Maße des Menschlichen
Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2003, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
Bildung in menschlichen Maßen – Thesen
1. Die in den 90er Jahren immer intensiver geführte Bildungsdebatte hat mit den internationalen Vergleichsuntersuchungen von PISA ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Sie sind ein Anlass für Reflexionen, die über die Ergebnisse von PISA hinausreichen. Die festgestellten Defizite des deutschen Schulsystems müssen entschlossen angegangen werden. Es ist erschreckend, in welcher Weise die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht den Bildungserfolg behindert oder begünstigt. Wegen der Bedeutung der Unterrichtsqualität und -kultur ist aber ein unverkürztes mehrdimensionales Verständnis von Bildung zugrunde zu legen. Bildung betrifft den einzelnen Menschen als Person, seine Förderung und Entfaltung als »ganzer Mensch« und seine Erziehung zu sozialer Verantwortung für das Gemeinwesen.
2. Bildung spiegelt als Kulturanspruch die Sinn- und Wertorientierung einer Gesellschaft und verlangt daher einen kontinuierlichen öffentlichen Bildungsdiskurs. Über Bildung kann in liberalen demokratischen Staaten keine Instanz allein entscheiden. Daher ist die begonnene breite öffentliche Bildungsdebatte zu begrüßen und systematisch fortzusetzen. An ihr haben sich die Schulen als Stätten einer selbst-reflexiven Bildung unter Einbeziehung der Elternschaft zu beteiligen. Ferner ist es notwendig, über bildungsbezogene Leistungen und Entwicklungen umfassend, regelmäßig und selbstkritisch öffentlich zu berichten, die Bevölkerung für notwendige gemeinsame Anstrengungen zu gewinnen und die finanziellen Lasten offen zu legen. Nur so kann das Bildungswesen effizienter und bedarfsgerechter werden. Dabei ist darauf zu achten, dass Orientierungswissen mit Verfügungswissen Schritt hält.
3. Die Erziehungs- und Bildungsaufgaben der Gegenwart erstrecken sich auf schulische wie außerschulische Bereiche. Entsprechend umfasst Kultur über das traditionelle ästhetische Verständnis hinaus die humane Kultivierung aller Lebensverhältnisse. Hierbei bilden die Familie, das Zusammenleben der Generationen und das Zusammenleben mit Menschen anderer Herkunftskulturen besondere Prüfsteine des kulturellen Willens und Vermögens. Eine bürgergesellschaftliche Lernkultur lebt gleichermaßen von formellem und informellem Lernen, von Bildungserfahrungen in Schule und Alltag. Beide Lernformen sind anzuerkennen und gegenseitig anschlussfähig zu machen.
4. Bildung muss Wissen und Lernen inhaltlich qualifizieren. »Lernen« und »Wissen« sind Funktionsbegriffe. Sie geben von sich aus nicht zu erkennen, was gelernt werden soll, welches Wissen zu welchen Zwecken in welchen Dimensionen unbedingt notwendig ist und wie sich die Auswahlkriterien ihrerseits begründen. Weder die räumliche Entgrenzung durch die neuen Informationsmedien noch die zeitliche unter der Devise lebenslangen Lernens liefern als solche inhaltliche Kriterien. Bildung dagegen fragt umfassender nach der Substanz und den Zielen von Wissen und Lernen. Die nationale und europäische Bildungsdiskussion braucht deswegen unter Beachtung der Bildungshoheit der Bundesländer eine Aufklärung über Bildung, die stärker an inhaltlichen Maßstäben und Qualitätsgesichtspunkten orientiert ist.
5. Wissen als äußere Beherrschung von Mitteln ermöglicht noch nicht verantwortungsbewusstes Handeln. Erst Bildung als Wertbewusstsein in der Einschätzung der für das »Überleben« und das »gute Leben« notwendigen Zwecke begründet vernünftige Mittel- und Ressourcenverwendung. Die alte Unterscheidung zwischen Wissen und Weisheit ist heute mehr denn je notwendig. Bildung meint den Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein und Handeln im Horizont sinnstiftender Lebensdeutungen.
6. »Lebensdeutungen« sind als Raum der Sinnfindung nicht machbar, sondern erwachsen aus leidvollen und beglückenden geschichtlichen Erfahrungen. Sie verkörpern sich in Kunst und Religion, Fest und Feier, Gedenken und Erinnern. In der Philosophie wird über sie nachgedacht. Bildung ist dringend als geschichtliche, ästhetische, religiöse, ethische und philosophische Bildung erforderlich. Die Marginalisierung der nicht verrechenbaren Seiten menschlichen Lebens wäre im Spiegel der »Maße des Menschlichen« unverantwortlich.
7. Maße und Grenzen des Menschlichen als Maßstäbe von Bildung sind interdisziplinär von mehreren Seiten aus bestimmbar. Sie sich bewusst zu machen hilft, mögliche Maß-Losigkeiten zu vermeiden und die notwendigen Aufgaben verantwortungsvoll und realitäts-gerecht wahrzunehmen. Maßstäbe werden bereits anthropologisch im Blick auf die menschheitsgeschichtliche Entwicklung sichtbar. Evolutionsbiologen verweisen auf Chancen und Grenzen des Lernens. Sie betreffen kognitives Lernen genauso wie ethisches Handeln, das letztlich viel voraussetzungsreicher und schwieriger ist. Ein effektives solidarisches Handeln, das Verständigung und Zusammenleben mit Fremden sowie globale soziale Verantwortung einschließt, die über den Nahbereich hinausgeht, ist nicht selbstverständlich. Leitziele für Bildung und Bildungspolitik sind Arbeitsmarktfähigkeit und Verständigungsfähigkeit. Daraus folgt: Die Bildungsaufgaben, die der Verständigung in der eigenen Gesellschaft und dem Frieden weltweit dienen, sind neben den zu steigernden kognitiven Schulleistungen gleichgewichtig. Im Brennpunkt stehen dabei besonders Eindämmung von Aggression und Überwindung von Gewalt. Sie machen ein pädagogisches Handeln notwendig, das Regeln kennt und Grenzen setzt.
8. Bildung für eine offene Zukunft kann nicht aus der Zukunft abgeleitet werden, hat jedoch auf erkennbare zukünftige Gefahren zu antworten. Der Ruf nach einer zukunftsfähigen Bildung wird in einer Situation gesellschaftlicher Dynamik laut, durch welche die Zukunft gerade wegen des beschleunigten Wandels in vielen Hinsichten immer weniger vorhersehbar ist. Gleichzeitig zeichnen sich mit beklemmender Deutlichkeit vor allem ökologische Gefahren ab, die sich in der Zukunft auswirken werden, wenn man sie nicht rechtzeitig abwehrt und für sie durch eine ökologische Bildung sensibilisiert.
9. Bildung ist eine sozialethische Herausforderung und hat dem Aufbau rücksichtsvoller Beziehungen in einer Solidargemeinschaft zu dienen. Etwa 15% der Jugendlichen haben keinen Bildungs- oder Ausbildungsabschluss. Sie drohen ausgegrenzt und marginalisiert zu werden. Unsere Situation verlangt neben einer sozial ausgleichenden regionalen und stadtteilbezogenen Bildungsförderung (Kindertagesstätten, Ganztagsschulen bzw. Ganztagsbetreuung, Schulsozialarbeit) und sozialpädagogischen Konzepten für Schulen (besonders mit Ganztagsangeboten) konsequentes Handeln; es darf nicht bei bloßen Appellen und Absichtserklärungen bleiben.
10. An Maße des Menschlichen ist auf der Grundlage biblisch-christlicher Glaubenserfahrung besonders aus theologischer Perspektive zu erinnern. Von Menschen darf in Bildungsplanungen nicht in abstrakten Kategorien gehandelt werden, über die man sie als individuelle Personen vergisst. Die Einzelnen sind als Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihren konkreten Lebenslagen wahrzunehmen und als Subjekte zu stärken. Wir brauchen Bildungseinrichtungen mit einer Kultur der wechselseitigen Anerkennung, die sich im Umgang mit den schwächsten Gliedern, den Kindern, den Alten und den Behinderten, zu bewähren hat. Dafür sind im Elementarbereich, in der Jugendarbeit und im schulischen Umfeld entsprechende Räume zu eröffnen, in denen Kinder und Jugendliche primär an Vorbildern und durch eigenes Engagement erfahren, was Menschsein und menschliche Gemeinschaft meinen.
11. Die Frage nach Gott ist für zeitgemäße Bildung unabdingbar, da sie vor absolutierendem Denken und Handeln schützt. In der für den Protestantismus zentralen Rede von der »Rechtfertigung« des Menschen »allein aus Gnade« und »allein durch den Glauben« wird zwischen Gott und Mensch sowie zwischen dem Menschen als »Person« und seinen »Werken« ebenso radikal wie heilsam unterschieden. Die Radikalität dieser Unterscheidung bewahrt vor Absolutsetzungen jeder Art.
12. Die vorstehenden Thesen betreffen übergreifende Bildungsdimensionen und -aufgaben. Gerade in diesem weiten Bezugsrahmen heben sich die folgenden spezifischen Herausforderungen des Schulsystems und anderer pädagogischer Einrichtungen um so klarer ab. Im Blick auf die Schulen kann man deutlicher ermessen, was gemeint ist, wenn im Lichte der PISA-Ergebnisse von Schwächen qualitativer Natur im deutschen Schulsystem die Rede ist. Bildung in den Schulen braucht vordringlich eine Qualitätssteigerung des Unterrichts, um »bildendes« Lernen mit Zeit für gesammelte Anstrengung, Besinnung, Vertiefung und Übung zu ermöglichen. Aus ihr erwächst Leistung als nachhaltige, selbständige innere Aneignung. Erst die Bildungskategorie macht begreiflich, worauf sich Lehren und Lernen, Leistungsforderungen und Qualitätskontrollen im Kern zu richten haben.
13. Lernen im Zeichen mehrdimensionaler und lebensbegleitender Bildung trägt zur inneren Einheit der verschiedenen Bildungseinrichtungen bei. Das einheitliche Moment liegt paradoxerweise in der Rücksicht auf menschliche Differenz in Gestalt persönlicher Individualität. Diese Rücksicht ist unteilbar; sie gilt nicht nur in der Kindheit, sondern auch gegenüber jedem Jugendlichen und Erwachsenen als unverwechselbarem Einzelnen. Was in Kindertagestätten den sorgsamen Umgang mit jedem einzelnen Kind bestimmen soll, wird an den Schulen im Grundsatz nicht hinfällig. Auch berufliche Weiterbildung sollte als ein Ingrediens der Erwachsenbildung angesehen werden, die es immer mit dem je besonderen »ganzen Menschen« in human zu gestaltenden Beziehungen zu tun hat. Diese Beziehungen verdanken ihre menschliche Qualität reziproker Verantwortung, dem Zusammenspiel wechselseitiger Rechte und Pflichten.
14. Im Zeichen innerer Einheit und zugleich Differenzierung ist auch das besondere Profil jeder Bildungseinrichtung zu entwickeln. Einrichtungen für Kinder sollten deutlicher als Bildungseinrichtungen mit einem eigenen Bildungsauftrag ausgerichtet werden. Dies heißt im Einzelnen: Im vorschulischen Bereich schließt das Recht auf einen Kindergartenplatz die Verpflichtung zu einer breiten frühen Förderung der Kinder ein. Der Erwerb sozialer und sprachlicher Kompetenz sowie die Entwicklung eines motivierten Frage- und Lernverhaltens kommen der Chancengerechtigkeit und der Integration der Kinder von Zuwanderern zugute. Die Kirche ist bereit, sich auf der Basis bewährter Tradition und vielfältig ausgestalteter evangelischer Kindertagesstätten den neuen Aufgaben in diesem Bereich von Diakonie und Bildung zu stellen. Die Stärkung der Erziehung in der Familie und die Anregungspotentiale zur Förderung des Kindes im Elementarbereich sind hierbei gleichrangige Ziele. Eltern sind unersetzlich, zugleich brauchen wir heute – auch aus pädagogischen Gründen – Angebote einer Ganztagsbetreuung, die es Frauen und Männern erlauben, berufstätig zu sein und verschiedene Aufgaben im Haus und in der Arbeitswelt gleichzeitig zu erfüllen, ohne vor unzumutbare Belastungen zu geraten.
15. Schulen ist im Rahmen fester Vorgaben und Strukturen größerer Spielraum zu geben. Er kann zum einen genutzt werden, um besser auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können. Zum anderen ist ein Ergebnis neuerer Forschung eindeutig: Bildung und Erziehung hängen wesentlich von der Qualität einer Bildungseinrichtung im Ganzen ab. Sie verkörpert sich bei einer »guten Schule« in den menschlichen Beziehungen, ist im Schulklima zu spüren und bemisst sich an den lebendigen Bezügen zur Umwelt der Schule. Alles zusammen bildet ihre »pädagogische Kultur«.
16. Das Bildungssystem muss sich heute besonders im Umgang mit Vielfalt bewähren. Es handelt sich um eine historisch in ihrer Dringlichkeit neue Herausforderung durch Pluralität verschiedenster Gestalt, nicht zuletzt in Form des kulturellen, ethischen und religiösen Pluralismus. Ihrer Struktur und ihren Funktionen nach tendieren Schulen zu verallgemeinerndem Denken und Handeln. Zwischen langsamen und schnelleren Lernenden, zwischen behinderten und nicht be-hinderten Heranwachsenden, zwischen bildungsbegünstigten und bildungsbenachteiligten jungen Menschen, nicht zuletzt zwischen jungen Leuten mit differierendem ethnischen und religiösen Hintergrund bestehen gewissenhaft zu berücksichtigende Unterschiede. Besonders in den ersten genannten Hinsichten haben Schulen in evangelischer Trägerschaft, die zum Teil mit Heimen verbunden sind, viele Erfahrungen gesammelt. In dieser Logik ist es falsch, nach mehr Staat und Zentralisation zu rufen. Eine zukunftsfähige Bildungsgesellschaft muss analog zur teilautonomen Einzelschule dezentrale Eigenentwicklungen fördern.
17. Bildung kann in diesem Kontext durch eine Fächergruppe »Religion und Ethik/Philosophie« die allgemeine menschliche Bildung wesentlich vertiefen. Diese schulische Fächergruppe besteht aus dem Religionsunterricht der verschiedenen Konfessionen und Religionsgemeinschaften (auch Islam) sowie dem Fach Ethik/Philosophie. Sinn- und wertbezogene Bildung in diesen Fächern öffnet die Augen für Erfahrungen, die uns umgreifen und zeigt Grenzmarken des menschlichen Lebens auf.
18. Das weltbekannte bewährte duale System der beruflichen Bildung in Deutschland droht seine produktive Kraft zu verlieren, wenn die Differenz seiner unterschiedlichen Schwerpunkte aufgehoben werden sollte. Auch hier geht es um das fruchtbare Wechselverhältnis von Differenz und Integration. Verständlicherweise stehen besonders Berufsschulen im Sog betrieblicher Erwartungen; darum erscheinen allgemein bildende Bildungsprozesse leicht als wenig funktional. Damit aber fiele die Chance weg, dass junge Erwachsene systematisch angeleitet werden, betriebliche Interessen, persönliche Bedürfnisse, gesamtgesellschaftliche Perspektiven sowie grundsätzlich nicht der Verwertbarkeit unterworfene Dimensionen der Bildung und des Lebens aufeinander zu beziehen. Dafür bestehen gerade in der Adoleszenz besondere Möglichkeiten. Sie ist für die Ausbildung einer reflektierten ethischen Verantwortung eine wichtige Lebensphase. Funktionswissen und Orientierungs- beziehungsweise Lebenswissen dürfen an keiner Schulart auseinander gerissen werden, auch nicht an den berufsbildenden Schulen.
19. An allen Schulen stehen heute die Lehrenden unter erhöhten Erwartungen, denen die Lehrerbildung in Deutschland noch nicht angemessen entspricht. Die fachwissenschaftliche Ausbildung erfüllt anspruchsvolle Standards, die pädagogische nicht. Für die aufmerksame Beachtung jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin fehlt im Unterrichtsbetrieb Zeit, für die Bewältigung flankierender sozialpädagogischer Herausforderungen (z.B. Gewaltprävention) mangelt es an Kompetenz und Kraft. Der Lehrerberuf ist anstrengender geworden; seine öffentliche Würdigung lässt zu wünschen übrig. Die Bildungspolitik gerät an dieser Stelle vor eine empfindliche Bewährungsprobe.
20. Die Zukunft der Bildung ist auf Anstrengungen und Opfer aller angewiesen. Die Evangelische Kirche in Deutschland sieht die Bildungsproblematik, die weit über die Schule hinausreicht, im Blick auf die Situation der Generation der jungen Menschen insgesamt in Sorge, aber auch in Zuversicht. Jugendliche wollen einer Zukunft entgegengehen, für die sie gebraucht werden. Sie möchten schon in der Gegenwart empfinden, dass sie etwas wert sind und anerkannt werden. Sie wollen spüren, dass es sich lohnt, für diese Welt und in ihr zu leben und etwas zu leisten. Wenn die Jugendlichen diese Momente überzeugend erfahren, können und werden sie sich mit Staat und Gesellschaft identifizieren und im Gemeinwesen engagieren. Dazu brauchen wir einen Prozess, der das Vertrauen zwischen den Generationen und die Verantwortung füreinander durch alle Brüche und Ambivalenzen hindurch stärkt.