Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive
Ein Grundlagentext des Rates der EKD. Hg. Gütersloher Verlagshaus 2015, ISBN 978-3-579-05978-5
II. Religiöse Vielfalt und evangelische Identität - theologische Grundlinien
Christlicher Glaube und religiöser Pluralismus: eine Grundeinsicht
Pluralismus wird heute in vielfältigen Formen erlebt: im Wettstreit unterschiedlicher Parteien um die Gestaltung des Gemeinwesens, in konkurrierenden Angeboten des Marktes, in der Freiheit der Meinungsäußerung und Lebensführung, in der Vielzahl der Kommunikationsgemeinschaften, aber auch in den nicht überschaubaren Lebensfäden anderer, die sich mit unserer eigenen Biographie verweben. Auch in Angelegenheiten der Religion ist unsere Gesellschaft durch Pluralität gekennzeichnet. So sieht sich das religiöse Individuum mit den Erfahrungen und Einstellungen anderer Christen derselben Gemeinde konfrontiert, ebenso wie die Kirche im Gegenüber zu anderen Konfessionen. Darüber hinaus vollzieht sich nun ganz regelmäßig das Leben der einzelnen Christinnen und Christen wie der Kirche insgesamt im Zusammensein, in gewachsener Nachbarschaft und in Konkurrenz mit den Lebensgewissheiten und ethischen Orientierungen anderer Religionen und Weltanschauungen.
Das ist eine herausfordernde Situation. Auch wenn die Vorstellung irreführend ist, die Geschichte des Christentums habe sich früher in der Konformität homogener Lebenswelten entfaltet, so sind heute rasante Pluralisierungsschübe mit Händen zu greifen und stellen insofern eine neue Situation dar. Von den einen wird sie angstbesetzt, von den anderen hoffnungsvoll betrachtet.
Die evangelische Kirche nimmt den Pluralismus der Religionen und Weltanschauungen nicht nur als ein äußerliches Faktum hin, mit dem man in modernen Gesellschaften eben rechnen müsse. Sie bejaht ihn vielmehr aus grundsätzlichen Überlegungen und aus ihrer eigenen Sache heraus. Da sie die Welt, in der wir leben, als von Gott geschaffene und aus dem Elend der Gottesferne erlöste Welt begreift, sieht sie im Menschen von nebenan, aber auch in den Religionsgemeinschaften auf der anderen Straßenseite nicht nur geduldete Fremde oder tolerierte Andersgläubige, sondern Mitbewohner eines gemeinsamen Raums, Mitbürger einer gemeinsamen Polis und von Gottes Wort Mitangesprochene. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass es sich um Mitbürger handelt, welche die gemeinsame Welt anders deuten und erleben und also die Voraussetzungen des christlichen Glaubens nicht teilen. Die Nähe derer, die nicht zustimmen, folglich auch praktisch erfahrene Distanz und Widerspruch gegenüber ihrem eigenen Glauben, ist für evangelische Christinnen und Christen heute nichts Ungewohntes oder Überraschendes. Wie sie von sich selbst wissen, dass der eigene Glaube im Streit mit dem Zweifel steht und in Anfechtungen lebendig bleibt, wie sie den christlichen Glauben nur in der Vielfalt der Konfessionen kennen, so bejahen sie auch, dass andere Religionen in unserer Gesellschaft einen selbstverständlichen Platz haben, ebenso wie religiöse Abstinenz und Desinteresse. Das Vertrauen, dass der den gottlosen Menschen rechtfertigende Gott in den Zweideutigkeiten unserer Lebenswege sein Reich aufrichtet, hält Christinnen und Christen davon ab, vom Chor menschlicher Stimmen nur Harmonie zu fordern. Ihr Zeugnis gegenüber einer Welt voller Unterschiede und Differenzen gilt dem Wort der Versöhnung, das menschliche Abgrenzungen überwindet.
Dass die Glaubenden Tür an Tür mit Gläubigen anderer Religionen, mit Konfessionslosen und Atheisten (der eigenen wie fremder Traditionen) leben, das ist darum nicht nur als ein äußeres Faktum hinzunehmen. Vielmehr ist der Sachverhalt, dass menschliches Leben sich in einer Vielzahl von Religionen und Weltanschauungen vollzieht, aus Gründen des christlichen Glaubens ein Ausdruck der Freiheit, die wir nicht missen möchten. Der Gott, der die Welt trotz ihrer Gottesferne und -feindschaft in Christus versöhnt hat, zwingt niemanden zum Glauben und ist doch der Gott aller Menschen, nicht nur der Christen, sondern — mit Paulus gesprochen — »der Juden und der Heiden« (vgl. Röm 3,30). Daran hat der Umstand nichts geändert, dass wir die religiöse Welt heute nicht mehr in diese drei Gruppen aufteilen, wie es die Antike zu tun pflegte. Dass weder Juden noch Muslime, weder Hindus noch Sikhs diese christliche Überzeugung teilen oder dass man den christlichen Universalismus als anmaßenden Übergriff empfinden kann, muss Letzterer nicht widerlegen. Denn der Glaube an den einen Gott aller Menschen schließt die Vielfalt religiöser Erfahrungen nicht aus. Der christliche Glaube verkennt nicht, dass andere, sich widersprechende Überzeugungen im Blick auf das, was den Menschen unbedingt angeht, zur Endlichkeit religiöser Gewissheit gehören. Die Existenz anderer religiöser Gewissheiten und die Glaubensfreiheit, aus der Christenmenschen leben, gehören untrennbar zusammen. Da der christliche Glaube eine je eigene individuelle Gewissheit ist, kann er nicht verantwortlich vertreten werden, ohne das Recht divergierender religiöser Überzeugungen und damit das Recht des religiösen Pluralismus anzuerkennen und zu stärken. Diese Grundeinsicht verlangt nach Ab- und Eingrenzungen und nach vertiefter Begründung:
Pluralismus - Beliebigkeit - »Allgemeine Religion« - »Zivilreligion«
Schon das evangelische Christentum selbst präsentiert sich in einer Vielfalt möglicher Lebensformen und ethischer Entscheidungen und vermag es, unterschiedliche Auffassungen zu integrieren, solange sich diese als Ausdruck gemeinsamen Glaubens verstehen lassen. Diese Erfahrung bringt er in die pluralistische Gesellschaft ein, in der Integration und Differenz gleichermaßen unverzichtbar sind.
Solcher Pluralismus aus Gründen eigener Identität wird jedoch leicht mit einer anderen Auffassung verwechselt, die alle Glaubensstandpunkte für beliebig hält und also für gleich-gültig erklärt. Ein achselzuckendes Hinnehmen der bunten Vielheit der Kulturen und Religionen, das in gleichsam touristischer Wahrnehmung unbekümmert auf gewohnten Wegen bleibt, vermag jedoch nicht zu überzeugen. In solcher Vergleichgültigung wird das Phänomen des Pluralismus nicht zu einer Aufgabe, die Umdenken verlangt, wird es nicht als Herausforderung erkannt, die Nachdenklichkeit und Offenheit freisetzt, und darum auch nicht als Chance für das eigene Selbstverständnis.
Auf andere Weise unzureichend ist auch der Versuch, der Pluralität der Religionen dadurch zu begegnen, dass man diese auf das ihnen allen Gemeinsame, sozusagen auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner, reduziert. Man riskiert damit, dass alles, was als das Besondere einer Religion gilt und was den Widerspruch anderer hervorrufen könnte, als nebensächlich erscheint. Die europäische Aufklärung ist in einigen ihrer Strömungen diesen Weg gegangen, als sie nach einer »natürlichen Religion« suchte. Diese sollte nur solche Glaubensvorstellungen enthalten, die für alle Konfessionen und Religionen zustimmungsfähig sind. »Gott an sich« oder »Gott überhaupt« sollte gelehrt und das Leben an der Gottesverehrung ausgerichtet werden, ganz unabhängig davon, an welchen Gott dabei konkret gedacht war. In ähnlicher Weise ist heute immer wieder zu hören, im Grunde glaubten doch alle an denselben Gott — nur dass die fromme Muslima diesen als »Allah«, der gesetzestreue Jude ihn als »Gott Abrahams und Moses«, die Christin dagegen als Vater Jesu Christi anrufe. Doch eine solche Aufteilung zwischen einem Allgemeinen, das die Religionen gemeinsam bekennen, und dem besonderen Namen, den jede für sich zusätzlich auch noch hat, verzerrt die Perspektiven. Gerade das Besondere kann einen Unterschied ums Ganze ausmachen und die Gesamtheit aller religiösen Vorstellungen anders prägen. Auch die Anerkennung eines anderen Menschen gilt ja nicht einer Grundausstattung, in der er mit anderen übereinstimmt, einer Schnittmenge des Gemeinsamen, sondern der einzigartigen Individualität, die sich von allen anderen unterscheidet.
Das darf man auch auf die Pluralität der Religionen übertragen. An Religionen lassen sich in manchen Grundzügen und einzelnen Elementen zwar »Familienähnlichkeiten« beobachten, und doch unterscheiden sie sich noch in dem, was sie gemeinsam haben. Man wird keiner von ihnen gerecht, wenn man sie alle auf einen Grundtyp oder eine Grundanschauung zu reduzieren versucht. Das gilt sogar für den Gottesgedanken bzw. die Gottesvorstellung als solcher. Nicht einmal diese sind — wie der Buddhismus zeigt — ein letzter Kern, den alle Religionen gemeinsam haben.
Eine Theologie der Religionen darf daran gemessen werden, inwieweit es ihr gelingt, die Vereinnahmung anderer Glaubensüberzeugungen oder Weltanschauungen in das eigene Selbstverständnis zu vermeiden. Es reicht keineswegs aus, in anderen Kirchen, kirchlichen Gemeinschaften oder in fremden Religionen alles das als »wahr« und »gut« anzuerkennen, was man letztlich allein bei sich selbst vollständig verwirklicht sieht. Solch gut gemeinte Inklusion scheint Exklusivismus und Dogmatismus aufzuweichen, entspricht aber nicht der evangelischen Einsicht in die Eigenart, Unhintergehbarkeit und Berechtigung des Pluralismus.
Darum spielt sich der Protestantismus auch nicht als die Zivilreligion des demokratischen Gemeinwesens auf. Gewiss treten evangelische Christinnen und Christen aus Gründen ihres eigenen Glaubens für dieses Gemeinwesen und den aus ihm nicht wegzudenkenden Pluralismus ein. Aber die normativen Grundlagen des modernen Rechtsstaates, allen voran die Würde des Menschen, die Gleichberechtigung der Geschlechter oder das Recht freier Religionsausübung (in dessen positiver wie negativer Fassung) stellen Voraussetzungen dar, die nicht darum verbindlich sind, weil sie aus dem christlichen Glauben stammten oder »immer schon christlich« wären. Viele Grundüberzeugungen unseres Gemeinwesens wurden aus christlicher Überzeugung entwickelt und erstritten — aber manche mussten auch gegen Widerspruch und Zögerlichkeit der Kirchen durchgesetzt werden. Schon aus diesem Grund verbietet es sich, das ethische Fundament, das unterschiedliche Teile der Gesellschaft verbindet, auf dem Umweg historischer Ableitungen einseitig allein aus dem Christentum herleiten zu wollen.
Die evangelische Kirche bringt ihren Respekt vor den Staatsbürgern anderer Überzeugung deshalb auch darin zum Ausdruck, dass sie einen unterschiedlichen Zugang zu den Grundwerten der Verfassung anerkennt. Sie selbst leitet die Würde des Menschen aus seiner Gottebenbildlichkeit ab und begreift sie als unverdiente, dem Menschen allein durch Gottes Rechtfertigung zukommende Auszeichnung individueller Freiheit. Aber sie schließt mit diesem Verständnis nicht aus, dass Nicht-Christen andere gute Gründe haben können, für Menschenwürde und Menschenrechte einzutreten. Die Chance zur Beheimatung unterschiedlicher Religionen in der Ordnung des Grundgesetzes ergibt sich gerade daraus, dass keine von ihnen die Grundlagen des Rechtsstaates exklusiv mit ihren eigenen Überzeugungen verbindet. Das schmälert nicht die berechtigte Suche nach den produktiven Zusammenhängen zwischen christlichem Glauben und modernem Rechtsstaat. Aber einen Verfassungspatriotismus zu pflegen oder den demokratischen Wertekonsens zu teilen, ist noch kein implizites Bekenntnis zum Christentum oder gar zum Protestantismus.
Die evangelischen Kirchen Deutschlands sehen allerdings deutlich, dass die Orientierung an den zentralen Werten des demokratischen Gemeinwesens nicht durch die Rechtsordnung selbst garantiert werden kann und darum der anhaltenden Anstrengung aller und insbesondere auch der kirchlichen Über- zeugungs- und Bildungsarbeit bedarf. Mit der Anerkennung des modernen Rechtsstaates geht aber auch die Überzeugung einher, dass dieser von überlappenden Konsensen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen getragen wird. Ihre besondere öffentliche Verantwortung können die Kirchen wahrnehmen, ohne diese mit der Auffassung zu verwechseln, sie selbst (oder sie allein) seien Maßstab und Richtschnur für andere Bekenntnis- und Religionsgemeinschaften. Darum freuen sich evangelische Christinnen und Christen, dass sie auch aus anderen kirchlichen und religiösen Traditionen engagierte Stimmen kennen, die für die Freiheit und das Recht der anderen eintreten.
Offene Türen - eindeutige Adresse: politischer, gesellschaftlicher und religiöser Pluralismus
Es ist sachgemäß, dass die christliche Gemeinde ihre Gottesdienste nicht hinter verschlossenen Türen feiert. Sie entzieht sich nicht der Öffentlichkeit, sondern heißt die willkommen, die zu ihr stoßen. Das kann sie freilich nur, weil ihre offenen Türen zu einem Haus gehören, das man unter einer bestimmten Adresse verlässlich antreffen kann. Denn die Kirche ist kein bloßer Marktplatz, an dem alle möglichen religiösen Angebote offeriert oder auf dem versprochen werden könnte, dass jeder gerade das findet, was ihm selbst am liebsten ist. Die Kirche verdankt ihre eigene Existenz dem Evangelium, das sie hört und das sie zusammenfuhrt, und sie gestaltet ihr Dasein aufgrund des Glaubens, der sie selbst verändert, überwunden und auf den Weg zum anderen gebracht hat.
Offen für das Zusammenleben mit Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen ist sie daher genau in dem Maße, in dem sie selbst eine bestimmte Glaubensgewissheit vertritt und Gebetshaus und Räuberhöhle, Kirchenraum und Handelsplatz zu unterscheiden weiß. Sie ruft nicht zu Gott im Allgemeinen oder zu irgendeiner Form von Frömmigkeit (»Hauptsache religiös«), sondern sammelt sich im Glauben unter dem Namen Jesu Christi, den sie in allen ihren Gottesdiensten feiert und anruft. Sie benennt damit den Grund, dem sie Freiheit und Versöhnung verdankt.
Das Bekenntnis des Glaubens gilt einer Welt, in der es auch andere Bekenntnisse gibt und in der auch Menschen ihr Leben fuhren, ohne ihre Lebensgrunduberzeugung zu artikulieren oder auf Gott zuruckzufuhren. Anderen offen zu begegnen, kann also die Kirche genau deshalb, weil sie ein spezifisches Bekenntnis hat, unter dem sie im öffentlichen Raum anzutreffen und klar zu erkennen ist.
Die Kirche nimmt dabei die häufig geäußerte Kritik, die Vorherrschaft einer einzigen Religion, der Monotheismus der einen alleingultigen Wahrheit oder die Absolutsetzung der eigenen religiösen Überzeugung fuhrten zu Gewalt und Unfrieden, insofern ernst, als sie den religiösen Pluralismus als Konsequenz einer freiheitlichen Rechtsordnung begreift. Das motiviert sie aber auch, an ihrem Bekenntnis und ihrer eigenen Bindung an das, was ihr als Wahrheit einleuchtet, festzuhalten. Von einer Imitation des weltanschaulichen Pluralismus durch die christlichen Kirchen selbst, von einer Anpassung ihres Glaubens an die säkularistischen Einstellungen oder an die Indifferenz der Religionsmüden erwartet sie sich keine Stärkung der Freiheit, sondern nur Profilverluste.
Darum kann der Protestantismus den Pluralismus nicht dadurch stärken wollen, dass er Pointen der reformatorischen Theologie abschwächt, weil diese bei anderen unter den Verdacht geraten, Intoleranz zu befördern — oder in der Vergangenheit Intoleranz faktisch befördert haben. Die evangelischen Kirchen sind sich der Gefahren des Fundamentalismus (auch des christlichen Fundamentalismus) und der Strittigkeit aller Angelegenheiten des Glaubens bewusst. Aber sie ziehen sich deshalb nicht aufs Unbestreitbare zurück. Sie sehen sich herausgefordert, den Freimut des eigenen Bekennens mit der Anerkennung des Rechts, ihm nicht zuzustimmen, deutlicher zu verbinden, als das in früheren Jahrhunderten üblich war. Sie machen den reformatorischen Glauben nicht unsichtbar, wenn sie ihn heute im Geist aufgeklärter Toleranz vertreten.
Die evangelische Theologie ist ohne die Bekräftigung ihres vielfältigen Gebrauchs des Wortes »allein« nicht denkbar: Sie kritisierte traditionelle Formen kirchlicher Frömmigkeit mit ihrer entschiedenen Losung: »allein durch den Glauben!«. Sie wies die Autorität des päpstlichen Lehramtes mit ihrem »allein die Schrift« zurück und sie vertraut »allein auf das Wort«, auch wenn sie die Versuchung menschlicher Machtanmaßung kennt. Nur so kann sie das christliche Bekenntnis »allein Jesus Christus« mit den anderen christlichen Konfessionen sprechen. Sie wundert sich nicht, dass ihrer Überzeugung widersprochen wurde und auch heute noch wird. Wenn sie lehrte: »allein durch den Glauben«, so musste sie den Eindruck abwehren, die Praxis der Beliebigkeit preiszugeben oder die Ethik zu vernachlässigen. Sie hat darum gelernt, auf ihre eigene Weise die guten Werke des Menschen zu loben. Aber sie widerspricht auch heute der Auffassung, diese verdienten die Gnade Gottes. Wenn sie lehrt: »allein die Schrift«, so musste sie erkennen, dass der Zusammenhang zwischen Kanonbildung und Entstehung der kirchlichen Institutionen komplexer war, als es die Reformatoren unterstellten. Aber sie widerspricht auch heute der Auffassung, die kirchliche Tradition entscheide mit letzter Autorität über den Bibeltext. Und wenn sie schließlich mit dem Wort des Neuen Testamentes bekennt: »in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir gerettet werden sollen« (Apg 4,12), so begreift sie dieses »allein Jesus Christus« heute nicht als Lizenz zur Nötigung anderer, sondern als das freie und darum andere frei lassende Bekenntnis: »Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben« (Apg 4,20).
Die reformatorischen Leitworte »allein durch den Glauben«, »allein durch das Wort«, »allein die Schrift« sind zwar auf Eindeutigkeit und Unverwechselbarkeit aus, sie sind aber mit einem Exklusivismus des alleinigen Wahrheitsbesitzes nicht zu verwechseln. Jede sorgfältige Analyse dessen, was jeweils mit diesen Leitworten ausgeschlossen wird, zeigt das — etwa wenn beispielsweise das Augsburger Bekenntnis auch dem eigenen bischöflichen Amt abverlangt, die Kirche »allein durch das Wort« zu leiten und damit den Gebrauch menschlicher Macht und Gewalt in Sachen der Religion ausschließt. Die sogenannten »Exklusivpartikel« zielen auf das Recht eigener Einsicht in Religionsangelegenheiten und halten daher alles fern, was auf Überwältigung und Verführung, auf Überredung und Zwang hinausläuft. Da sie die selbsteigene Einsicht der Glaubenden fordern und fördern, stellen sie nicht das Recht des anderen infrage, alles anders zu sehen und darum anderes zu glauben. Wie jedoch das Recht der Meinungsfreiheit seine Pointe verliert, wenn niemand mehr den Mut hat, eine eigene Meinung zu vertreten, so kommt es im Religionspluralismus auf die Freiheit an, eigene Glaubensüberzeugungen auch zu vertreten. Darin weiß sich die evangelische Kirche mit der römisch-katholischen Kirche einig, die sich im Zweiten Vatikanischen Konzil zur Religionsfreiheit bekannt hat.
Es ist daher kein Widerspruch zum rechtlichen und gesellschaftlichen Religionspluralismus, wenn mehrere Religionen ihre jeweilige Erkenntnis als den allein Gott entsprechenden Weg begreifen. Vielmehr besteht religiöser Pluralismus genau darin. Wer den Wahrheitssinn und die existenzielle Leidenschaft der Religion neutralisiert, weil er jedem Bekenntnis Intoleranz unterstellt, unterhöhlt die Religionsfreiheit. Er stärkt den Pluralismus nicht, sondern sucht der Öffentlichkeit Religion auszureden. Dagegen verwahren sich die evangelischen Kirchen. Aber sie freuen sich an allen Menschen, die nach Wahrheit fragen oder Gewissheit suchen — auch dann, wenn diese zu anderer Überzeugung kommen, und sie ertragen auch die Irritationen, die sich in dieser Situation ergeben. Ein aufgeklärter Protestantismus versteht das christliche Bekenntnis nicht als Herrschaftsanspruch in weltanschaulichen Fragen, sondern erkennt in jeder Verabsolutierung religiöser Formeln eine Verzerrung und Entstellung der Wahrheit, die frei macht.
Worauf es heute ankommt, ist die Einsicht aller im Streit um die rechte Gotteserkenntnis verbundenen Religionen, dass sie ihre eigene Glaubensfreiheit nur wahrnehmen können, insofern auch andere Formen des Glaubens und der Religionsausübung möglich sind. Wo immer Menschen sich der Wahrheit stellen, gilt ihnen die Verheißung, dass Gottes Geist weht, wo er will. Darauf hoffen Christen nicht nur für sich alleine, sondern über alle Kirchenmauern und Religionsgrenzen hinweg. Sie begegnen Menschen anderer Konfessions- oder Religionszugehörigkeit daher nicht nur als gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch in der Hoffnung, dass Gottes schöpferischer Geist keinem von ihnen ferne ist. Darum anerkennt die evangelische Kirche, dass auch in anderen Formen der Religion überzeugende Ausdrucksformen humanen Selbstverständnisses, authentische Formen der Spiritualität und verantwortliche Gestaltungen ethischer Überzeugungen zu finden sind. An der Eigenart des christlichen Glaubens, dass ihm solche Erwartung in Kreuz und Auferstehung Jesu von Nazareth gewiss wird, ändert das nichts.
Religiösen Pluralismus gibt es nur, solange mehrere Religionen und alternative Grundüberzeugungen nebeneinander bestehen. Versucht man die Vielfalt der Religionen in eine Grundbeziehung zu einer letzten, allen Religionen gleichermaßen transzendenten Wirklichkeit zu integrieren, stiftet man — vielleicht — eine neue religiöse Überzeugung, schafft aber mit ihr den Pluralismus wieder ab. Die Behauptung, alle glaubten im Grunde doch dasselbe, führt zu einer Verharmlosung, die weder die Chancen noch die zum Pluralismus gehörenden Herausforderungen und Konflikte wahrnimmt, weil sie ihn durch eine letzte Einheit abmildert und einhegt.
Wahrheitsbindung und Dialogfähigkeit
Es gibt Fragen, die nichts von ihrem Gewicht verlieren, selbst wenn sie sich nicht allgemein beantworten und intersubjektiv verbindlich klären lassen. Darum ist das Urteil übereilt, die Frage nach der Wahrheit sei in religiösen Angelegenheiten fehl am Platze, weil man nun einmal kein unabhängiges Kriterium angeben kann, um unter der Vielzahl der Religionen eine als die wahre auszuzeichnen. Letzteres ist in der Tat der Fall. Aber das macht die Wahrheitsfrage nicht obsolet.
Religion ist nach evangelischem Verständnis die Bindung an eine letzte Gewissheit, auf die Menschen im Leben und im Sterben vertrauen, von der sie sich in ihren Lebenseinstellungen und Handlungen in Anspruch nehmen lassen und die darum einen unbedingten und existenziellen Charakter für sie hat. In und mit ihrer Religion antworten sie auf das, was sich ihnen als tragfähiger Grund ihres Lebens verständlich gemacht hat und als überzeugendes Wirklichkeitsverständnis gilt. »Gott« ist immer das, woran man sein Herz hängt, worauf man mit letztem Ernst vertraut oder wovon man sich unbedingt in Anspruch genommen sieht. Solche Gewissheit darf man auch dann »religiös« nennen, wenn sie — wie beispielsweise im Buddhismus — nicht mit einer spezifischen Gottesvorstellung verbunden ist. Selbst wer sich von aller Religion distanziert, lebt von ihn überzeugenden Antworten auf Grundfragen des Lebens. Das Grundgesetz schützt solche (nicht-religiösen) Weltanschauungen mit demselben Ernst wie die Religionen.
Religion kommt nicht dadurch zustande, dass man sie als distanzierter Beobachter aus einer Vielzahl von Angeboten auswählt. Es gehört vielmehr zur Wirklichkeit der Religion, dass sie bereits die Perspektiven prägt, unter denen wir Entscheidungen treffen. Wo Religionen lebendig sind, prägen sie die Einstellungs- und Lebensgrundüberzeugungen, die man daher nicht beiseitesetzen kann, um zunächst und zuerst die Vielzahl der Religionen »neutral« zu betrachten. Sowenig man erst dann ins Wasser geht, wenn man das Schwimmen gelernt hat, so wenig kann man im religionsleeren Raum Traditionen prüfen, um hernach eine auszuwählen.
Doch die Unmöglichkeit, über die Wahrheit der Religion in einem neutralen Verfahren zu entscheiden, impliziert noch nicht, dass die Wahrheitsfrage überflüssig oder irreführend wäre.
Wo Letztere überhaupt gestellt und geduldig im Blick gehalten wird, bleiben die Perspektiven korrigierbar und können sich relativieren in einem Raum des Gemeinsamen, den keiner alleine besetzen kann. Ein Dialog der Religionen, der die gemeinsame Suche nach der Wahrheit und darum nach den jeweils in Anspruch genommenen guten Gründen aufgäbe, könnte Standpunkte austauschen, Interessen pflegen und um wechselseitiges Verständnis sich bemühen. Das ist wichtig und hilfreich. Aber es reicht nicht aus, um in der Sache der Religion dialogfähig zu werden.
Schon die Annahme, dass Religionen es überhaupt mit Gott und nicht nur mit sich selbst zu tun haben, öffnet die je eigene religiöse Gewissheit auf das Allgemeine und Gemeinsame aller Menschen. Auch wenn der Glaubensgegenstand nur für den Glauben und nur in ihm gegeben ist, so wird er doch zugleich als Grund des Glaubens verstanden, der als solcher vom Glaubensakt und von den religiösen Vollzügen unterschieden bleibt. Darum hofft und vertraut der christliche Glaube an Gott darauf, dass sich die Wahrheit auch den eigenen Glaubensvollzügen gegenüber durchsetzt. Diese Hoffnung gründet in der neutestamentlichen Verheißung des Geistes: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« (Joh 8,32). Dem Glauben ist damit nicht verheißen, dass er in allem Recht behält. Er wäre im Dialog der Religionen und in der Wahrnehmung des religiösen Pluralismus inkompetent, wollte er seine Orientierung an der Wahrheitsfrage mit dem Besitz einer abgeschlossenen Wahrheitseinsicht verwechseln. Er müsste dann das letzte Wort behalten wollen, könnte nicht im Ernst hinhören, nicht gemeinsam mit anderen nach Wahrheit suchen und schon gar nicht den Beitrag zur Religionskultur einer pluralistischen Religionsgesellschaft leisten, der von ihm erwartet wird. Wer nur seiner eigenen Überzeugung Wahrheit zuweist, hat sich der Last der Wahrheitsfrage entledigt, aber auch die Chance verspielt, die religiöse Überzeugung des anderen als eine eigene Antwort auf Gottes Wirklichkeit ernst zu nehmen. Der Pluralismus fordert und fördert die Relativierung der eigenen Perspektive, aber er stärkt auch ein reflektiertes Selbstverständnis im Umgang mit der eigenen Tradition. Dieser Prozess ist mit einem Relativismus, der alle Wahrheitsfragen vergleichgültigt, nicht zu verwechseln. Eine Kultur des Pluralismus entwickelt sich mit dem Bewusstsein, dass es mehrere Perspektiven auf die Wirklichkeit gibt, und darum mit der Kunst, Abweichungen, Alterität und nicht-integrierbare fremde Überzeugungen zu ertragen.
In den biblischen Texten ist nicht nur von Rettung und Bewahrung, von Freiheit und Erlösung, sondern immer wieder auch von der Wahrheit die Rede. Oft ist damit diejenige Verlässlichkeit gemeint, in der sich Glaubende bei Gott bergen und restlos unterbringen können. Vor allem das Johannesevangelium spricht aber auch von der Wahrheit als von einem Weg, der zur Freiheit führt. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Wort Jesu: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). Wie ist es zu verstehen und heute auszulegen? Wie können wir der Bedeutung entsprechen, die dieses Wort in der Barmer Synode hatte, die es ihrer theologischen Erklärung zugrunde legte? Worin liegt seine befreiende Stärke, zu welchen Missverständnissen hat es geführt? Vor allem aber: Welche Bedeutung kann es für die Orientierung von Christinnen und Christen im interreligiösen Dialog haben? Das kann hier nicht abschließend geklärt werden, jedoch ist Folgendes zu bedenken:
Evangelische Theologie bestreitet (s.o. S. 28f) die Auffassung, das johanneische Wort von der Wahrheit sichere den theologischen Dogmen der christlichen oder den Bekenntnisschriften der evangelischen Kirche einen unbedingten und absoluten Wahrheitsanspruch. Kirchliche Lehrentscheidungen sind Zeugnisse für die Wahrheit, aber nicht diese selbst. Darum scheitern alle Versuche, andere Menschen um der Wahrheit willen in die Gemeinschaft der Glaubenden hinein zu nötigen. Religion ist Sache freier Zustimmung und eigener Einsicht. Selbst dort, wo der Glaube aufgrund einer überwältigenden Erfahrung zustande kommt, vergewaltigt solche Offenbarung nicht, sondern befreit sie zu eigener Antwort. »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« ist daher nicht der Ausdruck eines dreifachen Absolutheitsanspruches, keine Übersteigerung exkludierender Macht. Vielmehr ist von einer Wahrheit die Rede, die als Weg zum Leben zu verstehen ist, und von einem Leben, das nicht im Selbstbesitz besteht, sondern sich um der Wahrheit willen auf den Weg zum anderen macht. Auch gilt mit diesem Wort nur das als gangbarer Weg, was um des Lebens willen sich an der Wahrheit orientiert.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass das Verhältnis des christlichen Glaubens zur Wahrheitsfrage komplex ist und bleibt. Es ist keineswegs so, dass es zwischen Exklusivismus (= es gibt nur eine wahre Religion unter Ausschluss aller anderen), Inklusivismus (= es gibt wenigstens eine wahre Religion, die die Teilwahrheiten aller anderen in sich einschließt) und Pluralismus (= es gibt mehrere wahre Religionen) wählen müsste.
Betrachtet man die drei Hauptworte »Weg, Wahrheit, Leben« in ihrem wechselseitigen Zusammenhang, so lassen sie die Vorstellung einer abgeschlossenen, rechthaberischen und mit Gewalt durchsetzbaren »Wahrheit« nicht aufkommen. Sie antworten ja auf die Ungewissheit der Jünger, die sich eingestehen müssen, den Weg nicht zu kennen und zu begreifen. Und in der Tat: Der Weg, von dem Jesus in seinen Abschiedsreden spricht, ist — kein Leser kann das übersehen — der Weg ans Kreuz, auf dem die Bezeugung der Wahrheit gerade nicht Macht über Pilatus verschafft, sondern zur Passion und zum Tode führt. Wie die Gabe des Lebens im Gekreuzigten zu finden ist und also das Leben unter dem Gegenteil des Todes verborgen bleibt, so kann auch die Wahrheit nur im Verzicht auf Machtdemonstration gesucht werden. Das Johannesevangelium sieht jedenfalls keinen Widerspruch zwischen dem Offenbarungswort in Kap 14,6 und dem Scheitern des Versuchs, auch nur den römischen Statthalter zur Einsicht in die Wahrheit zu bringen. Pilatus zeigt Jesus die kalte Schulter des Skeptikers: »Was ist Wahrheit?« (vgl. Joh 18,38). Selbst Jesu Worte sind nur Zeugnis, ohne Mittel, Zustimmung zu erzwingen oder zielsicher herbeizuführen. Das wirft Licht auf alle anderen Dialoge. Es bleibt in ihnen bei der Spannung zwischen der Ausrichtung auch der Religion an der Wahrheit und der Unmöglichkeit, Recht zu behalten. Christlich von der Wahrheit zu sprechen kann daher umso glaubwürdiger Wahrheitszeugnis sein, je deutlicher es seine eigenen Bedingtheiten und historischen Kontingenzen reflektiert. Die Bedeutung der Wahrheitsfrage im religiösen Dialog verbietet eine Allianz zwischen Macht- und Absolutheitsansprüchen. Gerade die unbedingte Bindung an die Wahrheit befreit von allen Unbedingtheitsattitüden menschlicher Behauptungen.
In diesem Sinn ist auch das Phänomen des Synkretismus, der »Religionsvermischung«, zu beurteilen. »Das Christenthum hat Sprache gemacht« (Schleiermacher), es war aber auch fähig und bereit, sich den Reichtum vieler Sprachen und Kulturen anzueignen. Schon das heutige Weihnachtsfest verbindet Traditionen des jüdischen Lichterfestes, des paganen Sonnenkultes in Rom, aber auch von germanischen Sonnenwendfeiern. Christlich wurde (und wird) es allein durch den Kontext, der die unterschiedlichen Elemente religiöser Kulte auf die Freude an dem Gott bezieht, der in Jesus Christus zur Welt kommt.
Die Behauptung, das Christentum sei von Anfang an eine synkretistische Religion gewesen (Gunkel), trifft also insoweit zu, als es sich in der Tat vielfältige Formen religiöser Lebenswelten anverwandelt hat. Das konnte es, weil es solche Traditionen aus einer eigenen Anschauung heraus aufgenommen und gleichsam »getauft« hat. Aneignung und Inkulturation vollzogen und vollziehen sich in selbstständiger Transformation, die die Prägnanz gottesdienstlicher Formen ebenso bewahrt wie die Offenheit zur immer wieder erneuerten Gestaltung, um Gottes Gegenwart lebensnah zu feiern. Synkretismus als Programm verstellt hingegen die Aufgabe, sich Fremdes kreativ aus dem Geist des Evangeliums anzueignen.