Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive
Ein Grundlagentext des Rates der EKD. Hg. Gütersloher Verlagshaus 2015, ISBN 978-3-579-05978-5
IV. Handlungsfelder in Gemeinde und Kirche
Das Ziel: Verfahrensregeln für das interreligiöse Handeln
Für die Begegnung mit anderen Religionen sind innerkirchlich — statt vorgegebener Verbote und absoluter Grenzen — Verfahren der Abstimmung und der Rückversicherung zu entwickeln, die die Spannung zwischen eigenem Glauben und dem gemeinsamen Anliegen für die konkrete Situation verantwortungsvoll moderieren. Die evangelische Kirche stellt sich der Aufgabe, andere Religionen als Partner in der offenen Gesellschaft anzunehmen, mit ihnen das Gespräch zu pflegen und Formen der Zusammenarbeit zu erproben. Evangelischer Freiheit entspricht es, hier auf die Gestaltungskraft und Vernunft der Gemeinden und Gläubigen zu vertrauen, die den evangelischen Glauben im Dialog vertreten und bewahren. Das kann institutionell für Gemeinden und kirchliche Einrichtungen ebenso gelten wie für die Glieder der Kirche in ihrem privaten Umfeld. Freilich erwartet sie von den Partnern, in gleicher Weise die Freiheit des anderen anzuerkennen und von dieser Basis aus gemeinsam die Rolle der Religionen im öffentlichen Raum mitzuprägen.
Begleitung in religiöser Pluralität
Die frühere Konfirmandin, die den Pfarrer um die Trauung mit dem muslimischen Ehemann bittet; die Eltern, die den Freund als Paten ausgesucht haben, der einer nicht-christlichen Gemeinschaft angehört; die Ehefrau, die um die Bestattung nachsucht für ihren Ehemann, der vor Jahren aus der Kirche ausgetreten ist — in der gemeindlichen Praxis kommen solche Nachfragen inzwischen immer öfter vor. Sie weisen darauf hin, dass das Zusammenleben mit Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen vor allem in den familiären Bezügen Gemeinden und Kirchen herausfordert. Selbst da, wo kirchliches Recht klare Regelungen vorgibt, bleibt die Aufgabe, Kriterien für die kirchlichen Antworten auf solche Anfragen darzulegen und in seelsorglicher Verantwortung Lösungen zu finden, die sich als barmherzig gegenüber den Fragenden bewähren und zugleich die kirchliche Identität bewahren.
Das Zusammenleben mit Menschen, die sich dem christlichen Glauben nicht anschließen, war schon in den ersten urchrist- lichen Gemeinden Anlass zur Selbstbesinnung — und zwar vor allem dort, wo die eheliche Gemeinschaft zwischen Mann und Frau bejaht und gestaltet werden wollte, auch wenn eine Christin mit einem »ungläubigen Mann« oder ein Christ mit einer »ungläubigen Frau« (vgl. 1Kor 7,12-14) zusammenlebte. Solche durch das Bekenntnis zu Christus und durch die Taufe Getrennten betrachtete Paulus als Eheleute, die in intimer Gemeinschaft ihre Beziehung gestalten und zueinander gehören. Wer Christ ist, darf gewiss sein, dass auch der sich dem Glauben entziehende Partner durch ihn »geheiligt« ist. Von einem Versuch, einander in der Ehe religiös bedrängen zu wollen, rät der Apostel nachdrücklich ab. Obwohl nach Paulus im Glauben die letzte Entscheidung über die Zugehörigkeit zu Gott fällt, begreift er die Ehe als Form eines unverbrüchlichen Zusammenseins, in dem auch Nichtübereinstimmung im Glauben hingenommen und integriert werden kann.
Solche Ermutigung zum Zusammenbleiben entspringt nicht der Vorordnung vermeintlicher Schöpfungsordnungen vor dem durch Christus eröffneten Heilsweg und auch nicht allein aus traditioneller Auslegung des biblischen Scheidungsverbotes. Paulus, obwohl selbst Ehe-unerfahren, rechnet ja durchaus mit der Möglichkeit, dass aufgrund des Glaubens eines Ehepartners die Ehe als Ganze in Krisen gerät und zerbricht. Er räumt ein, dass es letztlich kein Mittel gegen einen solchen Ausgang gibt. Aber er bekräftigt die Hoffnung, dass Menschen an der Wirklichkeit ihres Zusammenlebens festhalten, auch wenn sie in Fragen von Glaube und Religion nicht zueinanderfinden. Der sich zu Christus bekennende Ehepartner soll ohne die Angst leben, sich zwischen Glaube und Liebe entscheiden zu müssen. Letztlich gewinnt Paulus diese Überzeugung aus dem Kernbestand seiner Verkündigung. Nicht der Rückzug aufs Eigene und nicht die Trennung vom anderen entspricht der Versöhnung durch Christus, sondern die unerschütterliche Hoffnung, dass Gott dem Gottlosen näher ist, als Menschen sich nahekommen können. Darum können Glaubende auf den Versuch verzichten, den Nicht- oder Andersglaubenden zur Anpassung zu nötigen, und also ihr Gegenüber so nehmen, wie es nun einmal ist.
Für eine Eheschließung gilt, dass die evangelische Kirche diejenigen nicht alleine und ohne Gottes Wort und Segen lassen will, die zu ihr gehören. Wenn der Ehepartner, der nicht der Kirche angehört, dafür gewonnen wird, so kann die Trauung eines Paares auch gottesdienstlich begangen werden. Anders stellt sich die Situation dar, wenn eine Religionsgemeinschaft, zu der der Partner gehört, hier ihre Formen eingehalten sehen will. Dann ist nicht nur interreligiöse Kompetenz gefordert, sondern auch die Anregung und Begleitung von Gesprächen zwischen den Ehepartnern, die die Unterschiedlichkeit der Religion nicht ausklammern oder als Machtfrage entscheiden, sondern beiden zukünftigen Eheleute dabei helfen, religiöse Fragen gemeinsam zu klären.
Vor allem stellt es eine dringliche Aufgabe dar, Christinnen und Christen durch das Angebot von Gespräch und Begleitung zu unterstützen, die in ihrem Leben die Begegnung mit anderen Religionen auch als Schwierigkeit, ja als Bedrückung erfahren. Es gilt Wege zu bereiten, um an der christlichen Existenz festzuhalten und sie auch dort zu leben, wo Familie und Partnerschaft Christen in besonderer Weise vor die Herausforderung des Zusammenlebens mit anderen Religionen stellen. Die evangelische Kirche sieht, dass das Zusammenleben mit anderen Religionen für ihre Angehörigen auch Anfragen an ihre christliche Existenz mit sich bringen und schwierige Entscheidungen fordern kann. Deshalb will und wird sie ihre Glieder schützen und stützen, wenn andere verlangen, dass sich Christinnen und Christen von ihrer Kirche lösen. Auch hier fordert die Kirche den Respekt, den sie anderen Religionen entgegenbringt, für den christlichen Glauben selber ein.
Diese Freiheit für den anderen verdient es, ernst genommen zu werden. Niemand kann heute für sich beanspruchen, über das Zusammensein mit anderen nach Taufbuch oder Religionszugehörigkeit definitiv zu entscheiden, vielmehr wächst Gemeinschaft der Verschiedenen auf vielen Feldern, über die kein Mensch souverän verfügt. Darum leben Christinnen und Christen in Schulen und Sportvereinen, in Nachbarschaft und an Arbeitsstellen, in Parteien und Bürgerinitiativen mit Menschen zusammen, die ihre eigene Lebensgewissheit nicht in der Verantwortung vor Gott oder nicht in der Verantwortung vor demjenigen Gott treffen, an den sie selbst glauben. Wo die Kirche Verantwortung für die Gestaltung der Gesellschaft übernimmt, in Kindertagesstätten und Schulen, in Krankenhäusern und Altenpflege, aber auch in der seelsorgerlichen Begleitung der Soldatinnen und Soldaten, engagiert sie sich nicht nur für Christinnen und Christen, sondern für alle, die auf christliche Nächstenliebe hoffen, auch für die, die selbst den diese begründenden christlichen Glauben nicht teilen.
Gast und Gastgeber in interreligiöser Begegnung
Wo Freundschaften sich intensivieren, gesellschaftliche Begegnungen oder berufliche Tätigkeiten zur Mitwirkung im Gestaltungsbereich anderer Religionen führen, sind Kompetenzen interreligiösen Verstehens verlangt. Wer in den Synagogengottesdienst, zum Beschneidungsfest oder zur Bar Mizwa eingeladen ist, wer an der Menschenweihehandlung anthroposophischer Nachbarn oder am muslimischen Fastenbrechen teilnimmt, ist Gast unter Freunden.
Der Gästestatus bestimmt die Erwartungen an das Maß der Integration, das Einladende und Eingeladene finden. Wer eingeladen ist, stellt sich auf Anlass und Art der Feier ein — so wie umgekehrt der Gastgeber seine Türen, aber auch seine gewohnten Vorstellungen großzügig öffnet. Erwartungen an Kleidung und Verhalten, Entscheidungen über Speisen und Getränke respektiert der Gast — so wie umgekehrt der Einladende sich als guter Gastgeber erweist, indem er die Lebensweise und Einstellungen seiner Gäste ernst nimmt. Die Freiheit eines Christenmenschen zeigt sich deshalb auch darin, dass er ihm unvertraute religiöse Vorschriften, die sich auf das äußere Verhalten beziehen, bei solchen Anlässen beachten kann, auch wenn sie für seinen eigenen Glauben keine Geltung haben. Gäste stellen Eigenes zurück, weil sie wissen, dass auch der Gastgeber und die Festversammlung sie als Gäste begreifen, sodass sie zum Dabeisein eingeladen, nicht aber zur Konversion aufgefordert sind. Darum gründen im Gaststatus auch die Grenzen, aufgrund derer man nicht mitvollzieht, was als Bruch mit der eigenen Identität erscheinen würde. Weil der Protestantismus davon überzeugt ist, dass jeder das Maß der Konformität, in die er Äußeres und Inneres bringt, selbst bestimmen darf, kennt er keine allgemeinen Vorschriften im Blick auf das, was als angemessen oder unangemessen gilt. Religiös motivierte Kopfbedeckungen, Sitzordnungen oder rituelle Formen können Christinnen und Christen aus Respekt vor den Gastgebern akzeptieren. Allerdings begründet sich diese Akzeptanz darin, dass sie solche Ordnungen anders verstehen (eben als bloß äußere Vorgaben, als kulturelle Gepflogenheiten), sodass sie selbst aus anderen Gründen an ihnen teilnehmen, als manche Juden oder Muslime das tun. Auch die Freiheit der Wahl, bis zu welcher Grenze man selbst dabei geht, manifestiert das spezifische Selbstverständnis individuellen christlichen Glaubens. Es gilt die reformatorische Regel, dass unser Handeln an der Liebe zum Nächsten und der Nützlichkeit ausgerichtet sein kann, ohne beständig jede Äußerlichkeit dem Druck moralischer Unterscheidungen aussetzen zu müssen, obwohl alles relevant bzw. einschlägig werden kann, wo es auf das Bekennen ankommt. Ob das eine oder das andere der Fall ist, lässt sich nicht abstrakt entscheiden (vgl. Röm 14,1-15).
Beten mit anderen
Am Beten der anderen Anteil zu nehmen heißt nicht: fremde Götter anzurufen. Oft meint es ganz einfach, an solchen Formen zu partizipieren, im Blick auf die ja auch Christinnen und Christen von ihren aus der Kirche ausgetretenen Verwandten und Bekannten erwarten, trotz subjektiver Distanz dennoch die gottesdienstlichen Feiern der Hochzeit, Taufe oder der Beerdigung respektvoll zu begleiten. Niemand muss sich überfordert fühlen, wenn er mitfeiert, ohne den Glauben zu teilen. Auch wird man dem eigenen Glauben nicht dadurch untreu, dass man Anteil nimmt, wenn andere Menschen ihre eigene Glaubensüberzeugung zum Ausdruck bringen. Keinem Gastgeber aber sollte es gleichgültig sein, wenn die Eingeladenen und Mitfeiernden einer anderen Religion angehören. Wer seine Gäste nicht vor den Kopf stoßen will, muss Phantasie entfalten, damit das Fest gelingt. Das gilt für alle Feiern und will auch in interreligiösen Begegnungen gelernt sein. Gerade in diesem Handlungsfeld zeigt sich, welche Chancen menschlicher Verständigung entstehen, wenn jeder weiß, wo er selbst steht und wer der andere ist.
Darüber hinaus gibt es spezifische Situationen, in denen über die Gastlichkeit hinaus nach Wegen gesucht werden muss, das Zusammensein so zu gestalten, dass alle Beteiligten, auch wenn sie keiner gemeinsamen Religion angehören, ihre eigenen Worte der Zuwendung zu ihrem Gott authentisch artikulieren können. Zu denken ist dabei an Schulgottesdienste, an öffentliche Buß- und Gebetsfeiern nach gemeinsam erlittenen Katastrophen, aber auch an liturgische Formen bei interreligiösen Begegnungen. Auch dafür gibt es ein biblisches Urbild: die Sturmesnot, in die das Schiff gerät, auf dem Jona vor seinem Auftrag flieht, und in der die Seefahrer unterschiedlicher Herkunft »ein jeder zu seinem Gott« schrie (vgl. Jona 1,5f). Schon Luther hat in seiner Auslegung des Jonabuches die gemeinsame Erwartung an die Güte Gottes und seine Rettungsmacht als einen Konsens der Religionen gewürdigt, die den Dissens darüber, wo man einen solchen Gott finden könne, umgreift. Ob in solchen Situationen Gemeinsamkeit und Authentizität dadurch zusammenfinden, dass man nebeneinander oder nacheinander betet, oder ob man auch Worte aus seiner eigenen Tradition heraus artikuliert, in denen sich Menschen unterschiedlicher Religionen gleichsam unterbringen und bergen können, ist eine Frage der Gestaltungskompetenz und der Weisheit derer, die in pastoralen Situationen Verantwortung tragen. Der Sprachwelt der Psalmen kann man sich hier in vielem anvertrauen. Die Eigenart der eigenen wie der Respekt vor der fremden Identität wie auch die Einsicht in die unterschiedliche Verbundenheit mit anderen Religionen stellen hohe Anforderungen an die liturgischen Formen, die weder vereinnahmen noch neutralisieren und sich vor allem nicht in Plattitüden erschöpfen dürfen.
Innerhalb der evangelischen Kirche gilt für jeden, dass er seinem eigenen Gewissen verantwortlich ist, welche Wege er an dieser Stelle geht, wie nah oder fern, wie beteiligt oder distanziert, wie freudig aufgeschlossen oder reserviert er oder sie sich verhält. Was gemeinsam geschieht, muss auch öffentlich verantwortet werden — aber jeder urteile für sich selbst in seinem persönlichen Umfeld, jedoch nicht über die anderen.
Öffentliches Wirken und Mission unter den Bedingungen des Pluralismus
Mission heißt: Sendung in die Welt. Wie die Diakonie ist sie Ausdruck dafür, dass sich die Christenheit nicht selbst genügt, sondern ihrem Gott entspricht, indem sie sich den Menschen zuwendet. Es verbindet die kirchlichen Werke und Tätigkeiten, dass sie der Lebensbewegung Jesu von Nazareth folgen, für die anderen da zu sein.
Ob Mission gelingt, entscheidet sich nicht allein am guten Willen derer, die sich für sie in besonderer Weise berufen fühlen. Sie ist Sache der ganzen Kirche. Öffentliche Verantwortung für missionarisches Handeln wahrzunehmen, das gehört zu den Aufgaben der Pfarrerinnen und Pfarrer, der Kirchenvorstände und anderer Leitungsämter. Kritische Fragen bezüglich der missionarischen Praxis, insbesondere nach ihrer Trennschärfe gegenüber einer fundamentalistischen Frömmigkeit, verschärfen sich unter den Bedingungen des Pluralismus. Denkt man an die Schwierigkeiten, die charismatische Bewegungen den traditionellen Kirchen, vor allem der römisch-katholischen Kirche in Südamerika, bereiten, die Probleme der sogenannten Judenmission oder an die Zusammenhänge zwischen Uberseemission und Kolonialismus, so kann es nicht überraschen, dass das Zusammenleben mit Angehörigen anderer Religionen die Frage nach den Chancen und Grenzen missionarischen Handelns neu aufwirft.
Mission ist Zeugnis für die Freiheit, zu der uns Christus befreit hat (vgl. Gal 5,1). Wo sie überzeugen will, darf sie nicht auf Überredung setzen. Wo sie zum Glauben ruft, darf sie diesen nicht als Leistung des Menschen darstellen. Wo sie von Gott spricht, darf sie ihn nicht zu einem Abgott machen, der die Menschen durch Einschüchterung auf den rechten Weg bringen will. Hofft die Kirche auf Buße und Bekehrung der von ihrem Wort Angesprochenen, so muss sie selbst das Umdenken lernen und der Vorstellung widersprechen, der Mensch müsse oder könne sich selbst zum Glauben »durchringen«. Mission setzt das Vertrauen voraus, dass der Glaube zum Menschen kommt, zu seiner Zeit und in dem Maß, das den verborgenen Lebenswegen jedes Einzelnen entspricht. Als Jesus seinen Jüngern versprach, sie zu »Menschenfischern« zu machen, knüpfte er an ihren Alltag an, um sie für eine neue Aufgabe zu gewinnen. An einen Auftrag, den Seelen Fallen zu stellen, damit diese sich darin verfangen, war nicht gedacht.
Als Zeugnis für die von Christus eröffnete Freiheit lebt die Mission vom Recht, Religion öffentlich zu machen. Paulus war die Beziehung zwischen dem römischem Recht und seiner eigenen Freiheit zur missionarischen Verkündigung selbstverständlich. Sie gilt auch heute, freilich ist im Blick zu behalten, dass das positive Religionsrecht mit einem Recht zur Abwehr von Religion einhergeht. Niemand darf gezwungen oder übertölpelt werden — das schließen das säkulare Recht und ein evangelisches Verständnis von Mission gemeinsam aus. Die Mission hat es nicht selbst in der Hand, ob ihre Verkündigung Frucht trägt und auf welchen Boden der Samen fällt. Jesu Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld zeigt die Großzügigkeit des Sämanns, der so reich ist und so zuversichtlich in seinen Ertrag, dass er Misserfolge in Kauf nehmen kann. In diesem Geist kann die Kirche darauf vertrauen, dass das Wort Gottes sein Ziel erreicht und nicht leer zurückkommt (vgl. Jes 55,10f).
Das will heute überall dort bedacht werden, wo die Verkündigung des christlichen Glaubens im alltäglichen Zusammensein mit Angehörigen anderer Religionen stattfindet: In den evangelischen Kindertagesstätten, die die Advents- und Weihnachtszeit feiern, im Ökumenischen Gottesdienst zum Schulanfang, in der palliativen Begleitung im christlichen Krankenhaus oder im Gespräch am Arbeitsplatz über die religiösen Untertöne kriegerischer Konflikte — die Freiheit des Bekenntnisses fordert die Freiheit des anderen, über Glauben und Religionszugehörigkeit selbst zu entscheiden. Von den Fachkräften in der evangelischen Kindertagesstätte, dem Mitarbeiterkreis einer kirchlichen Freizeit, vom Krankenhausseelsorger oder der christlichen Altenpflegerin darf man erwarten, dass sie von der Hoffnung reden, »die in euch ist« (vgl. IPetr 3,15). Aber niemand soll fürchten müssen, dass er oder seine Angehörigen in solchen Begegnungen um die eigene Religion gebracht werden sollen. Was auch immer die Teilnahme an einer Veranstaltung der evangelischen Gemeinde oder ein Aufenthalt in einem christlichen Krankenhaus für einen muslimischen Mitbürger oder eine jüdische Mitschülerin bedeuten mag — klar muss sein, dass die Integrität ihrer eigenen religiösen Lebensführung unangetastet bleibt. Wer zur Kirche kommt, weil er Hilfe sucht, ist auch dann willkommen, wenn er sich von ihr nicht das verspricht, was sie selbst für wesentlich hält.
Solches Vertrauen zu ermöglichen, das ist Teil des Respektes, den Angehörige anderer Religionen verdienen. Dieser wird freilich noch nicht dadurch konkret, dass man die eigene Religion versteckt, um dem anderen nicht zu nahe zu treten. Die Kirchen selbst sind keine neutralen Räume. Von ihnen kann nicht Enthaltsamkeit gegenüber dem eigenen Glauben erwartet werden, wohl aber, dass ihre Ausdrucksformen und ihre Lebensgestaltung andere in ihrer Religion nicht beschweren.
Der christliche Glaube zieht nicht ängstlich Grenzen zwischen »Mein« und »Dein«, er ist nicht an einer Vertiefung der Unterschiede zwischen Menschen oder zwischen Religionen interessiert, sondern zeigt sein Profil, indem er sich an allem freut, was für ihn in anderen Religionen als Ausdruck wahren Menschseins erkennbar wird. Darum erwartet die Kirche von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht nur ein christliches Interesse an den Sorgen und Nöten der ihnen Anbefohlenen, sondern auch den Verzicht auf einen Geist der Kleinlichkeit, der dem anderen nichts gönnt, nicht einmal die Distanz, die er vielleicht gegenüber dem Christentum behalten will.
Diakonisches Handeln — die Kirchen als Dienstanbieter und Dienstgeber
Für die evangelische Kirche stellt sich in neuer Deutlichkeit die Frage, ob und wie sie in einer pluralisierten Gesellschaft ihre Angebote auch für Angehörige fremder Religionen öffnet — und wie sie sich als Dienstgeber verhält, wenn Dienstnehmer sich in Bekenntnis oder Lebensführung von der christlichen Botschaft lossagen. Die evangelische Kirche sieht, dass insbesondere dort, wo sie in der Öffentlichkeit und als Teil der allgemeinen Versorgungsstrukturen wirkt, religiöse Vielfalt schwierige Entscheidungen fordern kann. Sie beharrt darauf, dass der christliche Auftrag zum Dienst der Barmherzigkeit nicht verleugnet wird — und zugleich will sie sich öffnen, um aus Nächstenliebe nicht nur ihren Gliedern, sondern in der Gesellschaft zu dienen.
Oft suchen Menschen anderer Religionen evangelische Einrichtungen auf, weil ihnen wichtig ist, dass dort Religion überhaupt vorkommt. Das gilt für die Kindertagesstätte, das Krankenhaus, den Pflegedienst. Zugleich meiden Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen solche Einrichtungen, weil sie sich sorgen vor Beeinflussung oder Überredung. In jedem Fall aber geht es um die kultur- und religionssensible Wahrnehmung des diakonischen Auftrages. Es geht darum, die »Kultur der Barmherzigkeit« zu erhalten und sie anzupassen an die Bedürfnisse und Erwartungen derer, denen das diakonische Handeln sich zuwendet.
Diakonische Einrichtungen und Werke beginnen, sich nichtevangelischen bzw. nichtchristlichen Mitarbeitenden zu öffnen. Im Osten Deutschlands ist unter den Mitarbeitenden die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche (außer in den Positionen mit höherer Leitungsverantwortung) nur noch Merkmal für eine kleine Minderheit der Beschäftigten. Die Diakonie hat darauf reagiert, indem sie spezielle Kurse und Programme anbietet oder sogar verpflichtend macht, in denen Mitarbeitende mit den Grundlagen des diakonischen Auftrages vertraut gemacht werden. Auch Mitarbeitenden, die zu einer christlichen Kirche gehören, kann solche Vergewisserung helfen, ihren beruflichen Alltag zusammenzubringen mit dem Auftrag zum diakonischen Handeln. Die Spannung zwischen dem Bewahren und Fördern der eigenen evangelischen Identität und der wachsenden Diversität unter den Mitarbeitenden ist offensichtlich. Begriffe wie Nächstenliebe und Barmherzigkeit können in der christlichen Tradition nur dann widerspruchsfrei entfaltet werden, wenn damit auch andere (nichtchristliche) Menschen eingeschlossen werden, ja mit Nächstenliebe auch außerhalb der Christenheit gerechnet wird: Der barmherzige Samariter (Lk 10,25-37) war weder Jude noch Christ, sondern Angehöriger einer religiösen Minderheit; vom Wirt, in dessen Gestalt die Diakonie seit ihren Anfängen ihre eigene diakonische Rolle entdeckte, weil er gegen Bezahlung die Pflege des unter die Räuber Gefallenen wahrnimmt, wissen wir gar nichts über seine religiöse Orientierung.
Eine an der Nächstenliebe Jesu Christi orientierte Barmherzigkeit kann nicht anders als offen sein auch für andere Auffassungen von Barmherzigkeit; der universale Anspruch der Nächstenliebe soll in der Nachfolge Christi nicht aufgegeben werden. Barmherzigkeit beschreibt das Miteinander von Menschen so, dass prinzipiell jeder dem anderen zum Nächsten werden kann, dessen Herz angerührt wird und der hilft, unterstützt, zuhört. Das ist zumindest die Überzeugung des Lukasevangeliums: dass diese Barmherzigkeit nicht haltmacht an den Mauern und Mitgliedschaftsgrenzen der Kirche, nicht haltmachen darf. Grenzziehungen von Kultur, Ethnie, Religion spielen gerade hier keine Rolle, sondern werden durch diese Kerngeschichte christlichen Glaubens transzendiert und in Frage gestellt.