Charta Oecumenica
II. Auf dem Weg zur sichtbaren Gemeinschaft der Kirchen in Europa
2. Gemeinsam das Evangelium verkündigen
Die wichtigste Aufgabe der Kirchen in Europa ist es, gemeinsam das Evangelium durch Wort und Tat für das Heil aller Menschen zu verkündigen. Angesichts vielfältiger Orientierungslosigkeit, der Entfremdung von christlichen Werten, aber auch mannigfacher Suche nach Sinn sind die Christinnen und Christen besonders herausgefordert, ihren Glauben zu bezeugen. Dazu bedarf es des verstärkten Engagements und des Erfahrungsaustausches in Katechese und Seelsorge in den Ortsgemeinden. Ebenso wichtig ist es, dass das ganze Volk Gottes gemeinsam das Evangelium in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein vermittelt wie auch durch sozialen Einsatz und die Wahrnehmung von politischer Verantwortung zur Geltung bringt.
Wir verpflichten uns,
* über unsere Initiativen zur Evangelisierung mit den anderen Kirchen zu sprechen, darüber Vereinbarungen zu treffen und so schädliche Konkurrenz sowie die Gefahr neuer Spaltungen zu vermeiden;
* anzuerkennen, dass jeder Mensch seine religiöse und kirchliche Bindung in freier Gewissensentscheidung wählen kann. Niemand darf durch moralischen Druck oder materielle Anreize zur Konversion bewegt werden; ebenso darf niemand an einer aus freien Stücken erfolgenden Konversion gehindert werden.
3. Aufeinander zugehen
Im Geiste des Evangeliums müssen wir gemeinsam die Geschichte der christlichen Kirchen aufarbeiten, die durch viele gute Erfahrungen, aber auch durch Spaltungen, Verfeindungen und sogar durch kriegerische Auseinandersetzungen geprägt ist. Menschliche Schuld, Mangel an Liebe und häufiger Missbrauch von Glaube und Kirchen für politische Interessen haben die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses schwer beschädigt.
Ökumene beginnt deshalb für die Christinnen und Christen mit der Erneuerung der Herzen und der Bereitschaft zu Busse und Umkehr. In der ökumenischen Bewegung ist Versöhnung bereits gewachsen.
Wichtig ist es, die geistlichen Gaben der verschiedenen christlichen Traditionen zu erkennen, voneinander zu lernen und sich so beschenken zu lassen. Für die weitere Entfaltung der Ökumene ist es besonders erforderlich, die Erfahrungen und Erwartungen der Jugend einzubeziehen und ihre Mitwirkung nach Kräften zu fördern.
Wir verpflichten uns,
* Selbstgenügsamkeit zu überwinden und Vorurteile zu beseitigen, die Begegnung miteinander zu suchen und füreinander da zu sein;
* ökumenische Offenheit und Zusammenarbeit in der christlichen Erziehung, in der theologischen Aus- und Fortbildung sowie auch in der Forschung zu fördern.
4. Gemeinsam handeln
Ökumene geschieht bereits in vielfältigen Formen gemeinsamen Handelns. Viele Christinnen und Christen aus verschiedenen Kirchen leben und wirken gemeinsam in Freundschaften, in der Nachbarschaft, im Beruf und in ihren Familien. Insbesondere konfessionsverschiedene Ehen müssen darin unterstützt werden, Ökumene in ihrem Alltag zu leben.
Wir empfehlen, auf örtlicher, regionaler, nationaler und internationaler Ebene bi- und multilaterale ökumenische Gremien für die Zusammenarbeit einzurichten und zu unterhalten. Auf der europäischen Ebene ist es nötig, die Zusammenarbeit zwischen der Konferenz Europäischer Kirchen und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen zu stärken und weitere Europäische Ökumenische Versammlungen durchzuführen.
Bei Konflikten zwischen den Kirchen sollen Bemühungen um Vermittlung und Frieden initiiert bzw. unterstützt werden.
Wir verpflichten uns,
* auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder grössere Zweckmässigkeit dem entgegenstehen;
* die Rechte von Minderheiten zu verteidigen und zu helfen, Missverständnisse und Vorurteile zwischen Mehrheits- und Minderheitskirchen in unseren Ländern abzubauen.
5. Miteinander beten
Die Ökumene lebt davon, dass wir Gottes Wort gemeinsam hören und den Heiligen Geist in uns und durch uns wirken lassen. Kraft der dadurch empfangenen Gnade gibt es heute vielfältige Bestrebungen, durch Gebete und Gottesdienste die geistliche Gemeinschaft zwischen den Kirchen zu vertiefen und für die sichtbare Einheit der Kirche Christi zu beten. Ein besonders schmerzliches Zeichen für die Zerrissenheit unter vielen christlichen Kirchen ist die fehlende eucharistische Gemeinschaft.
In einigen Kirchen bestehen Vorbehalte gegenüber gemeinsamen ökumenischen Gebeten. Aber weithin prägen viele ökumenische Gottesdienste, gemeinsame Lieder und Gebete, insbesondere das Vaterunser, unsere christliche Spiritualität.
Wir verpflichten uns,
* füreinander und für die christliche Einheit zu beten;
* die Gottesdienste und die weiteren Formen des geistlichen Lebens anderer Kirchen kennen und schätzen zu lernen;
* dem Ziel der eucharistischen Gemeinschaft entgegenzugehen.
6. Dialoge fortsetzen
Unsere in Christus begründete Zusammengehörigkeit ist von fundamentaler Bedeutung gegenüber unseren unterschiedlichen theologischen und ethischen Positionen. Anders als die uns geschenkte und bereichernde Vielfalt haben jedoch Gegensätze in der Lehre, in ethischen Fragen und in kirchenrechtlichen Festlegungen auch zu Trennungen zwischen den Kirchen geführt; oft spielten dabei besondere geschichtliche Umstände und unterschiedliche kulturelle Prägungen eine entscheidende Rolle.
Um die ökumenische Gemeinschaft zu vertiefen, sind die Bemühungen um einen Konsens im Glauben unbedingt fortzusetzen. Ohne Einheit im Glauben gibt es keine volle Kirchengemeinschaft. Zum Dialog gibt es keine Alternative.
Wir verpflichten uns,
* den Dialog zwischen unseren Kirchen auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen gewissenhaft und intensiv fortzusetzen sowie zu prüfen, was zu den Dialogergebnissen kirchenamtlich verbindlich erklärt werden kann und soll;
* bei Kontroversen, besonders wenn bei Fragen des Glaubens und der Ethik eine Spaltung droht, das Gespräch zu suchen und diese Fragen gemeinsam im Licht des Evangeliums zu erörtern.