Maße des Menschlichen

Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2003, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Einleitung

Für die evangelische Kirche ist – auf der Grundlage ihres Glaubens- und Kirchenverständnisses – Bildung von der Reformationszeit an ein zentrales Thema. Darum ist sie auch Trägerin zahlreicher Bildungseinrichtungen. Der Staat seinerseits weist Kirchen, Religionsgemeinschaften und anderen gesellschaftlichen Gruppen eine Mitverantwortung für das Bildungswesen zu. In dieser Perspektive beteiligt sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) an der öffentlichen Bildungsdiskussion.

Die Denkschrift hat keinen einzelnen Anlass, sondern ist vielschichtig begründet. Die Kirche berücksichtigt einerseits vorausgegangene Bildungsempfehlungen wie die des »Forum Bildung« und bezieht sich auf die Ergebnisse aktueller Studien wie PISA 2000, besonders dort, wo es um Leistungsanforderungen und Chancengerechtigkeit geht. Andererseits will die Kirche durch die Thematisierung vernachlässigter Bildungsaufgaben zur Horizonterweiterung und durch die Klärung des Bildungsverständnisses zur Vertiefung der gegenwärtigen Diskussion beitragen. Der Begriff »Bildung« wird oft nur formelhaft oder schillernd gebraucht. Wenn im Namen von Bildung das pädagogische Leistungsniveau in Deutschland gehoben werden soll und muss, ist dagegen ein unverkürztes, mehrdimensionales Verständnis von Bildung anzustreben. Dies gilt auch für die Kirche selbst. Adressat dieser Denkschrift ist deshalb die allgemeine bildungspolitische und die innerkirchliche Öffentlichkeit.

Die evangelische Kirche fragt nach den Maßstäben, an denen Bildung in ihrer humanen Qualität zu messen ist. Welche Bildung eine Wissens- und Lerngesellschaft wirklich braucht, versteht sich viel weniger von selbst, als dies in den heutigen Diskussionen und Verlautbarungen zu Bildungsfragen erkennbar wird. Was dient der Entfaltung des Menschen, jedem Einzelnen wie der menschlichen Gemeinschaft, die heute nur noch in einem globalen Horizont verstanden werden kann?

Gegenüber anderen gesellschaftlichen Instanzen akzentuiert diese Denkschrift das Bildungsverständnis in folgenden Punkten:

  • Weil Bildung und Menschsein zusammengehören, werden die konkreten Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Relation zu dem zugrunde zu legenden Menschenbild vor Augen gerückt.

  • Das eigene Bildungsverständnis korrespondiert mit theologischen Grundsätzen der evangelischen Kirche.

  • Im Unterschied zu Stellungnahmen und Studien, die sich entweder auf bestimmte Teilaspekte von Bildung konzentrieren und darauf einengen (»kognitive Gesellschaft«, »lebenslanges Lernen«) oder von vornherein verständlicherweise nur bestimmte Seiten von Grundbildung untersuchen wollen (PISA), wird das volle Spektrum der Aufgaben einer »zeitgemäßen Bildung« diskutiert.

Mit ihrer die Diskussion klärenden und vertiefenden Absicht setzt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihre eigenen früheren Bemühungen um ein zukunftsfähiges Bildungsverständnis in Schule und Gesellschaft, Kirche und Gemeinde fort. Sie knüpft besonders an drei Synoden der EKD an: Die Synode 1971 in Frankfurt/M. zum Thema »Die evangelische Kirche und die Bildungsplanung« betonte die seinerzeit wie heute notwendige konstruktiv-kritische Mitverantwortung im Blick auf die gesellschaftliche Gesamtsituation (vgl. Kap. 1). Auch die Doppelfrage der Synode 1978 in Bethel »Leben und Erziehen – wozu?« ist neu akut (vgl. Kap. 3 und 4). Die Synode 1994 in Halle/S. widmete sich dem »Aufwachsen in schwieriger Zeit« und forderte einen »Perspektivenwechsel«, der Kinder und Jugendliche in ihrer konkreten Lebenssituation ansieht und versteht; ein Anliegen, das die vorliegende Denkschrift ausführlich aufnimmt (vgl. Kap. 2). Parallel dazu werden wertvolle Impulse und Zielsetzungen berücksichtigt, die von Bildungs- und Zukunftskommissionen in verschiedenen Bundesländern formuliert worden sind und ebenfalls versuchen, Einseitigkeiten zu überwinden.
Gemäß ihrem Ansatz sind für die evangelische Kirche inhaltlich zwei Linien wesentlich:

  • Erstens wird ausdrücklicher als in der laufenden Bildungsdiskussion nach den Voraussetzungen gefragt: Welches Verständnis von Kultur und Gesellschaft ist zugrunde zu legen? Welcher Auffassung von Zukunft sollte gefolgt werden? Was besagt Bildung in einer pluralen Welt? Was kann Bildung leisten, was nicht? Unsere Gesellschaft hat eine sehr wichtige kulturelle Innenseite. Mit den drei Kategorien »Kultur«, »Verantwortung« und binnengesellschaftlicher wie globaler »Verständigung« ist der Rahmen benannt, in welchem Bildung als kulturelle Leistung des Gemeinwesens zu bedenken ist.

  • Zweitens wird wie in der Denkschrift der EKD zum Religionsunterricht in der Pluralität »Identität und Verständigung« (1994) ein subjekt- und biographieorientierter Ansatz verfolgt, der für das protestantische Bildungsverständnis charakteristisch ist. Dabei werden in einem weiten Horizont unterschiedliche Bildungsins-titutionen und Lernorte angesprochen, und zwar im Blick auf den Lebenslauf (biographieorientierte Bildung). Der Weg der Bildung des Menschen beginnt mit der frühen Kindheit und berührt zentral die Bedeutung der Familie, der Familienbildung sowie den Bildungsauftrag des Elementarbereichs (Kindergärten, Kindertagesstätten). Daran schließt sich die Bildung in der Schule. Die Ergebnisse auf diesem Weg können für den weiteren Lebensweg schicksalhafte Bedeutung erlangen, ausgezeichnete berufliche Startchancen für die einen liefern, sehr schlechte für Jugendliche ohne Bildungsabschluss. Dies birgt einen erheblichen sozialen Zündstoff. Viele junge Menschen fragen sich: Werden wir in der Gesellschaft überhaupt gebraucht? Die Kirche lenkt darum den Blick auch auf die Jugendarbeit und nimmt für die im evangelischen Raum entwickelte Perspektive einer lebensbegleitenden Bildung ebenso die eigenen Gemeinden in Pflicht. In den auf Kindheit und Jugendalter folgenden Lebensphasen zählt für sie im Zeichen persönlicher Bildung nicht nur die berufliche Weiterbildung, sondern in Verschränkung mit ihr Erwachsenenbildung als Selbstbildung des ganzen Menschen.

Mit diesem doppelten Fokus unterstreicht die evangelische Kirche mit gleichem Nachdruck beides, die Leistungs- und Partizipationsanforderungen des Gemeinwesens und die persönliche Verantwortung der Menschen, die zur Selbstbestimmung im Verhältnis zueinander aufgefordert sind.

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