„Selig sind die Friedfertigen“
Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik, EKD-Text 116, 2014
2. Das deutsche militärische Engagement in Afghanistan und die Grenzen rechtserhaltender militärischer Gewalt
- In der Friedensdenkschrift heißt es: „Das ethische Leitbild des gerechten Friedens ist zu seiner Verwirklichung auf das Recht angewiesen. Es ist deshalb zu konkretisieren in Institutionen, Regeln und Verfahren eines international vereinbarten Rechtszustandes, der friedensethischen Anforderungen genügt.“ (Ziffer 85) Da Recht auf Durchsetzbarkeit angelegt ist, sind in „der Perspektive einer auf Recht gegründeten Friedensordnung Grenzsituationen nicht auszuschließen, in denen sich die Frage nach einem [...] erlaubten Gewaltgebrauch und den ethischen Kriterien dafür stellt“ (Ziffer 98). Wenn die Denkschrift in diesem Zusammenhang von einer „Ethik rechtserhaltender Gewalt“ spricht, so bezieht sich der dabei vorausgesetzte Begriff des Rechts nicht auf ein faktisch gegebenes Rechtssystem, sondern normativ auf die in den grundlegenden Menschenrechten und einer legitimen Völkerrechtsordnung konkretisierte Rechtsidee. Die Erhaltung des Rechts schließt als ultima ratio seine gewaltsame Durchsetzung nicht aus. Friedenskompatible Rechtsinstitutionen sind eine wesentliche Voraussetzung nachhaltigen Friedens. Um sie zu schaffen, kann es nötig sein, rechtsermöglichende Gewalt anzuwenden.
- Mit Blick auf die ethische Bewertung des Einsatzes militärischer Gewalt in Afghanistan ist es unzureichend, lediglich auf die in Ziffer 102 der Denkschrift aufgelisteten Prüfkriterien zurückzugreifen. Denn an dieser Stelle werden mit Bedacht zunächst nur allgemeine Kriterien genannt, die bei allen Formen rechtserhaltender Gewalt zu beachten sind [4]. Um für die Legitimation rechtserhaltenden militärischen Gewaltgebrauchs aussagekräftig zu sein, bedürfen diese allgemeinen Kriterien einer ersten Konkretisierung im Blick auf unterschiedliche Situationstypen. Deshalb wurde in den Ziffern 104 bis 123 — im Rahmen einer ethischen Reflexion des Völkerrechts und des offenen Prozesses seiner Konstitutionalisierung — zwischen drei Fallkonstellationen unterschieden: dem auch kollektiven Selbstverteidigungsrecht zum Schutz der Bevölkerung (nach Art. 51 UN-Charta), der internationalen Schutzverantwortung für die Bevölkerung eines anderen Staates (im Sinn der sich neu herausbildenden völkerrechtlichen Norm der responsibility to protect) und der sog. internationalen bewaffneten Friedensmissionen unterhalb dieser Schwelle.
- Die Fallbeschreibung einer internationalen Schutzverantwortung scheidet in Afghanistan als moralischer Rechtfertigungstitel für externes militärisches Eingreifen aus. Auch völkerrechtlich wurden die in der Friedensdenkschrift genannten Inter ventionsgründe (Massenmord an Minderheiten, Massaker an ethnischen Gruppen, ethnische Vertreibung, kollektive Folter und Versklavung) weder nach dem 11.09.2001 noch in den zehn Jahren danach zur Begründung für das internationale militärische Engagement in Afghanistan herangezogen. Das bedeutet allerdings nicht, dass es in Afghanistan vor dem internationalen Eingreifen keine schweren Menschenrechtsverletzungen gegeben hätte. Dass es sie gab, ist deutlich.
- Was die Fallbeschreibung des Selbstverteidigungsrechts betrifft [5], so hat die UN-Sicherheitsrats-Resolution 1368 vom 12.09.2001 einerseits gemäß Art. 39 der UN-Charta die einen Tag zuvor in den USA verübten Terrorakte von Al Qaida als „Bedrohung“ des „Weltfriedens“ und der „internationalen Sicherheit“ bezeichnet. Damit wurde der Weg frei gegeben für die in Kap. VII der UN-Charta vorgesehenen Maßnahmen unter Leitung der UN. Ein „Bruch des Friedens“ durch einen „bewaffneten Angriff“ wurde nicht festgestellt. Allerdings hat der Sicherheitsrat andererseits das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta anerkannt, was einen „bewaffneten Angriff“ voraussetzt. Damit wurde die unmittelbare Reaktion dem Handlungsermessen des geschädigten Staates überlassen. Die NATO hat dem entsprechend zur Unterstützung der USA den Bündnisfall erklärt, der bis heute nicht als beendet gilt. Unter NATO-Kommando ging es zunächst um Überwachung des Luftraums; wenig später kam die Operation Active Endeavour zustande, bei der Kriegsschiffe im östlichen Mittelmeer eingesetzt wurden. Die amerikanische Regierung selber hat sich zunächst nicht des Beistands durch die NATO, sondern einer sog. Koalition der Willigen versichert. Die so zusammengesetzte US-geführte Operation Enduring Freedom (OEF) stützt sich bis heute auf Art. 51 UN-Charta [6].
- Diese zeitliche Ausdehnung des Selbstverteidigungsrechts wird zwar durch die Praxis des UN-Sicherheitsrats und der militärisch engagierten Staaten gestützt, ihre Bewertung ist jedoch in der Kammer umstritten.
Einer Position in der Kammer zufolge ließ sich nach dem 11.09.2001 eine unilaterale Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gegen das mit Duldung und unter dem Schutz Afghanistans operierende Terrornetzwerk Al Qaida rechtfertigen, jedoch nur als subsidiäres Notrecht zur Abwehr einer gegenwärtig drohenden Gefahr. Dementsprechend sei der Legitimationstitel der Selbstverteidigung schon 2001 nach der Entmachtung des Talibanregimes und der Zerschlagung der Stellungen von Al Qaida in Afghanistan erschöpft gewesen. In der Friedensdenkschrift wurde der Auffassung, dass der punktuelle Charakter terroristischer Attacken eine zeitliche Dehnung des Selbstverteidigungsrechts rechtfertige, widersprochen: „Terrorismusbekämpfung ist kein legitimes Ziel einer weit über den aktuellen Selbstverteidigungsfall hinaus anhaltenden Kriegführung, sondern gehören in die Kategorie der internationalen Verbrechensbekämpfung“ (Ziffer 106) [7]. Aus friedensethischer Sicht wird kritisiert, dass die USA seit Jahren — durch die internationale Gemeinschaft und die deutsche Politik [8] unterstützt — ihren „Krieg gegen den Terrorismus“ unter dem Legitimationstitel der „Selbstverteidigung“ führen. Dagegen sei Widerspruch nötig.
Nach einer anderen in der Kammer vertretenen Position besteht das Selbstverteidigungsrecht weiterhin fort, gerade auch angesichts der oft sprunghaften und kaum vorherzusehenden Lageentwicklung in Afghanistan. Der UN-Sicherheitsrat habe in der Resolution 1386 (2001) die Anschläge vom 11.09.2001 verurteilt und das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung bekräftigt; die internationale Gemeinschaft werde darin aufgefordert, alle Anstrengungen zur Verhütung und Bekämpfung terroristischer Handlungen zu verdoppeln. In späteren Resolutionen (z.B. 2005 und 2011) habe der UN-Sicherheitsrat die Rolle der OEF ausdrücklich willkommen geheißen. Zudem unterstütze der UN-Sicherheitsrat die „kontinuierlichen Anstrengungen, die die afghanische Regierung mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft, namentlich der ISAF und der Koalition der Operation ‘Enduring Freedom‘, unternimmt, um die Sicherheitslage zu verbessern und weiter gegen die von den Taliban, der Al-Qaida und anderen gewalttätigen und extremistischen Gruppen ausgehende Bedrohung anzugehen.“ [9] In diesem Zusammenhang werde die Notwendigkeit anhaltender internationaler Anstrengungen, namentlich seitens der ISAF und der OEF, ausdrücklich unterstrichen. Dabei sei festzuhalten, dass nach der UN-Charta und dem allgemeinen Völkerrecht Selbstverteidigung nicht nur bis zur Abwehr der Gefahr legitim sei, sondern auch der Gefahr einer Fortsetzung des Angriffs wehren könne [10]. Zu Beginn des Afghanistan-Einsatzes seien die allgemeinen Kriterien einer rechtserhaltenden Gewalt gemäß Ziffer 102 und 103 der Friedensdenkschrift durchaus oder zumindest überwiegend erfüllt gewesen. Nach den Erfahrungen in Afghanistan sei über das in der Friedensdenkschrift ausdrücklich Gesagte hinaus anzuerkennen, dass ein militärisches Engagement über längere Zeit hinaus erforderlich sein könne, um einen Rückfall in eine unmittelbare Bedrohungssituation zu verhindern. Zudem werde unterschiedlich beurteilt, ob tatsächlich von einer Entmachtung des Talibanregimes in allen Teilen des Landes gesprochen werden könne und ob die Stellungen von Al Qaida in Afghanistan tatsächlich zerstört worden seien. Dies könne durchaus unterschiedlicher Einschätzung der faktischen Lage unterliegen. Friedensethisch rücke daher in den Vordergrund der Fragestellung, ob genug unternommen worden sei, eine Befriedung Afghanistans zu bewirken, und was zu tun sei, wenn dieses Ziel nicht erreicht werden kann.
- Für die Beurteilung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, der seit Januar 2002 hauptsächlich im Rahmen von ISAF stattfindet, sind die Prüfkriterien heranzuziehen, die in der Friedensdenkschrift dem damaligen Verständnis einer Stabilisierungsmission entsprechend für internationale bewaffnete Friedensmissionen formuliert worden sind (Ziffern 117-123). Diesen Kriterien zufolge werden militärische Mittel zur befristeten Sicherung der äußeren Rahmenbedingungen für einen eigenständigen politischen Friedensprozess vor Ort dann für vertretbar gehalten,
- wenn sie auf die Ziele der „Konfliktprävention“ und „Friedenskonsolidierung“ bezogen sind (Ziffer 119),
- wenn die „Mitsprache“ und möglichst „Zustimmung“ einheimischer Akteure gewährleistet ist, die „als Träger einer legitimen selbstbestimmten Staatsbildung in Betracht kommen“ (Ziffer 120),
- wenn es eine „klare völker- und verfassungsrechtliche Grundlage“ gibt und nicht „nationale und bündnispolitische Interessen [...] an die Stelle der primären Zuständigkeit der UN und ihrer regionalen Abmachungen treten“ (Ziffer 121),
- wenn sie „Aussicht auf Erfolg“ haben, was jedenfalls voraussetzt, dass sie „Teil eines friedens- und sicherheitspolitischen Gesamtkonzepts“ vor Ort sind, das mit einer „präzise(n) Definition des Auftrags“ verbunden ist (Ziffer 122),
- wenn die „persönlichen Belastungen und Risiken“ für Intervenierende und betroffene Zivilisten verantwortbar sind und im Verhältnis zur Legitimität und Realisierbarkeit der angestrebten Ziele stehen (Ziffer 122).
- Darüber hinaus sollten bewaffnete Friedensmissionen immer mit einer „begleitenden und nachträglichen Evaluierung durch unabhängige Instanzen verbunden werden“ (Ziffer 123).
- Bedeutende Schritte zur Evaluierung werden seit Dezember 2010 mit den von der Bundesregierung ressortübergreifend verantworteten Fortschrittsberichten vorgelegt. Dabei ist es wichtig, sich die Dynamik zu vergegenwärtigen, unter der sich der ISAF-Einsatz ständig veränderte, und zu fragen, inwieweit diese Veränderungen in eine positive Richtung weisen. Zieht man die genannten Regierungsberichte und weitere, auch auswärtige Lagebeurteilungen heran, so werden zum Teil erhebliche Diskrepanzen gegenüber den in der Denkschrift formulierten Bedingungen für internationale bewaffnete Friedensmissionen sichtbar:
- Die Bedenken beziehen sich nicht auf die völkerrechtlichen Grundlagen des ISAF-Einsatzes. Diese sind gegeben. In der „Bonner Vereinbarung“ vom 05.12.2001 wurde von der Staatengemeinschaft die Bildung einer Interimsregierung in Kabul beschlossen sowie die Vereinten Nationen gebeten, zu deren Schutz und bis zum Aufbau eigener afghanischer Sicherheitskräfte eine internationale Friedenstruppe zu beschließen. Dazu hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 20.12.2001, gestützt auf Kapitel VII der UN-Charta, mit der Resolution 1386 den Einsatz einer internationalen Schutztruppe (ISAF) autorisiert und diese mit entsprechenden Zwangsbefugnissen („all necessary measures“) ausgestattet. Seitdem wurde der Afghanistan-Einsatz jährlich durch UN-Resolutionen verlängert, zuletzt durch die erneut einstimmige Verabschiedung der Resolution 2069 (2012) des UN-Sicherheitsrates [11]. Es handelt sich somit um einen im Rahmen des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen autorisierten Einsatz, der (zunächst schwerpunktmäßig auf die Region um Kabul begrenzt) die Sicherheit der vorläufigen afghanischen Regierung und des zivilen Aufbaupersonals der Vereinten Nationen gewährleisten sollte. Ziel des Einsatzes war und ist die Unterstützung der afghanischen Regierung bei der Ausbildung und Aufstellung afghanischer Sicherheitskräfte und der Aufrechterhaltung eines sicheren Umfeldes, in dem der Wiederaufbau des Landes geleistet werden kann. Mit der Sicherheitsrats-Resolution 1510 wurde 2003 eine schrittweise Ausdehnung auf ganz Afghanistan beschlossen, um der Zentralregierung in Kabul eine landesweite Kontrolle zu ermöglichen. Hier setzen die Bedenken ein: Bei der Mandatierung durch den UN-Sicherheitsrat bestand von Anfang an eine friedenspolitisch problematische Überschneidung zwischen der mit Erzwingungsgewalt ausgestatteten Stabilisierungsmission von ISAF einerseits und dem auf das Selbstverteidigungsrecht gestützten OEF-Einsatz andererseits [12]. Da OEF- und ISAF-Kräfte in Afghanistan im gleichen Raum operieren, ist eine Unterscheidung beider Operationen durch die Bevölkerung vor Ort nicht ohne weiteres möglich — mit der Folge abnehmender Akzeptanz des ISAF-Einsatzes. Nach dem Präsidentenwechsel von 2009 wurde zwar in den USA die Lageanalyse von jahrelangen Beschönigungen befreit, aber die Politik der Stärke beibehalten — jetzt als Mittel für einen angestrebten späteren Verhandlungsfrieden mit den aktuellen Kriegsgegnern [13]. Die Entwicklung in Afghanistan verdeutlicht, dass die Beurteilung des Einsatzes von Gewalt von der ursprünglichen Entscheidung zur (gewaltsamen) Intervention mit geprägt wird. Im laufenden Einsatz haben Faktoren, die bei der ursprünglichen Interventionsentscheidung nicht erkennbar waren, zu zuvor unvorhergesehenen und ungewollten Gewaltmaßnahmen geführt. Ob diese Maßnahmen ihre Legitimität aus der ursprünglichen Interventionsentscheidung erhalten, ist in der Kammer strittig.
Ein Teil der Kammer kommt zu dem kritischen Urteil, dass die Legitimität der Fortsetzung einer Intervention situativ immer wieder sorgfältig überprüft und unter Umständen revidiert werden muss.
Ein anderer Teil der Kammer betont die Bedeutung der unvorhersehbaren Entwicklungen und hält die Legitimität flexibler Reaktionen durch die Grundentscheidung zur Intervention grundsätzlich für gegeben.
In jedem Fall bedeutet dies allerdings, dass schon von vornherein die Grundentscheidung zur militärischen Intervention mit größter Sorgfalt Unvorhergesehenes einkalkulieren muss und Ausstiegsszenarien mit bedacht werden müssen. Die Folgen eines Ausstiegs aus laufendem Einsatz sind regelmäßig andere als die einer Verweigerung des Einsatzes überhaupt. Der Afghanistaneinsatz macht diesen Zusammenhang von Grundentscheidungen und Folgeentscheidungen gegenüber der Friedensdenkschrift besonders deutlich.
- Vom Beginn des Afghanistaneinsatzes an war das Argument der Bündnissolidarität von mitentscheidender Bedeutung [14]. Am Einsatz sind insgesamt mittlerweile 85 Staaten und 15 große Organisationen beteiligt, davon 50 Staaten mit einem militärischen Beitrag bei ISAF (mehr als ein Viertel aller Staaten dieser Welt). Damit handelt es sich um den bisher umfangreichsten UN-mandatierten Einsatz seit Bestehen der Vereinten Nationen.
Ein Teil der Kammer würdigt zwar die Einbindung des Afghanistaneinsatzes in die internationale Gemeinschaft, bestreitet aber, dass der Gesichtspunkt der Bündnissolidarität im Zweifelsfall Vorrang haben darf vor friedensethischen und rechtlichen Selbstbindungen.
Ein anderer Teil der Kammer betont, dass sich durch diese Einbindung in einen multilateralen Einsatz Erfordernisse gegenseitiger Rücksichtnahme ergeben, die sich nicht immer leicht mit den eigenen politischen und ethischen Auffassungen vereinbaren lassen, gleichwohl aber im Blick auf die Gesamtsituation von Gewicht sind.
Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass Wertung und Reichweite der „Bündnissolidarität“ künftig genau zu prüfen sind im Blick auf mögliche internationale Einsätze.
- Was das Kriterium der Mitsprache und Beteiligung legitimer einheimischer Akteure betrifft, so stimmte die Übergangsregierung des im Jahre 2001 auf der internationalen Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn ins Amt gebrachten Präsidenten Hamid Karzai dem ISAF-Einsatz zu. Allerdings waren von dieser Konferenz in Bonn auf dem Petersberg erhebliche Teile der Zivilgesellschaft, darunter auch oppositionelle Kräfte (insbesondere auch afghanische Frauengruppen) ausgeschlossen und bekamen keine Stimme im vorgesehenen politischen Prozess. Dieser Prozess bindet im Übrigen die regionalen und lokalen Akteure nur unzureichend im Sinne einer funktionierenden Selbstverwaltung ein [15].
- Die Ziele der ISAF-Beteiligung der Bundeswehr wurden in den seit 2001 jährlich erneuerten Mandaten des Deutschen Bundestags — wie üblich — immer nur sehr allgemein und ohne Angabe präziser, überprüfbarer, auf ein friedenspolitisches Gesamtkonzept bezogener Teilziele formuliert. Während sich das deutsche Afghanistan-Engagement seit 2002 personell und materiell sowie seit Oktober 2003 geographisch (im Rahmen der Verlegung deutscher Kräfte in das heutige Regionalkommando Nord) ausgeweitet hat, wurden die auch von militärischer Seite seit langem geforderten umfangreicheren Mittel für zivile Zwecke sowie die erforderliche Unterstützung im Bereich „good administration“ und „good governance“ erst Jahre später (London-Konferenz von 2010) ansatzweise bereit gestellt. Dies könnte sich in einer historischen Nachbetrachtung als das eigentliche und gravierendste Versäumnis des Engagements der internationalen Gemeinschaft herausstellen. Das erste Mandat (2001) schloss sich in der Auftragsbeschreibung eng an das in der Sicherheitsratsresolution 1386 angegebene Ziel an, ein sicheres Umfeld für die Wiederaufbaumaßnahmen durch die vorläufige Regierung Afghanistans und das Personal der Vereinten Nationen zu schaffen. Mit dem vierten Mandat vom Oktober 2004 erfolgte eine Ausweitung auf den Schutz von weiterem internationalen Zivilpersonal, auf die Demilitarisierung und mögliche Reintegration ehemaliger Kombattanten sowie auf Beiträge zu zivil-militärischer Zusammenarbeit. Die Bundeswehr bemühte sich in ihren Zuständigkeitsbereichen in dieser Phase um einen bevölkerungsorientierten Ansatz. Sie übernahm die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte, überließ diesen aber die Initiative bei der offensiven Auseinandersetzung mit bewaffneten Kämpfern und mutmaßlichen Attentätern. Solche Aufträge entsprachen den in der EKD-Friedensdenkschrift für legitim erachteten Einsatzzielen der Konfliktprävention und Friedenskonsolidierung. Allerdings fehlte viele Jahre das für eine begründete Aussicht auf Erfolg erforderliche friedens- und sicherheitspolitische Gesamtkonzept unter dem Primat des Zivilen oder wenigstens unter gleichrangiger Gewichtung der diplomatischen, entwicklungspolitischen und polizeilichen Aufgaben, obwohl im Rahmen des „vernetzten Ansatzes“ unter Federführung des Auswärtigen Amtes neben dem Verteidigungsministerium weitere Ressorts einbezogen wurden. Erst seit der Londoner Konferenz von 2010 wird ein Umdenken deutlich, dass sich in einer erheblichen Ausweitung ziviler Mittel niederschlägt. Über eine realistische Abschätzung der für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Konsolidierung notwendigen und geeigneten Mittel und die Kriterien für einen Rückzug der ausländischen Truppen wurde erst sehr spät öffentlich diskutiert. Die Aufgabe „Unterstützung der Regierung von Afghanistan bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit, auch und besonders zum Schutz der Bevölkerung“ mandatierte der Deutsche Bundestag explizit erstmals in seinem Beschluss vom Februar 2010 [16].
- Die territorial ausgeweiteten Mandate gehen auf eine veränderte Lageentwicklung und -beurteilung zurück. Seit 2006/2007 wurden die ISAF-Truppen von der einheimischen Bevölkerung augenscheinlich zunehmend als Besatzungstruppen wahrgenommen, von Aufständischen zum Ziel von Anschlägen und Selbstmordattentaten gemacht und in Kampfeinsätze mit den militärisch und personell erstarkten Taliban verwickelt. An die Stelle der Parallelität des vom damaligen US-Präsidenten erklärten war on terror und der ISAF-Stabilisierungsmission im Auftrag der Vereinten Nationen trat in der Praxis ihre zunehmende Verknüpfung. Für die breite deutsche Öffentlichkeit markierte die vom deutschen Kommandeur des ISAF-Standorts Kundus angeforderte Bombardierung zweier von Taliban gekaperter Tanklastzüge durch US-amerikanische Kampfflugzeuge, bei der im September 2009 zahlreiche unbeteiligte Zivilisten getötet wurden, das Abgleiten eines ursprünglich als Friedens- und Stabilisierungsmission ausgelegten Einsatzes in offensive Kampfhandlungen und „kriegsähnliche Zustände“ — obwohl diese schon Jahre zuvor bestanden hatten [17]. Die militärischen Auseinandersetzungen in Afghanistan werden seitdem völkerrechtlich als „nicht-internationaler bewaffneter Konflikt“ eingeordnet. In bewaffneten Konflikten sind die Soldaten zu einem über Notwehr und Nothilfe hinausgehenden Einsatz militärischer Gewaltmittel berechtigt, und ihr Waffengebrauch ist nach humanitärem Völkerrecht (das an die Stelle des früheren kriegsrechtlichen ius in bello getreten ist) zu beurteilen. Wenn in dieser Lage — wie implizit von Beginn des Einsatzes an — im Februar 2011 der „Schutz der Bevölkerung“ als explizites Ziel des deutschen ISAF-Mandats fungierte, so wurde damit auf das humanitär-völkerrechtliche Gebot des Schutzes der Zivilbevölkerung (Art. 13 ff. des II. Genfer Zusatzprotokolls) Bezug genommen [18]. „Schutz der Bevölkerung“ ist aber auch eine der fünf Zielsetzungen der militärstrategischen Operationsplanung von ISAF, die sich damit in die amerikanische allgemeine Strategie der Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency/COIN) einfügt [19].
- Die seit 2009 vom amerikanischen Oberbefehlshaber in Afghanistan forcierte und bis vor geraumer Zeit den Schwerpunkt bildende COIN-Strategie [20] hatte das erklärte Ziel, durch ein breites zivil-militärisches Handlungsspektrum die Loyalität der Zivilbevölkerung zu gewinnen und die Aufständischen zu isolieren. Dieses Konzept zielte auf den Aufbau einer neuen legitimen, souveränen Staatlichkeit. Im Rahmen von COIN sollten militärische Operationen konzeptionell nur eine Hilfsfunktion für die erforderlichen politischen und gesellschaftlichen Prozesse erfüllen. Einige zivile Akteure sehen darin aber die Instrumentalisierung ziviler, politischer und entwicklungspolitischer Maßnahmen für eine Kriegführung „niedriger Intensität“. Dies würde die in der Denkschrift für bewaffnete Friedenserzwingungsmissionen formulierten Grenzen überschreiten, den Schutz der Zivilbevölkerung der militärischen Bekämpfung gegnerischer Kräfte unterordnen, und die Komplexität des friedenspolitisch Notwendigen unterschätzen [21].
- Die US-Streitkräfte setzen seit einiger Zeit verstärkt auf „verdeckte Operationen“ durch Spezialeinheiten, die gezielte Tötung Aufständischer und Terrorismusverdächtiger und Angriffe mit bewaffneten unbemannten Flugkörpern („Kampfdrohnen“) [22]. Die tribalen Vergeltungsmechanismen werden auf diese Weise nicht überwunden, eher sogar weiter verschärft. Vielfach ist Vergeltung bzw. Rache für den Tod eines Angehörigen ein wichtiges Motiv für den Widerstand in Afghanistan [23]. Der in der Liste der Zielpersonen oben anstehende Anführer des Terrornetzwerks Al Qaida, Osama Bin Laden, wurde am 01.05.2011 von einem Kommando amerikanischer Navy Seals auf pakistanischem Territorium erschossen. Ob die Absicht bestand, ihn gefangen zu nehmen und einem rechtsstaatlichen Verfahren zuzuführen, ist zumindest zweifelhaft [24].
Die eine in der Kammer vertretene Position weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine institutionalisierte Praxis des gezielten Tötens nichtstaatlicher Gewaltakteure, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen, dem humanitären Völkerrecht (Art. 51 Abs. 3 des I. Genfer Zusatzprotokolls sowie Artikel 13 Abs. 3 des II. Genfer Zusatzprotokolls) widerspreche und aus friedensethischer Sicht mit den Kriterien rechtserhaltender und -durchsetzender Gewalt nicht vereinbar sei [25].
Die andere in der Kammer vertretene Position bestreitet, dass es eine solche „institutionalisierte Praxis des gezielten Tötens nichtstaatlicher Gewaltakteure, die nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen“, gibt. Diese Position verweist auf die völkerrechtliche Diskussion zum Kombattantenstatus in komplexen asymmetrischen Konflikten, wie sie prominent in der „Interpretive Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities“ des Kommitees des Internationalen Roten Kreuzes (ICRC) aus dem Jahre 2009 zum Ausdruck kommt [26].
- Der Einsatz von „Kampfdrohnen“ — Unmanned Aerial Combat Vehicles (UACVs) — ist von den US-Truppen in Afghanistan seit 2008 ausgeweitet worden [27]. Zunächst scheint der Vorteil des Ersatzes von Menschen durch technische Systeme auf der Hand zu liegen: Er schützt die eigenen Soldaten und wehrt damit dem Schwinden der öffentlichen Zustimmung zu Militäreinsätzen, die in postheroischen Gesellschaften außerordentlich kritisch gesehen werden, sobald Verluste von Menschenleben in den eigenen Reihen zu beklagen sind. Auch sind Drohnen nicht per se, auf Grund ihrer Systemeigenschaften, völkerrechtswidrig; sie können Präzisionsaufklärung mit Präzisionswirkung verbinden, die Zerstörungswirkung hängt von der mitgeführten Bewaffnung ab. Jedoch gehen — selbst wenn man von der Fehleranfälligkeit von High-Tech-Systemen absieht — diese möglichen Vorteile mit außerordentlichen Risiken einher: Durch die Abstandsfähigkeit der oft aus großer Entfernung gesteuerten Systeme und die leichtere Hinnahme ihres Verlusts sinkt die Hemmschwelle für ihren Einsatz. Angesichts des Trends zu „autonomen“ Systemen, die keiner menschlichen Steuerung bedürfen, stellt sich die drängende Frage, ob das moralische und völkerrechtliche Prinzip der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten gewahrt werden kann. Mit der Tendenz zur robotisierten Tötung individueller Gegner und Verdächtiger [28] sowie zur Depersonalisierung des Krieges und seiner zeitlichen und räumlichen Entgrenzung geraten herkömmliche moralische und rechtliche Standards der Zurechnung von Verantwortung für die Entscheidung über Tod und Leben unter Druck. Hinsichtlich der „Präzisionswirkung“ der Angriffe spricht die bislang umfassendste Untersuchung der New American Foundation von 2009 von einem Drittel ziviler Opfer [29]. Schließlich: „Je stärker sich [...] die Soldaten der überlegenen Seite dem Schlachtfeld entziehen [...], umso mehr wächst für die unterlegene Seite der Anreiz“, mit den terroristischen Angriffen gegen zivile Ziele „den Konflikt in das Herkunftsland der Truppen zu tragen“ [30]. Auch ist anzunehmen, dass die Drohnentechnologie ihrerseits von der gegnerischen Seite eingesetzt wird.
Die Bundeswehr verwendet in Afghanistan derzeit keine Kampfdrohnen [31]. Allerdings spricht sich seit August 2012 die Führung des Bundesministeriums der Verteidigung offen dafür aus, im Rahmen der verstärkten Nutzung unbemannter Systeme (UMS) auch die Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen auszustatten. Dies erfordert eine breite öffentliche Diskussion mit dem Ziel einer völkerrechtlich verbindlichen Normierung.
- Gemessen an der moralisch und rechtlich gebotenen Unterscheidung militärischer von zivilen Zielen werfen die Situationen, bei denen Unbeteiligte zu Opfern von Kampfhandlungen werden, schwerwiegende völkerrechtliche und friedensethische Probleme auf. Art. 51 des I. Genfer Zusatzprotokolls regelt den Schutz der Zivilbevölkerung und verbietet Angriffe, die die Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen nicht beachten. Als unterschiedsloser Angriff gilt unter anderem „ein Angriff, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung (und) die Verwundung von Zivilpersonen [...] verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“ (1. Zusatzprotokoll Art. 51 Abs. 5b). Es ist allerdings die Frage, ob diese Norm dem moralischen Anspruch des Unterscheidungsprinzips und dem Auftrag eines friedenskonsolidierenden Einsatzes genügt. Denn nach dem kriegsvölkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip können Gesichtspunkte der militärischen Notwendigkeit unter Umständen mehr wiegen als das Gebot des Schutzes der Zivilbevölkerung. Aus ethischer Sicht ist zu fragen, inwieweit es verantwortbar ist, um eines erwarteten militärischen Vorteils willen die Tötung unbeteiligter Zivilpersonen hinzunehmen. Jedenfalls im Rahmen internationaler bewaffneter Friedensmissionen ist dem Humanitätsgebot Vorrang vor der militärischen Notwendigkeit einzuräumen. Demgemäß sind bei militärischen Kampfmaßnahmen zivile Opfer mit höchstmöglicher Wahrscheinlichkeit auszuschließen und sollten nicht als „unbeabsichtigte Nebenfolge“ einer im Übrigen legitimen Zielwahl betrachtet werden [32]. Dabei ist anzuerkennen, dass für COM ISAF zivile Verluste oder Schäden soweit wie möglich zu vermeiden sind. Wenn damit zu rechnen ist, dass bei der Anwendung militärischer Gewalt Zivilpersonen zu Schaden kommen, ist die Gewaltanwendung nach ISAF-Regularien nur zulässig, wenn sie der Notwehr und Nothilfe dient und die Gefahr für Leib und Leben der Soldaten nicht anders abgewehrt werden kann [33].
- Möglicherweise hätten sich die heute bestehenden Probleme in Afghanistan verringern lassen, wenn es bei der ursprünglichen Interventionsentscheidung einen umfassenderen Einsatzplan gegeben hätte, der alle relevanten Faktoren einbezogen hätte. Möglicherweise war es auch ein Fehler, anfänglich eine viel zu geringe Truppenstärke mit der zunächst ausschließlichen Eingrenzung des Mandatsgebietes auf die Provinz Kabul vorzusehen. Ein weiter gespannter Rahmen hätte wohl rascheren wirtschaftlichen Fortschritt in einem landesweit sicheren Umfeld, im Sinne einer Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse, ermöglicht. Der weit überwiegende Teil der in und für Afghanistan erforderlichen Anstrengungen müsste aus dem Bereich ziviler Ressorts kommen. Der militärische Beitrag ist nur einer unter mehreren [34]. Die Friedensdenkschrift (Ziffer 150) hat gefordert: „Die Internationale Gemeinschaft muss für ein Land, in dem sie militärisch interveniert, umfassend Verantwortung übernehmen.“ Die insoweit bestehenden Defizite und Versäumnisse mögen mit dazu beigetragen haben, das Wiedererstarken der Aufstandsbewegung im Lande zu erleichtern, was seinerseits in Reaktion darauf zu steigender internationaler militärischer Präsenz im Lande führte. Weitere Defizite bestehen darin, dass viel zu spät ein regionales politisches Konzept entwickelt wurde, das die Nachbarländer einbezieht. Der Ausschluss bestimmter Gruppen bei der ersten Bonn-Konferenz [35] hat die Akzeptanz der dort entwickelten Konzepte nachhaltig beeinträchtigt. Es wäre auszuloten, ob nicht jede Mandatierung einer bewaffneten Friedensmission immer auch mit einem friedenspolitischen zivilen Konzept zu versehen sein müsste. Auf diese Weise wäre jedwede militärische Operation in eine notwendigerweise zivile Perspektive eingebunden und an ihr zu messen. Das erklärte Ziel ziviler Konfliktprävention könnte durch Einbeziehung und Ausbau der vorgesehenen Kompetenzen (Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung, Ressortkreis, Bundestagsunterausschuss) gestärkt werden.