Christentum und politische Kultur
Eine Erklärung des Rates der EKD, EKD-Text Nr. 63, 1997
Einleitung
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Die Demokratie lebt in und von der freien Diskussion und offenen Auseinandersetzung über strittige Fragen. [1] Sie ist um ihrer Zukunftsfähigkeit willen ebenso angewiesen auf einen tragenden Grundkonsens. Gemeinsinn ist mehr und anderes als die Summe der miteinander streitenden Interessen und erschöpft sich nicht in deren jeweiligem Ausgleich. Die Gesellschaft muß sich angesichts drängender Gegenwartsfragen klar werden über Voraussetzungen und Ziele der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland als eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates.
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Der demokratische Rechtsstaat ist verpflichtet, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Die Würde des Menschen bildet, konkretisiert besonders in Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz, den vorrangigen Maßstab für die soziale Gestaltung des Zusammenlebens in Staat und Gesellschaft (s. Ziff. 40).
Die Verpflichtung auf diesen Maßstab gilt nicht allein für den Staat und seine Organe. Sie gilt für jeden Bürger als Gebot der gegenseitigen Anerkennung. Sie gilt ebenso für die Gesellschaft in ihren verschiedenen Aufgabenfeldern, Berufen, Organisationen und Interessenverbänden. Die Achtung der Würde des Menschen und die Anerkennung der Freiheit und rechtlichen Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger müssen in Überzeugungen begründet sein, mit denen auch scharfe Konflikte ohne Preisgabe oder Mißachtung dieses Maßstabs bestanden werden können.
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Die Grundelemente des demokratischen und sozialen Rechtsstaates entsprechen in ihrer Zielrichtung dem christlichen Verständnis des Menschen, der in Verantwortung vor Gott wahrgenommenen Freiheit, die aus dem christlichen Glauben folgt, und dem Gebot der Nächstenliebe. Der zum Ebenbild Gottes geschaffene Mensch ist in seiner Würde unantastbar und zur Mitmenschlichkeit bestimmt. Dabei soll der Mensch sich seiner Fehlsamkeit bewußt sein und sich freimütig dem Ernst tätiger Verantwortung stellen. Der inhaltliche Zusammenhang zwischen demokratischem Rechtsstaat und Christentum beruht auf geschichtlichen Gründen. Heute kommt es darauf an, daß und wie dieser Zusammenhang, unbeschadet der Eigenverantwortung von Staat und Kirche, auch in Zukunft eine tragende und lebendige Rolle spielt.
Die durch das Grundgesetz geschützten und gewährleisteten Grundrechte bestimmen die wesentlichen Elemente des demokratischen Rechtsstaates. Er beruht auf Wertentscheidungen, in denen sich die prägende Kraft des Christentums, wie es das Bundesverfassungsgericht nennt [2], auswirkt. Es ist an den Instanzen des Rechts, besonders am Bundesverfassungsgericht bei der Auslegung des Grundgesetzes, diesen Zusammenhang zu erkennen und zu berücksichtigen. Es ist an der demokratischen Gesellschaft, sich über diese Orientierung ihrer politischen Kultur klar zu werden und die daraus folgenden Erkenntnisse zu nutzen.
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Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach und konsequent das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in dem Sinne ausgelegt, daß trotz der institutionellen Trennung von Kirche und Staat und bei voller Achtung des Grundrechtes der Religionsfreiheit ein spezifischer, sowohl geschichtlicher wie sachlicher Zusammenhang zwischen Christentum und demokratischem Rechtsstaat bestehe und von der Rechtsprechung zu beachten sei.
Die vom Gericht gewählte Formulierung von der Prägekraft des Christentums bringt zum Ausdruck, daß deren fundamentale Bedeutung für den modernen Rechtsstaat anzuerkennen und nicht preiszugeben sei. Die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 spricht sogar von der "überragenden Prägekraft" des Christentums [3]; die Entscheidung hat aber auch Zweifel geweckt, ob die Kontinuität in der Auslegung des Grundgesetzes nicht doch unterbrochen worden sei, jedenfalls hinsichtlich der Streitfrage, die damals zur Entscheidung anstand (s. Ziff. 17). Darauf soll hier nicht eingegangen werden. Das Urteil hat eine breite und lange anhaltende öffentliche Auseinandersetzung hervorgerufen [4], bei der es darum ging und weiter geht, wie unsere demokratische Gesellschaft sich zu dem geschichtlichen und sachlichen Zusammenhang von Christentum und politischer Kultur stellt (s. Ziff. 41 und öfter). [5]
In jener Entscheidung wird ausdrücklich davon gesprochen, daß der Staat wegen des gesellschaftliche Zusammenhalts und zur Erfüllung seiner eigenen Aufgaben die Prägekräfte nicht ignorieren oder "abstreifen" dürfe. [6] Wenn es weiter heißt, daß dem Staat diese Prägekraft "nicht gleichgültig" sein könne, dann ist damit die Frage nach ihrer Beachtung und nach praktischen Konsequenzen daraus gestellt (s. Ziff. 26). [7]
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Die Beziehungen zwischen freiheitlichem Rechtsstaat und Christentum sind in einer demokratischen Gesellschaft kein statisches Verhältnis. Sie sind vielfältig und darum auch immer wieder Thema öffentlicher Deutungs- und Verständigungsdebatten. Für solche Debatten enthält das Grundgesetz spezifische Bezugspunkte, die zur Orientierung beachtet werden sollten.
Eine herausragende Rolle hat in der neuerlichen Auseinandersetzung wieder die Frage gespielt, ob die institutionelle Trennung von Kirche und Staat weiter vorangetrieben werden müsse oder ob sie im Gegenteil als Ausdruck und Teil einer besonderen Affinität zwischen Christentum und demokratischem Rechtsstaat innerhalb der Gesellschaft aufzufassen und zu gestalten sei (s. Ziff. 49 und öfter). Die für diese Auseinandersetzung relevanten spezifischen Bezugspunkte in der Verfassung sind
- der in der Auslegung des Grundgesetzes gebildete Verfassungsgrundsatz der Neutralität des Staates (s. Ziff. 12 bis 17),
- die Auslegung des Grundrechts der Religionsfreiheit als negativer und positiver Religionsfreiheit (s. Ziff. 22 bis 24),
- die Reichweite und der Bedeutungsgehalt der Trennung von Kirche und Staat (s. Ziff. 18 bis 21) und
- die damit verbundene Frage, ob es einen laizistischen Auftrag des Grundgesetzes gibt (s. Ziff. 9 bis 11).
Über das bisher angesprochene Verhältnis von Rechtsstaat und Christentum aus der Perspektive der Verfassung handelt der I. Teil.
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In Zukunft kommt es darauf an, wie der Zusammenhang von Christentum und demokratischem Rechtsstaat in der Gesellschaft verstanden und wahrgenommen wird. Dabei geht es aus guten sachlichen Gründen um die Präsenz des Christentums in staatlichen Institutionen und in der Gesellschaft.
Das Christentum dem Bereich bloßer Privatheit zuzuweisen wäre weder vom Selbstverständnis des Christentums her noch im Kontext der politischen Kultur angemessen. Im Blick auf die öffentliche Funktion und Verantwortung des Christentums haben Schule und Erziehung eine Schlüsselrolle. In der Schule und in der schulischen Erziehung sind der Staat und die Gesellschaft - durch die Bürger als Eltern - in einer exemplarischen Form aufeinander bezogen. Dabei geht es zugleich um die Aufgabe der Vermittlung und Bildung eben jener grundlegenden Orientierungen, aus denen sich ein zukunftsfähiger Grundkonsens speist. Nicht nur hier, sondern ebenso in anderen Bereichen der Staatspraxis muß das Wie der Kooperation von Staat und Gesellschaft einschließlich der Kirchen der Tatsache des Zusammenhangs von Christentum und Rechtsstaat in unserer demokratischer Gesellschaft gerecht werden. Davon handelt der II. Teil.
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Das Glaubenszeugnis der Kirche und die kulturelle Prägekraft des Christentums in der Gesellschaft haben unterschiedliche Gestalt und stellen vor unterschiedliche Aufgaben. Im Wissen um diese Unterschiede fördert und begleitet die Kirche in Erfüllung ihres eigenen Auftrages das Christentum in der Gesellschaft und wirkt kritisch und selbstkritisch an dessen Erneuerung mit.
Wenn sich die Kirche mit dem Christentum in der Gesellschaft befaßt, geht es nicht um die Verteidigung von kirchlichen Besitzständen. Das Christentum in der Gesellschaft ist nicht einfach mit den Kirchen identisch. Christliche Verantwortung wird in vielen unterschiedlichen Formen des Handelns wahrgenommen, die nicht in die Strukturen und Ordnungen der Kirche eingebunden sind. Aber das Glaubenszeugnis der Kirche ist der immer neue Ursprung der Formen und Traditionen des Christentums in der Gesellschaft. Das ist angesichts unterschiedlicher religiöser Strömungen in der Gesellschaft für die Orientierung des Gemeinwesens von zunehmender Bedeutung. Davon handelt der III. Teil.
- Christentum und demokratischer Rechtsstaat sind in fundamentalen Lebensinteressen aufeinander bezogen. Die geschichtlichen und sachlichen Gründe für diese Beziehung bedürfen der sorgfältigen Prüfung. Im Blick auf die Zukunft aber ist mehr verlangt. Es reicht nicht aus, gewonnene materielle Besitzstände zu bewahren. In Zeiten tiefgreifender Veränderung ist es notwendig, die Aufmerksamkeit für die unaufgebbaren geistigen Besitzstände wachzurufen. Das wird verkannt, wo man die Zeit für eine Auflösung und Aufkündigung des Zusammenhangs von Christentum und demokratischem Rechtsstaat gekommen sieht. Weder der Ruf nach einem "christlichen Staat" oder einer weltanschaulich geschlossenen Gesellschaft noch der Ruf nach einer Trennung von Christentum und Kultur oder einer Scheidung von Christentum und Gesellschaft sind tragfähige, zukunftsweisende Konzepte. Die Prägekraft des Christentums gehört nicht ins Museum oder in den privaten Winkel. Sie hat auch nichts mit kirchlichen "Privilegien" zu tun. Vielmehr ist es an der Zeit, eine neue Diskussion zu führen über den Zusammenhang von Christentum und politischer Kultur und über dessen Konkretion im Verhältnis von Kirche und demokratischem Rechtsstaat. Dazu wollen die folgenden Ausführungen einen Beitrag leisten.
Unter diesem Aspekt sieht die Evangelische Kirche in Deutschland, die sich mehrfach über das Verhältnis des Christentums zum demokratischen Rechtsstaat geäußert hat, nun Anlaß, aus ihrer Sicht das Verhältnis dieses Staates zum Christentum zu beschreiben.