine vorrangige kirchliche Aufgabe.
(121) Die Arbeitszufriedenheit ist in der diakonischen Arbeit der Kirche verglichen mit Tätigkeiten im Öffentlichen Dienst oder privatwirtschaftlichen Unternehmen auffallend hoch. Gleichwohl haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch ausgeprägte Vorstellungen darüber, was in diesem Dienst anders und besser gestaltet werden soll. Sie möchten, wie Befragungen zeigen, selbst bestimmen, was das Diakonische eigentlich ist, sie halten nicht viel von vorgegebenen Antworten. Eine große Mehrheit meint, daß sie ihre eigenen Vorstellungen von Diakonie im Berufsalltag umsetzen können. Dienen wird immer weniger als Selbstpreisgabe und Aufopferung verstanden, sondern vielmehr als Partizipation an der Entwicklung und Ausgestaltung der Diakonie. Aufgrund dieser Tatsache ist es notwendig, über das neue Dienstverständnis nachzudenken und in Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition eine neue, tragfähige Konzeption zu entwickeln. In der "neuen Diakonie" wollen die Mitarbeiter an den Entscheidungs- und Leitungsprozessen teilhaben. Genauso sind sie aber auch selbst bereit, den Betreuten wie den Ehrenamtlichen diese Teilhabe zu gewähren.
(122) Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kritisieren das hierarische Machtverständnis von Vorgesetzten und erwarten eine Beteiligung an Entscheidungs- und Leitungsprozessen. Neue Beteiligungsmodelle der Mitarbeiterschaft (auch durch Förderung beruflicher Karrieren, familienfreundliche Arbeitsplatzgestaltung und familienunterstützende Angebote u.a.m.) müssen entwickelt werden. Wichtig ist ein partizipativer Stil des Umgangs. Partizipation bedeutet auch, die Leitungspositionen verstärkt mit Frauen zu besetzen. Dazu gehören Frauenförderpläne und Gleichstellungsbeauftragte.
(123) Die Qualifizierung, Ausbildung und Fortbildung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gehört zu den Fundamenten diakonischer Arbeit. Wichtig sind bei der Ausbildung vor allem die gegenseitige Durchdringung von fachlichem Wissen und Prägung sowie die Verbindung zur Praxis. Ausbildung ist immer auch Persönlichkeitsbildung. Christliche Ausbildungsstätten haben daher neben der rein fachlichen Qualifikation auch Grundlagenwissen zu vermitteln und Raum zu geben für die Fragen des Sinns menschlichen Handelns.
(124) Notwendig ist eine diakonische Grundqualifikation für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der diakonischen Einrichtungen und Werke in Einführungskursen - zumal der Anteil an neuen, erst seit kurzer Zeit in der Diakonie tätigen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen hoch ist. Im Sinne eines "Diakonentums aller Gläubigen" gilt es, die diakonische Schulung aller Gemeindeglieder und besonders der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gemeinde und Diakonie zu fördern. Selbstverständlich gilt dies erst recht für alle diakonischen und theologischen Ausbildungen. Das diakonische Engagement eines jeden Christen gehört ins Zentrum der Gemeindepädagogik, der kirchlichen Erwachsenenbildung sowie des diakonischen Gemeindeaufbaus und bedarf der Aus- und Weiterbildung.
(125) Diakonische Aus- und Weiterbildung hat seit 150 Jahren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie kompetent ausgebildet. Eine Besonderheit diakonischer Aus-, Fort- und Weiterbildung spiegelt sich im zusätzlichen Angebot christlicher Lebensdeutung, ethischer Meinungsbildung, geistlicher Zurüstung und seelsorgerlicher Begleitung. Elemente gelebter Frömmigkeit und spiritueller Gemeinschaft sind offene Angebote. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können für die Sache der Diakonie gewonnen werden, wenn sie eine Atmosphäre gelebten Glaubens und praktizierter Geschwisterlichkeit vorfinden. Gleichgültigkeit in Fragen christlicher Lebenspraxis und übervorsichtiges Vermeiden christlichen Bekennens wirken nicht minder demotivierend als eine gesetzliche oder belehrende Grundhaltung.
(126) Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die nach mehr Spiritualität, nach diakonischen Lebensgemeinschaften und Netzwerken suchen, erhoffen sich neue Formen des Diakonats und diakonischer Gemeinschaften in sozialen Arbeitsfeldern. Die Erfahrungen der Schwestern- und Brüderschaften sind dafür eine Spur, die es weiterzuverfolgen lohnt. Menschen jeden Alters sind eingeladen, Diakonie als persönliche Berufung anzunehmen und Diakonie als Gemeinschaft mit abgestufter Verbindlichkeit zu übernehmen. Diakonische Gemeinschaften brauchen geistliche Zentren der Einkehr, Sammlung und Stärkung im Glauben, um den Herausforderungen der sozialen Wirklichkeit gerecht werden zu können.
3.7 Diakonisches Lernen anstoßen - die Bildungsaufgaben wahrnehmen
(127) Da soziale Erfahrungen heute für immer mehr Menschen nicht mehr von allein zustande kommen, benötigen wir neue gesellschaftliche Orte, neue "soziale Lernarrangements", in denen Formen der Solidarität gelernt und erfahren werden. Dazu zählen in erster Linie Familie, Netzwerke von Jugendlichen, Nachbarschaften, Kirchengemeinden, Initiativen und Bürgerforen. Auch die moderne Gesellschaft lebt vom Humus des Sozialen. Dieses darf nicht in beruflich organisierte Expertensysteme verlagert werden.
(128) Die Notwendigkeit, diakonisches Lernen ausdrücklich zu organisieren, ergibt sich aus einer doppelten Beobachtung: Die gesellschaftliche Entwicklung hat zum einen durch die Veränderung familiärer Verhältnisse (Kleinfamilien, instabile Familien, "Wohlstandsfamilien", die es sich leisten können, kleine, enge und tägliche Solidarität durch bezahlte Dienstleistung abzugeben) zu einem Verlust ganz unmittelbarer sozialer Erfahrungen im Alltag geführt. Zum anderen benötigt die moderne arbeitsteilige Gesellschaft auch zur Absicherung ihrer sozialen Risiken leistungsfähige Großinstitutionen. Neue Formen gesellschaftlicher Solidarität müssen einer Bürokratisierung des Sozialen ebenso entgegenwirken wie den destruktiven Tendenzen einer weiteren Individualisierung, ohne dem Pluralismus liberaler Gesellschaften zuwider zu laufen.
(129) Im diakonischen Lernen geht es um soziale Einstellungen und christliche Orientierungen wie etwa Achtung und Respekt vor anderen Menschen, Gerechtigkeit und Fairneß, um Hilfsbereitschaft und Toleranz sowie um persönliche und gesellschaftliche Verantwortung. Soziales Lernen ist Lernen in zwischenmenschlichen Beziehungen - und zwar auch in unterschiedlichsten Lebenssituationen. Es lehrt die Fähigkeit zur Kommunikation, zur Kooperation und zur Konfliktregelung. Der Diakonie ist beim sozialen Lernen vor allem an der geistlichen Komponente gelegen. Hier geht es um Erfahrungen des christlichen Glaubens im sozialen Lebensalltag und um die Einübung des Miteinanders von Hilfebedürftigen und Helfenden, Starken und Schwachen in christlichen Gemeinschaftsformen. Gemeinsames Leben und gemeinsames Lernen werden dort aufeinander bezogen. Diakonisches Lernen aus dem Glauben bedeutet Aufbruch und neue Bereitschaft zur Zuwendung, zum Entdecken des Mitmenschen, Erwachen sozialer Phantasie, aber auch Entdecken der Wahrheit des Evangeliums im gesellschaftlichen Alltag. Es ist eine Einübung von geistlichen Formen und Riten, die in die Gemeinschaft führen und persönliche Lebenshilfe sind. Diakonisches Lernen zielt auf eine lebenspraktische und zupackende Spiritualität. Diese braucht die Vergewisserung in der Kontemplation. Aktives und kontemplatives Leben durchdringen sich hier gegenseitig.
(130) Die Diakonie leistet ihren Beitrag zum diakonischen Lernen. Die Entwicklung des "diakonischen Jahres" (das zum sog. "freiwilligen sozialen Jahr" wurde), das "freiwillige soziale Jahr im Ausland", begleitete Sozialpraktika in Schulen, integrative Kindertagesstätten und integrative Schulen sind anerkannte Beispiele und können zu Elementen eines Gesamtkonzepts diakonischen Lernens werden.
(131) Die Gestalt der sozialen Ordnung hat sich in diesem Jahrhundert dramatisch verändert. Öffentliche soziale Dienste wurden gründlich ausgeweitet; sie haben zum Aufbau und Ausbau eines hochdifferenzierten Institutionengefüges geführt sowie zur Etablierung eines eigenen Arbeitsmarktes für soziale Berufe. Zugleich entstanden Expertenkulturen; überdies kam es zu einer weiteren Politisierung des Sozialen. Sozialpolitik und soziale Sicherungssysteme wurden so zum zentralen Thema in der politischen Arena.
(132) Der Auf- und Ausbau der sozialen Expertenkulturen führte im 20. Jahrhundert zu einer zunehmenden Verberuflichung und zur Verlagerung von privaten, naturwüchsigen Hilfeformen in öffentlich organisierte Hilfssysteme. Jetzt aber geht es um eine neue lebensweltliche Aneignung des Sozialen und der Solidarität, außerhalb und unterhalb der Expertenkulturen. Die Diakonie ist - wie die Zivilgesellschaft insgesamt - auf einen Hintergrund gesellschaftlich gelernter Sozialität angewiesen. Nur so kann es gelingen, die zunehmende Delegation sozialer Hilfe an Experten aufzulösen und die Zersetzung von Solidarität in der Gesellschaft aufzuhalten.
3.8 Diakonie in der europäischen und weltweiten Dimension wahrnehmen
(133) Die diakonische Arbeit der Kirche beteiligt sich aktiv in der ökumenischen Bewegung, ist in die weltweite Diakonie der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen eingebunden und unterstützt die Programme europäischer und weltweiter Hilfe. Diakonie umfaßt deshalb eine europaweite und weltweite soziale Mitverantwortung. Sie beteiligt sich an der Entwicklung einer Vision von Diakonie in Europa und schöpft alle Möglichkeiten einer verbesserten sozialen Zusammenarbeit der Kirchen aus. Sie tritt für die soziale Gestaltung Europas ein.
(134) Die Diakonie kann auf vielerlei Bestrebungen europäischer Zusammenarbeit bereits im 19. Jahrhundert zurückblicken. Die ersten diakonischen Zusammenschlüsse auf europäischer Ebene waren die Kaiserswerther Generalkonferenz und der Internationale Verband theologischer Mitarbeiter. Die durch den schwedischen Erzbischof Nathan Söderblom angeregte Stockholmer Weltkirchenkonferenz 1925 wurde zur ersten ökumenischen Diakoniekonferenz. Söderblom erkannte die praktisch-diakonische Zusammenarbeit - die "Methode der Liebe" - als den Königsweg zur Einheit christlicher Kirchen. In einer Zeit, in der die europäischen Länder von sozialen Konflikten, Not und Armut geprägt waren, forderte er Instanzen der Versöhnung. Der Zustand der europäischen Gesellschaft erschien ihm so alarmierend, daß die christlichen Kirchen ohne Rücksicht auf ihre trennenden Traditionen sich auf ihre Kräfte im Dienst der Versöhnung besinnen sollten. "Was Europa braucht, ist die Diakonie". In diesem Denken wurde der Internationale Verband für Innere Mission und Diakonie gegründet - der spätere Europäische Verband für Diakonie -, der in den folgenden Jahrzehnten ein wesentliches Bindeglied der Diakonie in Ost und West bildete. Dieser Verband hat sich mit dem 1992 gegründeten westeuropäischen Verband "Eurodiaconia" 1997 zusammengeschlossen. Die Zusammenarbeit mit den orthodoxen Kirchen stärkt und vertieft das Miteinander. Damit leistet der Verband einen Beitrag beim Aufbau der Zivilgesellschaft und sozialer Strukturen in Mittel- und Osteuropa im Sinne der von der gesamteuropäischen, ökumenischen Diakoniekonferenz 1994 in Bratislava formulierten Thesen "Auf dem Weg zu einer Vision von Diakonie in Europa".
(135) Die Diakonie in Europa war von Anfang an bestrebt, eine einseitige westeuropäische Perspektive ebenso zu vermeiden wie die Gefahr einer eurozentristischen Orientierung. Dies gilt insbesondere im Blick auf die neuen Herausforderungen durch weltweite Migrationsprozesse und Flüchtlingsprobleme. Im Blick auf eine intensive Unterstützung des gesellschaftlichen Wiederaufbaus wurde 1994 von den evangelischen Kirchen die Spendenaktion "Hoffnung für Osteuropa" ins Leben gerufen. Sie tritt ein für Hilfeaktionen, für einen gegenseitigen Erfahrungsaustausch sowie für Koordination und Vernetzung der Aktivitäten.
(136) Eine wichtige Grundlage für die Einmischung der Diakonie in die soziale Ausgestaltung der Europäischen Union ist die Erklärung aller EG-Mitgliedsstaaten im Anhang des Maastrichter Vertrages zur Zusammenarbeit mit Wohlfahrtsverbänden und Stiftungen (associations de solidarité, charitable organizations). Damit wurden die Verbände als Träger sozialer Einrichtungen und Dienste zum ersten Mal offiziell gewürdigt - unabhängig davon, daß sie diese Funktion in den einzelnen Ländern in sehr unterschiedlicher Form wahrnehmen. Zur Vertretung ihrer Interessen haben die deutschen Wohlfahrtsverbände einen Sitz im Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Union bekommen. Damit gehören auch die Verbände zu den gestaltenden Kräften der europäischen Sozialpolitik. Es ist von großer Bedeutung, daß die Wohlfahrtsverbände und Kirchen die sozialpolitische Entwicklung in der Europäischen Union und insgesamt in ganz Europa nicht nur aus ihrer nationalen Perspektive verfolgen und kommentieren, sondern daß sie selbst auf die europäische Sozialpolitik einwirken.
(137) Die Europäische Union billigt den Wohlfahrtsverbänden in ihrem subsidiären Handeln, ihrer sozialanwaltschaftlichen Ausrichtung, ihrer Gemeinwohlorientierung und ihren Aktivitäten im Dienstleistungsbereich eine Sonderstellung zu. Es ist damit deutlich, daß es nicht die EU ist, von der ein Trend zur Ökonomisierung der Wohlfahrtsverbände und Anbieter im sozialen Bereich ausgeht. Der EG-Vertrag schließt "öffentliche Unternehmen" bei der Erbringung von Leistungen im Rahmen der Dasseinsvorsorge von den europarechtlichen Wettbewerbsbestimmungen ausdrücklich aus.
(138) Zu den internationalen diakonischen Aktionen gehört "Kirchen helfen Kirchen" mit ihrem missionarischen und diakonischen Auftrag in Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika. Ein weiterer Meilenstein ist die Aktion "Brot für die Welt", die im Jahre 1959 gegründet wurde, um weltweit den Ärmsten der Armen mit Entwicklungsprojekten zu helfen. Ebenso geschieht Katastrophenhilfe, die bei Notfällen, Naturkatastrophen oder Bürgerkriegen schnelle Überlebenshilfe leistet. Der Dank der Partner aus der weltweiten Ökumene für die vielfältige Hilfe ermutigt dazu, auf diesem Wege weiter zu arbeiten. Gleichzeitig ist das Engagement der Partner, die nicht nachlassen, sich für die notleidenden Menschen einzusetzen, Vergewisserung und Ansporn.
(139) Ein Schwerpunkt des internationalen diakonischen Engagements ist insbesondere die Arbeit von "Brot für die Welt". Im Wissen, daß Frieden eine Grundvoraussetzung für Entwicklung ist und daß ohne Gerechtigkeit keine dauerhafte Verbesserung der Situation der Menschen im Süden denkbar ist, orientieren sich alle Projektvorhaben auch an Menschenrechtsanliegen sowie Advocacy-Aktivitäten (engagierte öffentliche Fürsprache)und Lobby-Aktivitäten. Im Vergleich zu dem enormen wirtschaftlichen Potential allein unseres Landes mag das, was "Brot für die Welt" zusammen mit anderen kirchlichen Hilfswerken tut, gering sein. Aber es ist notwendig.
(140) Die Mitgliedsorganisationen der kirchlichen Entwicklungsarbeit verstehen den kirchlichen Entwicklungsdienst als eine Gemeinschaftsaufgabe der Kirchen. Aus diesem Grunde arbeiten die Evangelische Zentralstelle für Entwicklungsarbeit, Brot für die Welt, Dienste in Übersee, Evangelisches Missionswerk und der Kirchliche Entwicklungsdienst in der Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst zusammen. Für die Entwicklungsarbeit der Diakonie, die über zuverlässige Partner (Kirchen und Nichtregierungsorganisationen) in der sogenannten Dritten Welt geleistet wird, um den anderen mehr Gerechtigkeit zu bringen, gelten folgende Kriterien:
Zielgruppe des Einsatzes von Diakonie und Kirche und ihrer Hilfe sind die "Ärmsten der Armen"; es geht um deren Teilhabe am Entwicklungsprozeß.
Eine Entwicklungsmaßnahme sollte nicht einfach nur für die Zielgruppe, sondern vor allem mit (!) ihr durchgeführt werden. Es geht um das Befähigen statt um das Betreuen.
Die Zielgruppe sollte in die Entscheidung über Inhalt, Durchführung und Verwaltung eines Entwicklungsprojektes bzw. -programms einbezogen sein.
Eine Entwicklungsmaßnahme sollte an bestehenden Verhaltensweisen, Ressourcen, an dem technischen Wissen und an den vorgegebenen sozialen Beziehungen der Zielgruppe anknüpfen.
Eine Entwicklungsmaßnahme sollte sich von einem Einzelprojekt hin zu einem Programm erweitern, um die Ganzheitlichkeit des Menschen zu berücksichtigen.
Eine Entwicklungsmaßnahme sollte alle rechtlichen Spielräume zugunsten der Zielgruppe ausnutzen.
Nur im Falle von Katastrophenmaßnahmen erfolgt Nahrungsmittelhilfe. Jedoch liegt der Schwerpunkt auf der Steigerung der Nahrungsmittelproduktion und der gerechten Verteilung in den Entwicklungsländern selbst. Das motiviert zur Selbsthilfe, und die Würde der Menschen, die nicht Empfänger von Almosen sein wollen, wird respektiert.
(141) Entwicklung ist unteilbar. Sie findet nicht nur in Asien, Afrika und Lateinamerika statt, sondern auch in Deutschland. Erziehung zur Entwicklungsverantwortung ist daher ebenso notwendig wie ein Lebensstil, der auch die Lebensinteressen des (fernen) Nächsten im Blick behält. Hier muß in Zukunft von den Kirchen und ihren Hilfswerken mehr getan werden. Die Partner der Kirche und ihrer Diakonie in Übersee fordern immer dringlicher, daß im eigenen Land auf Bedingungen gedrängt wird, die es auch den "Ärmsten der Armen" ermöglichen, in Menschenwürde zu leben.
3.9 Die diakonische Kirche erneuern
(142) Diakonie ist eine Wesensäußerung und Sozialgestalt der Kirche. Wie die Wortverkündigung ist sie eine tragende Säule der Kirche. Die verfaßte Kirche und ihre organisierte Diakonie haben sich in ihrer Geschichte als eigenständige Bereiche entwickelt; ihr Verhältnis zueinander war und ist von Spannungen nicht immer frei. Sie müssen sich immer wieder neu als der eine Leib Christi verstehen.
(143) Programmatisch stellte Wichern fest: "Die innere Mission ist nicht eine Lebensäußerung außer oder neben der Kirche, will auch weder jetzt noch einst die Kirche selbst sein, wie man von ihr gefürchtet hat, sondern sie will eine Seite des Lebens der Kirche selbst offenbaren, und zwar das Leben des Geistes der gläubigen Liebe, welche die verlorenen, verlassenen, verwahrlosten Massen sucht, bis sie sie findet. Sie anerkennt die ihr von der Heidenmission, den Konfessionen und dem geordneten Amte gestellten Grenzen."
(144) Die Geschichte der diakonischen Kirche weist Zeiten des Aufbruchs, der Blüte, der Verirrung und des Niedergangs auf. Erneuerungen sind nur durch die Besinnung auf wesentliche Inhalte des biblischen Zeugnisses zustande gekommen. Was jeweils an den Anfängen klar war, wurde im Laufe von Entwicklungen verschüttet und mußte immer wieder neu ins Bewußtsein gerückt werden. Der Rückblick auf den biblischen und reformatorischen Auftrag der Kirche, auf die entstandenen diakonischen Traditionen und geschichtliche Erfahrungen weist ebenso auf die Notwendigkeit von Reformen hin wie der Blick auf die Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft. Erneuerung ist deshalb zu verstehen als eine Verankerung der Diakonie in der Gemeinde, aber auch als ein Bearbeiten ungeklärter Fragen, als neues Bewußtwerden der Gaben und Aufgaben der Kirche als einer diakonischen Gemeinschaft und als neue Hinwendung zum Nächsten in den Nöten und Herausforderungen der Gegenwart:
(145) Erneuerung - Diakonie in der Kirchengemeinde verankern: Zahlreiche Gemeinden versuchen, als diakonische Gemeinden zu leben. Sie wollen hilfebedürftige Menschen nicht ausgrenzen. Im Gottesdienst wird die Diakonie Jesu dadurch bezeugt, daß konkrete Notlagen und entsprechende Dienste zum Thema werden und im Fürbittengebet aufgenommen werden. Die Gemeinde geht auf Menschen in Orientierungsnöten zu. Sie versteht sich als offene Gemeinde, die Empfangsräume für rat-, hilfe- und gemeinschaftsuchende Menschen schafft. Sie rechnet mit den Begabungen ihrer Mitglieder und versteht sich als eine Gemeinschaft in der einer dem anderen "dient ... mit der Gabe, die er empfangen hat" (1 Pt 4,10). Dadurch wird die Gemeinde erfahrbar
als Ort der Orientierung, an dem aus dem christlichen Glauben heraus das Fragen nach Sinn und Ziel des menschlichen Lebens und des Lebens der Gesellschaft wachgehalten wird;
als Ort der Umkehr und der Erneuerung, an dem Menschen sich verändern, auf ihre Mitmenschen und ihre Nöte aufmerksam werden und alte Verhaltensweisen ablegen;
als Ort der Solidarität und Nächstenliebe, an dem untereinander und für andere die je eigene Verantwortung bejaht und praktiziert wird;
als Ort der Freiheit, an dem erfahren werden kann, daß Freiheit und Bindung, Selbstentfaltung und Verbindlichkeit nicht Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen; ihr wechselseitiger Bezug ist für ein gelingendes Leben wichtig;
als Ort der Hoffnung, an dem Perspektiven gesucht werden für eine sinnvolle Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
(146) Wie zukunftsweisend der Weg zu einer diakonischen Kirche ist, zeigt sich zum Beispiel in der Diskussion über erste Ansätze, den Diakonat in der Kirche als gleichrangig mit dem Verkündigungsauftrag zu betrachten und als geordnetes Amt der Kirche zu entwickeln (Vgl. Der evangelische Diakonat als geordnetes Amt der Kirche. Ein Beitrag der Kammer der EKD für Theologie, EKD-Texte 58, 1996). Die Evangeliumsverkündigung ist "als Begründung des rechtfertigenden Glaubens Existenzgrund der Kirche Jesu Christi, der Liebesdienst am Nächsten (ist) ihre vornehmste Lebensäußerung" (S.9), jedoch konstituieren "Unterschiede zwischen den geordneten Ämtern ... nach evangelischem Verständnis keine hierarchische Über- und Unterordnung" (S. 14).
(147) In der diakonischen Gemeinde kann sich der Pfarrer auf seine pastoralen Dienste konzentrieren, wenn in einer Gemeinde zugleich der diakonische Dienst Gestalt gewinnt: nicht nur in einer Diakonin, einem Diakon oder in Diakoniepresbytern, sondern möglichst in einem Gemeindediakonieausschuß nächst dem Presbyterium oder Kirchenvorstand. Hier muß die vielfältige, ehrenamtliche und hauptamtliche Arbeit der Diakonie in einer Gemeinde koordiniert und verantwortet werden. Es ist anzustreben, daß in einem Gemeindediakonieausschuß die vielfältige ehrenamtliche und hauptamtliche Arbeit der Diakonie einer Gemeinde koordiniert und verantwortet wird.
(148) Eine bleibende Aufgabe für Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen ist die Gestaltung ihrer Beziehung. Sie müssen immer wieder aufeinander zugehen und sich gemeinsam als Leib Christi verstehen.
(149) Die Diakonie behält eine gute Perspektive, wenn sich die Gemeinden als Dienstgemeinschaften verstehen. So werden sowohl in den diakonischen Einrichtungen und Diensten wie auch in den örtlichen Kirchengemeinden die Grundfunktionen kirchlichen Lebens aufeinander bezogen. In der Liturgie wird das von Gott gewährte Heil angeboten und vergegenwärtigt. Im Zeugnis der Gemeinde wird es in das Wort und - im Dienst der Gemeinde - in die Tat übersetzt. Dienstgemeinschaften und Gemeinden brauchen einander, weil das Wort nicht ohne die Tat und die Tat nicht ohne das Wort sein kann. Die Tat macht das Wort begreifbar, und das Wort macht die Tat eindeutig. Gemeinden und Dienstgemeinschaften bleiben darauf angewiesen, daß Gott sie durch seinen Geist in Anspruch nimmt und sich durch sie als der Helfende und Rettende den Menschen zuwendet.
(150) Erneuerung - Bearbeiten ungeklärter Fragen: Der Veränderungsbedarf in der verfaßten Kirche und ihrer Diakonie ist groß. In dieser Denkschrift sind im Blick auf die Zukunft der Diakonie wichtige Entscheidungsfragen angesprochen worden. Es konnten dabei nicht alle Fragen, die gegenwärtig anstehen, behandelt werden. Viele sind offen geblieben. Eine eingehende Diskussion in der Kirche muß sich dieser Fragen annehmen und in einem breiten Gespräch nach Lösungswegen suchen. Im folgenden sind deshalb einige der Fragen formuliert, die künftig behandelt werden und zu einer Veränderung und Erneuerung führen müssen:
Wie können das Miteinander der verfaßten Kirche und ihrer Diakonie und die gegenseitige Unterstützung vertieft werden? Wie kann das Diakonische stärker im Leben der Gemeinde als heilender Gemeinschaft, wie in Gottesdienst und Gebet verankert werden? Wie kann es zu einer stärkeren Vernetzung von Gemeindediakonie, Kirchenkreisdiakonie und übergreifender Diakonie kommen? Wie kann es zu einem stärkeren persönlichen diakonischen Engagement der Christen in den Gemeinden kommen?
Wie können die Chancen zu wirklich eigenständigen christlichen Angeboten und zu einem spezifisch christlichen Charakter der Arbeit genutzt werden? Welche Aufgaben und Möglichkeiten bestehen, spezifisch christliche Akzente auch in solchen Arbeitsfeldern zu setzen, die ansonsten von privatwirtschaftlichen und kommunalen Einrichtungen versorgt werden? Soll die Diakonie sich auf bestimmte Aufgaben (etwa diejenigen, die von den privatwirtschaftlichen Anbietern am Sozialmarkt nicht bedient werden) konzentrieren?
Wie weit können Doppelstrukturen zwischen der verfaßten Kirche und ihrer Diakonie abgebaut werden? Wo haben Doppelstrukturen ihren guten Sinn? Welche strukturellen Veränderungen sind möglich, um solche Punkte, in denen ein Nebeneinander von verfaßter Kirche und ihrer Diakonie sichtbar zu werden scheint, zu überwinden und Diakonie als Arbeit der Kirche zu organisieren, zu der sich die Kirche mit Nachdruck bekennt? Wie kann vorhandenes Unbehagen in verfaßter Kirche und ihrer Diakonie offengelegt und abgebaut werden?
Wie kann Diakonie Teil der "inneren Mission" sein? Was kann dafür getan werden, daß die tatsächlich geleistete volksmissionarische Arbeit der Diakonie genügend wahrgenommen und geschätzt wird? Wie können die Kirche und ihre Diakonie im Sinne Wicherns missionarischer werden? Hat die Kirche es nicht versäumt, das Wichernsche Erbe eines missionarisch-diakonischen Gemeindeaufbaus aufzunehmen?
Wie kann sich Diakonie in einer Zeit leerer öffentlicher Kassen und finanzieller Probleme der Kirche neue Mittel erschließen? Welche neuen Strategien zur Gewinnung freier kirchlicher und privater Mittel und von Sponsoren müssen gefunden werden, um auch in nicht-marktbezogenen Arbeitsfeldern eine engagierte und hilfreiche Arbeit tun zu können? Wie weit muß Diakonie als soziale Arbeit der Kirche diese ihre Arbeit mit eigenen Kräften und mit kirchlichen Mitteln tragen?
Wie weit muß, wie weit kann Diakonie Teil des sozialstaatlichen Systems sein? Wo liegen Aufgaben, wo die Grenzen der Zusammenarbeit mit dem Staat? Wo muß sie dem Staat widersprechen? Bis zu welcher Grenze kann die Diakonie Trägerfunktionen übernehmen und staatliche Mittel in Anspruch nehmen? Wie weit kann und wie weit soll die Diakonie Aufgaben des Staates übernehmen? Wo muß sie gerade ihre Stellung wahren? Wie ist auf die tiefgreifenden Änderungen der Strukturen der sozialen Sicherung, wie auf Sozialabbau zu reagieren? Woraus nähren sich Vorbehalte in der Kirche gegen die Rolle der Diakonie im Sozialstaat?
Wie weit kann und wie weit muß die Diakonie privatwirtschaftliche Arbeitsformen übernehmen und zu einer unternehmerisch geführten Diakonie werden? Wann muß es darum gehen, Gewinne zu erwirtschaften?
Auf welche Aufgaben im Blick auf die Zukunft des Zivildienstes und eines freiwilligen sozialen Jahres müssen sich die Kirche und ihre Diakonie einstellen?
Wie können diakonische Einrichtungen ihre christliche Identität wahren, bei denen weniger als zwei Drittel der Mitarbeiter der Kirche angehören?
Braucht die Kirche eine Ordnung des Diakonats? Wie kann es zu einer breiten gemeinsamen Meinung in der Kirche über die Ordnung des Diakonats kommen?
(151) Erneuerung - neue Hinwendung zum Nächsten in den Nöten und Herausforderungen der Gegenwart: Nach dem biblischen Zeugnis sind die Bekehrung der Herzen und die Erneuerungsbereitschaft in den Institutionen die Voraussetzung für wirksames helfendes Handeln. Das prophetische Zeugnis des Alten Testaments weckt Menschen auf aus Gleichgültigkeit, Müdigkeit und Egoismus. Es öffnet die Augen für Menschen in Not, besonders für die sozial Gefährdeten, die Fremden sowie die Kranken und Alten. Der Ruf Jesu zur Umkehr zu Gott wird verbunden mit dem Aufruf zur Hinwendung zum Nächsten. So wird der innere Vorgang der Buße nach außen deutlich durch die Bereitschaft zur Hilfe. Sie wendet sich den Armen, Kranken und Ausgegrenzten zu, gewährt praktische Unterstützung und gewährleistet die Teilhabe der Ausgegrenzten an der Gemeinschaft im Gottesdienst und im Alltag. Da in jeder Gesellschaft aufs neue Ausgrenzungen geschehen, begegnet auch der Nächste in einer sich ändernder Gestalt. Der fernste Nächste ist das Ziel der Diakonie, daher muß sie einen hohen Grad an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit aufweisen. Hervorstechendes Merkmal Jesu und seines Handelns ist sein Dienst an der Freiheit des Menschen. Sein helfendes Handeln wird immer wieder von der Aufforderung "geh hin" begleitet, von der Aufforderung, seinen Weg fortzusetzen, denn Dienst am Menschen soll keine Abhängigkeit erzeugen.
(152) Erneuerung - Aufbruch zu einer diakonischen Bewegung: Diakonie als Gestalt der Kirche besteht heute aus zahllosen Initiativen, Einrichtungen, Netzen, Werken, Verbänden, Gemeinschaften, Arbeitskreisen u.a.m. Es ist sehr viel in Bewegung gekommen, und es ist ein großer Schatz der Solidarität, der Hilfe und Fürsorge entstanden, auf den Kirche und Gesellschaft mit großer Dankbarkeit sehen können. Es gilt, den Schatz bewährter Traditionen sich anzueignen, das Entstandene und Vorhandene zu sehen und als Chance zu begreifen. Diakonie als Dienst am Menschen in der Nachfolge Jesu steht vor der Aufgabe, sich stets neu zu orientieren, fortlaufend zu lernen, sich zu verändern und zu erneuern, um den Menschen in sich ändernden Notsituationen zu begegnen. Diakonie, das ist mehr als nur ein Arbeitszweig unter anderen Arbeitszweigen in der Kirche. Diakonie, dies ist eine Bewegung, die Christen erfaßt und motiviert, sich als Ausdruck ihres christlichen Glaubens ihren Mitmenschen zuzuwenden. So vielen, die sich hineinnehmen lassen in diese Bewegung, erschließt sich das biblische Zeugnis als eine nicht versiegende Quelle für den Mut zur Veränderung und für die Hilfe bei Armut, Leid, Not und Schmerzen. Gottes Zuspruch und Anspruch in seinem Wort wecken solchen Mut und stärken die Demut, den Armen, Hilfebedürftigen und Kranken beizustehen und für ihr Recht einzutreten. Sie sind Grundlage für den Weg der Diakonie in die Zukunft. Jesus Christus bezeugt den Anbruch der Gottesherrschaft nicht nur durch sein Wort, sondern verdeutlicht sie auch durch seine Sündenvergebung, sein Heilen, Helfen und Retten. Sein Wort und seine Tat ergreifen den Menschen in seiner den Leib, die Seele und den Geist umfassenden Ganzheit. Was nach dem Neuen Testament Jesus Christus vom Dienst sagt und wie er selbst sich als Diener bezeichnet und entsprechend gehandelt hat, bleibt Maßstab für diakonisches Handeln heute.