Herz und Mund und Tat und Leben
EKD-Denkschrift Nr. 143, 1998
Vorwort
EKD-Denkschrift Nr. 143, 1998
"Herz und Mund und Tat und Leben muß von Christo Zeugnis geben", heißt es in der gleichnamigen Kantate von Johann Sebastian Bach. Genau darum geht es beim Dienst der Christen an ihren Mitmenschen, den wir Diakonie nennen. Er ist ein Zeugnis von der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus, von der Liebe Gottes, die allen Menschen gilt. Dieser Dienst wird nicht nur mit Herz und Mund geleistet, sondern auch mit Tat und Leben. Immer dort, wo Christen ihren Mitmenschen in Not zur Seite stehen, wo Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der diakonischen Arbeit der Kirche engagiert ihren Dienst tun, Mitmenschen beraten, Hilfesuchende aufnehmen, ihnen zuhören, sie begleiten, ihnen zu essen geben, Bedürftige pflegen, kann etwas aufscheinen von der Liebe Gottes zu den Menschen. Dies ist christliche Diakonie.
Die hier vorgelegte Denkschrift will im Jubiläumsjahr der Diakonie diesen Dienst vor Augen stellen, an die biblischen Grundlagen diakonischer Arbeit erinnern und zur Mitwirkung in diesem Dienst Mut machen. Sie ist ein deutliches Ja der evangelischen Kirche zu ihrer Diakonie.
Die Denkschrift ist von einer Kommission aus fachkundigen Personen vorbereitet worden. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und das Präsidium der Vereinigung Evangelischer Freikirchen danken den Mitgliedern der Kommission für die von Ihnen geleistete Vorbereitungsarbeit. Beide Leitungsgremien haben der Denkschrift nach eingehender Beratung gerne ihre Zustimmung zur Veröffentlichung gegeben. In dem Vorhaben einer gemeinsamen Denkschrift kommt zum Ausdruck, daß in der praktischen diakonischen Arbeit und auf der Ebene der Diakonischen Werke eine intensive Kooperation zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihren Gliedkirchen sowie den evangelischen Freikirchen besteht.
Am 150. Jahrestag des denkwürdigen Wittenberger Kirchentages von 1848, als es durch Johann Hinrich Wichern zu entscheidenden Impulsen für die Kirche und ihre Diakonie kam, empfinden wir tiefe Dankbarkeit für den reichen Segen, den die evangelische Kirche und die ganze Gesellschaft durch die Diakonie erfahren haben. Vielen Menschen ist in Notsituationen geholfen worden, viele haben den Halt und die Hilfe gefunden, die sie brauchten. Die Diakonie hat in vielen Menschen die Bereitschaft geweckt, sich persönlich als Christen zu engagieren oder gar den Dienst am Nächsten als Lebensberuf zu wählen.
Dankbar blicken die evangelischen Christen in Deutschland zurück auf die geschichtlich bedeutsame soziale und humanitäre Leistung, die seit den Anfängen der Inneren Mission von vielen Christen in der diakonischen Arbeit erbracht worden ist. Neben der diakonischen Arbeit der Gemeinden sind viele diakonische Werke und Einrichtungen entstanden: Krankenhäuser, Heime zur Erziehung von Kindern und Jugendlichen, Heime und Pflegeeinrichtungen für alte oder behinderte Menschen, Tagesstätten für Kinder, alte oder behinderte Menschen, Diakoniestationen, Hospizgruppen und anderes mehr. Die kirchliche Diakonie ist heute eine der tragenden Säulen des sozialen Gemeinwesens und des modernen Sozialstaats, an dessen Gestaltung sie in der Vergangenheit maßgeblich mitgewirkt hat und weiterhin beteiligt ist. All dies ist ein eindrucksvolles evangelisches Zeugnis von der Barmherzigkeit Gottes und der uns erwiesenen Liebe.
In unserem wohlhabenden Land sind viele der Probleme, die zu Wicherns Zeit vorherrschend waren, überwunden. Ein moderner Sozialstaat sichert heute seine Bürgerinnen und Bürger gegen soziale Lebensrisiken. Gleichwohl stehen wir vor neuen Aufgaben, die sowohl Veränderungen in den traditionellen diakonischen Arbeitsgebieten als auch neue Initiativen verlangen. Suchtkrankheiten, AIDS, Einsamkeit und Hilflosigkeit nehmen zu, Langzeitarbeitslosigkeit hat schwerwiegende soziale und gesundheitliche Folgen und ist in vielen Fällen von Verarmung und Obdachlosigkeit begleitet. Viele Alleinerziehende befinden sich in schwieriger Lage. Die Zahl der Hochbetagten nimmt fortlaufend zu. Dies alles zeigt: Wir brauchen heute nicht weniger Dienst am Mitmenschen und nicht weniger Solidarität und Gerechtigkeit in der Gesellschaft, sondern mehr. Wir brauchen ein verstärktes diakonisches Engagement als entschlossene Antwort auf die Nöte unserer Zeit und tatkräftige Hilfe zu ihrer Überwindung.
Große Herausforderungen und Veränderungen kommen hinzu. Mehr und mehr wird soziale Arbeit in Deutschland nach Wettbewerbsgesichtspunkten geordnet. Neben der sozialen Arbeit der freien Wohlfahrtsverbände treten privatwirtschaftliche Anbieter auf den Plan. Ein Trend zur Privatisierung sozialer Lebensrisiken wird spürbar. Der Sozialstaat und mit ihm die ihn tragenden Einrichtungen sind in Finanzierungsprobleme geraten. Die Bedeutung der Zusammenarbeit der Diakonie mit unterschiedlichen Einrichtungen und Gruppen in der Zivilgesellschaft nimmt zu. Das vereinigte Europa mit seinen offenen Märkten und seiner Freizügigkeit führt zu wichtigen Veränderungen und neuen Aufgaben.
Die Kirche muß sich mit ihrer Diakonie, wie die Denkschrift unterstreicht, mit zukunftsweisenden Ansätzen auf die Herausforderungen einstellen, Bewährtes erhalten und fördern, Neues erproben und Veränderungen wagen. Deshalb brauchen wir auch ein neues, gemeinsames Nachdenken über den Dienst unserer Kirche in der säkularen Gesellschaft und über Rolle und Zukunftsaufgaben unserer Diakonie. Wir brauchen ein neues Nachdenken über das Miteinander von Wortverkündigung und Dienst am Mitmenschen in der Kirche, ein neues Fragen nach dem, was uns als ein besonderer Auftrag von Gott in der modernen, von Individualisierung, Wettbewerb und Internationalisierung bestimmten Industriegesellschaft gegeben worden ist, um die Menschenwürde zu wahren, Menschlichkeit zu ermöglichen und Lebensraum zu eröffnen.
Wir sind dankbar dafür, daß dieses Nachdenken begonnen hat. Die vorgelegte Denkschrift wird für das jetzt in Gang gekommene Gespräch ein Beitrag sein. Sie will Anstöße vermitteln und zum Dialog einladen. Sie will an die Grundlagen unseres Glaubens erinnern und zum Engagement der Christen für ihre Mitmenschen und für eine solidarisches und gerechtes Gemeinwesen ermuntern.
Die Denkschrift kann und will kein vollständiges Bild von der diakonischen Arbeit der Kirche zeichnen. Vieles fehlt in ihr. Vieles muß einem weiteren Gespräch vorbehalten werden. Evangelische Kirche in Deutschland und Vereinigung Evangelischer Freikirchen hoffen gemeinsam auf eine interessierte Aufnahme und ein aufgeschlossenes und weiterführendes Gespräch.
Hannover / Frankfurt am Main, im September 1998
Präses Manfred Kock Vorsitzender des Rates der EKD
Bischof Dr. Walter Klaiber
Vorsitzender der VEF