Religiöse Bildung in der migrationssensiblen Schule
Herausforderungen und Ermutigungen der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend, EKD-Texte 131, Oktober 2018
Thesen
- Jedes Kind und jeder Jugendliche hat ein Recht auf Bildung.
- Auch religiöse Bildung ist ein Recht und eine Notwendigkeit.
- Bildung und religiöse Bildung müssen in der Schule wie an anderen Lernorten der Vielfalt der Lernenden gerecht werden. Migrationssensibilität ist Teil einer positiven Wahrnehmung von Heterogenität in einer pluralitätsfähigen Schule.
- Religiöse Bildung wird in der Integrationsdebatte bislang häufig zu Unrecht vernachlässigt: Tatsächlich nimmt sie bei der konstruktiven Bearbeitung von Migration spezifische, nicht delegierbare Aufgaben wahr. Dabei hat der Religionsunterricht eine besondere Bedeutung.
- Im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die durch Flucht und Vertreibung nach Deutschland kommen, ist – nicht nur im Bereich religiöser Bildung – vielfach bildungsdiakonisches Handeln gefragt.
- Migration ist ein Grundphänomen der Menschheitsgeschichte, doch im Zeitalter der Globalisierung sind davon mehr Menschen betroffen denn je. Sie wird deshalb auch in Zukunft Herausforderung und Thema einer pluralitätsfähigen und migrationssensiblen Schule sein.
- Migration steigert die Komplexität des Heranwachsens nicht nur der Migrantinnen und Migranten; die Begleitung ihres Heranwachsens verlangt deshalb erhöhte pädagogische Achtsamkeit und nach Möglichkeit multiprofessionelle Teams.
- Migration verändert die religiöse Landschaft Deutschlands und lässt interkulturelle und interreligiöse Bildung unverzichtbar werden.
- Eine steigende Zahl von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und vielgestaltiger Religionszugehörigkeit unterstreicht die Notwendigkeit, den Religionsunterricht dialogisch und kooperativ weiterzuentwickeln. Auch eine thematische Justierung ist erforderlich.
- Migrationssensibilität schließt Religionssensibilität ein. Religionssensibilität ist nicht allein Aufgabe der Religionslehrerinnen und -lehrer, sondern sollte im gesamten Raum der Schule zum Tragen kommen.
- Die Begegnung mit Flüchtlingen und die Bearbeitung von Migration rufen elementare Erfahrungen auf, die in die jüdisch-christliche Überlieferung eingegangen sind und durch sie wirksam werden.
- Es gilt, die Förderung von Migrationsund Religionssensibilität der Schule als akuten Handlungsbedarf und als strukturellen Bestandteil ihrer zukünftigen Entwicklung ernst zu nehmen.
1 Jedes Kind und jeder Jugendliche hat ein Recht auf Bildung.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ (Art. 1) und „Jeder hat das Recht auf Bildung“ (Art. 26). Diese beiden Bestimmungen der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 gewinnen angesichts von Vertreibung, Flucht und Migration für Schule und pädagogisches Handeln eine neue Bedeutung: Gleich, ob Menschen aus ihrer Heimat gewaltsam vertrieben werden, ob sie sich vor dem Hintergrund unzumutbarer Lebensverhältnisse auf die Flucht begeben oder angesichts drohender Verfolgung Asyl suchen, ob sie im Rahmen rechtlicher Vereinbarungen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen – alle sollten, sofern sie nach Deutschland kommen, möglichst unverzüglich und unabhängig von ihrem Auf enthaltsstatus ihr Recht auf Bildung wahrnehmen können.
Es liegt im Interesse sowohl der einzelnen Flüchtlinge oder Migrantinnen und Migranten als auch der sie aufnehmenden Gesellschaft, dass Kinder und Jugendliche bzw. deren Eltern dieses Recht auf Bildung ausgehend vom Elementarbereich in der Schule wahrnehmen und schulische Bildung als ihre Chance begreifen: als Chance auf individuelle Förderung, auf sprachliche und soziale Integration, auf berufsrelevante Qualifikation. Pädagogisches Handeln kann darauf bauen, dass all diese Kinder und Jugendlichen – wenn auch womöglich verschüttet und erschüttert durch vorangegangene Erfahrungen – Bildungsbiografien, Potenziale und Motivationen, kurz: Ressourcen mitbringen, an die man anknüpfen kann und sollte.
2 Auch religiöse Bildung ist ein Recht und eine Notwendigkeit.
Die Evangelische Kirche in Deutschland – und nicht sie allein – sieht im Recht auf Bildung auch das Recht auf religiöse Bildung inbegriffen. Angesichts von Migration, Flucht und Vertreibung ist sie dringlicher denn je – um der Kinder und Jugendlichen willen, die deswegen zu uns kommen, um der Schule und unserer Gesellschaft willen. Im Anschluss an These 1 ist damit festzuhalten:
Religiöse Bildung ist ein Recht. Deutschland garantiert Religionsfreiheit in einem doppelten Sinne: Es garantiert den Schutz vor religiöser Indoktrination und vor Zwang in Glaubensdingen, aber es garantiert ebenso das Recht auf freie Religionsausübung sowie auf religiöse Bildung im öffentlichen Raum (vgl. Artikel 4 und 7 GG). Es ist gerade für Flüchtlinge und Vertriebene, die z. T. aus ganz anders verfassten Staaten und Gesellschaften zu uns kommen, ein hohes Gut, diese Freiheit kennenzulernen. Wir können und sollten ihnen dieses hohe Gut zeigen und es gerade auch im Umgang mit ihnen pflegen bzw. erfahrbar machen.
Religiöse Bildung ist eine Notwendigkeit. Migrantinnen und Migranten kommen vielfach aus Ländern nach Deutschland, die in hohem Maße von Religion(en) geprägt sind, sei es von unterschiedlichen Richtungen des Islam, sei es von orthodoxem oder anders-konfessionellem Christentum oder von anderen Religionen. Sie bringen sehr unterschiedliche Haltungen gegenüber diesen Religionen mit: Sie mögen zutiefst von ihrer Religion überzeugt oder aber in ihren Überzeugungen erschüttert sein (etwa weil sie religiös motivierte Unfreiheit oder gar Gewalt erlebt haben); sie können Leitbildern der Toleranz unter Religionen beipflichten oder ihre Religion für überlegen erachten. In Deutschland finden sie sich in einer Gesellschaft wieder, in der Religion oft nicht als solche wahrnehmbar ist, weil nur hintergründig wirksam und nicht explizit thematisch, und in der sie ganze andere Überzeugungen und Praxen erleben, als sie ihnen vertraut sind.
In diesem Kontext bedarf es einer religiösen Bildung, die
- den jungen Migrantinnen und Migranten die Möglichkeit eröffnet, die eigene religiöse Biografie mit den genannten Dissonanz-Erfahrungen konstruktiv zu bearbeiten,
- ihre Herkunftsreligiosität wahrnimmt und ernst nimmt,
- Anstöße gibt, Religion als Tradition wie als Element der je eigenen Lebensführung und -deutung zu erkennen und (selbst)kritisch zu reflektieren,
- Religion als kulturelle Prägekraft und persönlichen Resilienzfaktor wahrnimmt und wertschätzt sowie Religiosität in Richtung einer pluralitätsfähigen Haltung entwickeln hilft.
Es bedarf indes einer solchen religiösen Bildung keineswegs nur für Geflüchtete bzw. Migrantinnen und Migranten; religiöse Bildung ist vielmehr unter den Bedingungen der Globalisierung ein unverzichtbarer Teil allgemeiner Bildung. Sie ist auch für die Mehrheitsgesellschaft hilfreich und unerlässlich, um interreligiöses Verstehen und Dialogkompetenz zu fördern, Stereotypen abzubauen und zu einem friedlichen Zusammenleben in einer religiös und kulturell pluralen Gesellschaft beizutragen.
3 Bildung und religiöse Bildung müssen in der Schule wie an anderen Lernorten der Vielfalt der Lernenden gerecht werden. Migrationssensibilität ist Teil einer positiven Wahrnehmung von Heterogenität in einer pluralitätsfähigen Schule.
Kinder und Jugendliche sind so vielfältig, wie es einer freiheitlichen, pluralen Gesellschaft entspricht. Schule und andere Lernorte müssen und wollen dieser Vielfalt gerecht werden und die Lernenden in ihrer Unterschiedlichkeit fördern. Diese Heterogenität wird durch die große Zahl der Kinder und Jugendlichen, die seit 2015 zu uns gekommen sind, nochmals gesteigert. Sie stellen unser Bildungssystem und alle, die darin pädagogisch oder organisatorisch Verantwortung tragen, auf die Probe: Ihre Arbeit musste und muss sich unter besonderen Umständen bewähren. Denn die Kinder und Jugendlichen, die nun Eingang in unser Bildungssystem finden, kommen in der Regel ohne deutsche Sprachkenntnisse, ohne Erfahrung mit dem Leben in einer „westlichen“, christlich geprägten Gesellschaft, nicht selten verstört durch Gewalt und Krisen in ihrer Heimat und durch Erlebnisse auf der Flucht.
Dass Bildung für eine gelingende Integration unabdingbar ist, wird allgemein anerkannt. Besonders gefordert waren und sind hier die Kindertagesstätten und Schulen, denen bei der Aufnahme von Kindern und Jugendlichen, die durch Flucht und Vertreibung zu uns gelangen, eine Schlüsselrolle zukommt (ohne damit dem Beitrag von Jugendarbeit und anderen Lernorten eine geringere Bedeutung beizumessen). Doch Politik und Zivilgesellschaft dürfen die Aufgabe der Integration nicht allein ihnen zuschreiben und sie damit strukturell überfordern.
Die Einsicht in die Schlüsselrolle der Kindertagesstätten und Schulen hat auf allen Ebenen der Bildungssteuerung und -arbeit bemerkenswerte Energien freigesetzt. Allerorten wurden Konzepte entwickelt, Initiativen gestartet und Handreichungen veröffentlicht, sodass es in kürzester Zeit auf diesem Feld zu einem beachtlichen Zuwachs an migrationsbezogener Expertise gekommen ist.
Alle, die sich hier engagiert haben und engagieren, haben nicht nur den Kindern und Jugendlichen, sondern auch uns als Gesellschaft einen großen Dienst erwiesen. Und sie tun es noch. Sie stehen stellvertretend für die bereits vorhandene Migrationssensibilität und Willkommenskultur unseres Landes.
4 Religiöse Bildung wird in der Integrationsdebatte bislang häufig zu Unrecht vernachlässigt: Tatsächlich nimmt sie bei der konstruktiven Bearbeitung von Migration spezifische, nicht delegierbare Aufgaben wahr. Dabei hat der Religionsunterricht eine besondere Bedeutung.
Verglichen mit dem schulischen Integrationsethos den geflohenen oder vertriebenen Schülerinnen und Schülern gegenüber fällt auf, dass Religion in den einschlägigen Veröffentlichungen und Projekten oft eher zurückhaltend thematisiert wird. Sie findet zwar als Hintergrundfaktor Erwähnung, kommt aber selten als Bildungsdimension in den Blick. Von ihr wird zumeist in allgemeiner Form gesprochen, obwohl mit den Flüchtlingen viele unterschiedliche Arten gelebter Religion in unser Land kommen – man denke nur an Sunniten und Schiiten, an Jesiden und Aleviten, syrisch-orthodoxe und assyrische Christen, Kopten, Melkiten und Maroniten. Religion wird zudem – vor allem, wenn primär der Islam in den Blick genommen wird – häufig als konfliktauslösender oder -verschärfender Faktor, als gewalttätig, menschenverachtend und extremistisch wahrgenommen.
Insgesamt spielt Religion in den Herkunftskontexten vieler Migranten und Migrantinnen eine weitaus größere und positivere Rolle als in Deutschland. Sie prägt dort stärker als hier das öffentliche Leben. Religion stellt für viele Einzelne ein wesentliches Reservoir für tragende Überzeugungen, ethische Orientierungen, sinnstiftende und beglückende Impulse ihres Lebens dar, sie gilt vielen als unhinterfragbarer Rahmen ihres Lebens mit stabilisierender Wirkung. Für viele Flüchtlinge ist Religion in ihrer Umbruchsituation somit ein wichtiger Resilienzfaktor. Das gilt es zu sehen, ohne zu leugnen, dass nicht wenige von ihnen erleben mussten, dass Religion als Rechtfertigung für Unrecht und Gewalt in Anspruch genommen worden ist.
Die je eigene Erfahrung mit Religion ist für die Migrantinnen und Migranten prägend. Die Vielfalt dieser Erfahrungen und der Religionen, die sie repräsentieren und einbringen, stellt aber auch religiöse Bildung und Religion im Schulleben vor veränderte Aufgaben, und sie verlangt neue Wege der Organisation. u Gerade geflüchtete Kinder und Jugendliche brauchen religiöse Bildung, die ihre Herkunftsreligion auf dem Hin tergrund der Überzeugungen der jeweiligen Lehrkraft wertschätzend aufnimmt. Dafür ist der auf religiös-weltanschauliche Neutralität bedachte Ethikunterricht, der die verschiedenen Religionen nur in religionswissenschaftlicher Beschreibung und im religionskundlichen Vergleich betrachten kann, nach Auffassung der evangelischen Kirche weniger geeignet als ein Religionsunterricht, der sich interreligiös öffnet und existenzielle Fragen in einem lebendigen persönlichen Bildungsprozess thematisiert.
Ein solcher Religionsunterricht kann und soll
- den Lebensgeschichten und -erfahrungen der Migrantinnen und Migranten Gehör verschaffen und ihrem persönlichen Nachdenken über religiös konnotierte Erfahrungen, Fragen und Konflikte besonderen Raum geben,
- über die religiöse Landschaft in ihren Herkunftsländern informieren und denen, die zu uns kommen, die Religionskultur und -geschichte unseres Landes erschließen,
- an eine (historisch-)kritische Auseinandersetzung mit Religion(en) heranführen, die Religiosität und das Leben in einer modernen Gesellschaft nicht unverbunden nebeneinanderstehen lässt,
- deutlich machen, dass Religion und Toleranz, Religion und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Religion und Freiheit zusammengehören und dass Religion und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit unvereinbar sind.
Das alles ist nicht nur, aber doch in besonderem Maße relevant für viele unter denjenigen, die durch Migration, Flucht oder Vertreibung zu uns kommen. Sie können im Religionsunterricht die Kompetenzen erwerben, die Pluralitätsfähigkeit fördern:
- „fachlich fundiertes, auf Religionen und Weltanschauungen bezogenes Wissen,
- die Fähigkeit, religiöse und weltanschauliche Orientierungen und Verhaltensweisen kontextuell zu deuten und zu verstehen,
- die Fähigkeit dazu, die Perspektive anderer Menschen zu übernehmen,
- Einstellungen und Verhaltensweisen im Sinne von Empathie, Toleranz, Respekt und Offenheit,
- das Bewusstsein eigener Orientierungen, im Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Orientierungen anderer,
- religiöse Urteilsfähigkeit“.[2]
Die Aufnahme und Bearbeitung religiöser Themen, Fragen und Anliegen ist in der Schule aber nicht nur auf den Religionsunterricht beschränkt. Religion im Schulleben sollte so gestaltet werden, dass sie den einzelnen Schülerinnen und Schülern, gleich welcher Religion sie angehören, Hilfe und Förderung anbietet, etwa durch seelsorgliche Angebote oder Formen der Schulsozialarbeit. Sie sollte aber auch die Schulgemeinschaft über konfessionelle und religiöse Differenzen hinweg zum Ausdruck kommen lassen und stärken, etwa durch Rituale im Schulalltag oder multireligiöse Schulfeiern.
5 Im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die durch Flucht und Vertreibung nach Deutschland kommen, ist – nicht nur im Bereich religiöser Bildung – vielfach bildungsdiakonisches Handeln gefragt.
Die religiöse Vielfalt unter den Flüchtlingen sowie die Unterschiedlichkeit ihrer Erfahrungen mit Religion stellen eine Herausforderung für die schulische religiöse Bildung dar, die mehrheitlich in Mitverantwortung der katholischen oder evangelischen Kirche gestaltet wird. Damit sind es faktisch vor allem evangelische und katholische Religionslehrkräfte, die zum einen in größerer Zahl zur Verfügung stehen und zum anderen auf dem Hintergrund ihrer Qualifikation, ihrer pädagogischen Erfahrung und ihres religiösen Bekenntnisses (vgl. 4.) besonders geeignet sind, Religionsunterricht für diese besondere Zielgruppe anzubieten: in Regelklassen oder auch in „internationalen Klassen“ und „Orientierungskursen“. Nichtsdestotrotz sind, wo immer ein solches Angebot bereits besteht, in gleicher Weise auch die Lehrenden im unter anderem islamischen, jüdischen oder alevitischen Religionsunterricht gefragt.
Viele katholische und evangelische Religionslehrende stellen sich dieser Aufgabe bereits und bringen ihre religionspädagogische Expertise ein: Sie unterrichten, beraten, begleiten Kinder und Jugendliche unter den Flüchtlingen ohne Ansehen der Person und ihrer Religion.
Sie leisten damit in mehrfachem Sinne bildungsdiakonische Arbeit:
- als humane Zuwendung gegenüber Schutzbedürftigen,
- als allgemeinbildende Sprachhilfe (die sich in ihrem Fach in der Erschließung biografischer Erfahrungen und religiöser Themen bewährt),
- als uneigennützige religionspädagogische Unterstützung für Angehörige anderer Religionen, die auf Grund der Gegebenheiten bei uns kein Unterstützungssystem der eigenen Denomination finden können,
- und nicht zuletzt: als Hineinnehmen der Flüchtlinge in den – ihnen oft nicht vertrauten – wissenschaftsbasierten, historisch-kritisch inspirierten unterrichtlichen Umgang mit Religion.
Solche religiöse Bildung ist angesichts von Flucht und Vertreibung unerlässlich: um der Flüchtlinge willen, die ihre unterschiedlichen Erfahrungen mit Religion verarbeiten müssen, um der Förderung ihrer und unserer kulturellen und religiösen Pluralitätsfähigkeit willen und um unserer (religions-)pädagogischen Einsicht willen, die Bildung nicht anders als subjektorientiert und kontextuell denken kann.
6 Migration ist ein Grundphänomen der Menschheitsgeschichte, doch im Zeitalter der Globalisierung sind davon mehr Menschen betroffen denn je. Sie wird deshalb auch in Zukunft Herausforderung und Thema einer pluralitätsfähigen und migrationssensiblen Schule sein.
Auch abgesehen von den Flüchtlingen und Erwerbsmigrantinnen und -migranten, die seit 2015 zu uns kommen, sind – oft unbemerkt von der Öffentlichkeit und der medialen Berichterstattung – in den letzten Jahren Abermillionen Menschen in der ganzen Welt „Migranten“ geworden: „Die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, war noch nie so hoch wie heute. Ende 2016 waren 65,6 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht.“[3] Sie wandern aus ihrem Heimatort oder ihrem Heimatland aus: in neun von zehn Fällen in ein Nachbarland (oder in ein Land desselben Kontinents), in den meisten Fällen legal oder zumindest geduldet von den Aufnahmeländern und zumeist ohne dramatische Begleitumstände. Der mit Abstand größte Teil dieser Migrationsbewegungen findet innerhalb Asiens, Afrikas oder Südbzw. Nordamerikas statt. Insgesamt gesehen hat Deutschland in nur bescheidenem Umfang ebenfalls Anteil an solchen Bewegungen.
Gleichwohl ist Migration binnen der letzten Jahrzehnte ein Teil der deutschen Lebenswirklichkeit geworden. In der statistischen Gesamtheit haben mehr als jeder fünfte
Bürger und jede fünfte Bürgerin Deutschlands einen Migrationshintergrund, d. h. sie wurden nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit (meist im Ausland) geboren bzw. haben mindestens ein Elternteil, das nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde – insgesamt 18,6 Millionen Menschen. Unter Kindern und Jugendlichen bis 20 Jahren beträgt dieser Anteil sogar mehr als ein Drittel – insgesamt 5,2 Millionen Menschen.[4] Daher sollte Migration in (Bildungs-)Politik und Gesellschaft nicht lediglich als situative Herausforderung der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart aufgefasst, sondern in ihrer grundlegenden Bedeutung erkannt und anerkannt werden.
Migration ist im Zeitalter der Globalisierung eine grundlegende Herausforderung und ein unerlässliches Thema pädagogischen Handelns – und sie wird es auf abseh bare Zeit bleiben. Migration fordert nicht allein die Schule (und in ähnlicher Weise Kindertagesstätten und Jugendarbeit), und die Schule ist auch nicht allein zuständig für Integration und Akkulturation. Aber Schule ist gerade für Kinder und Jugendliche der zentrale Ort der Begegnung und der Inklusion, der Erkundung der neuen Heimat und der Verarbeitung dessen, was Migrantinnen und Migranten mitbringen, hinter sich lassen oder vermissen. Sie ist der zentrale Ort für das Erfahren und Einüben einer „gerechten Gemeinschaft“ (Lawrence Kohlberg), der zentrale Ort nicht zuletzt für das Verstehen von Migration und Globalisierung sowie ihrer Ursachen. Als ein solcher Ort ist sie mit pädagogischen Mitteln zu gestalten – nicht nur im Unterricht, sondern auch im Schulleben.
Dies ist nicht allein für die Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft umso dringlicher, als Schule junge Menschen nachhaltig prägt, im Gelingen wie im Scheitern von „Integration“. Migration fordert Schule; Schule braucht Migrationssensibilität – um der Migrantinnen und Migranten wie der Schule, aber eben auch um der Gesell schaft willen.
Allerdings ist unsere Gesellschaft nicht erst und nicht allein durch Flucht und Migration heterogen geworden. Vielmehr ist es so, dass Flüchtlinge oder Migranten und Migrantinnen in Deutschland auf eine Gesellschaft treffen, die ausgesprochen vielfältig ist, was soziale Schichtungen, Lebensstile und Wertorientierungen, Religiosität oder Nicht-Religiosität angeht. Auch unsere aufnehmende Gesellschaft war und ist plural – so plural, dass die Wahrnehmung dieser Pluralität gerade für Flüchtlinge oder Migrantinnen und Migranten eine oftmals irritierende Entdeckung darstellt.
7 Migration steigert die Komplexität des Heranwachsens nicht nur der Migrantinnen und Migranten; die Begleitung ihres Heranwachsens verlangt deshalb erhöhte pädagogische Achtsamkeit und nach Möglichkeit multiprofessionelle Teams.
Die individuellen Lebenslagen von Menschen mit Migrationshintergrund sind zu vielfältig, als dass sie sich auf einen Nenner bringen ließen. Für eine migrationssensible Schulentwicklung ist jedoch ein Moment dieser Lebenslagen besonders bedeutsam: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund wachsen unter Bedingungen kultureller Mehrbezüglichkeit auf. Wenn sie über sich und ihren Platz in der Welt sprechen, dann tun sie es oft in Wendungen, die – kulturell, national und geografisch – auf ein „Dazwischen“ verweisen. Sie sind mit der Herausforderung konfrontiert, im Spannungsfeld unterschiedlicher kultureller Zuschreibungen, Orientierungsvorgaben und Identifikationserwartungen einen eigenen Weg und zu sich selbst zu finden. Häufig ist Religion für sie ein zentraler Marker von Identität und Differenz. Nicht selten wird Religion allerdings erst in der Begegnung mit einem anderen Kontext wie unserer säkularen Gesellschaft zu einem solchen Marker.
Jedenfalls wird der Prozess der Identitätsbildung im Kontext von Migration komplexer und labiler. Das gilt auch für diejenigen, die hier geboren wurden und durch Migration anderer mit einer weiteren Vervielfältigung der Lebenswege konfrontiert werden. Eine migrationssensible Schule zeichnet sich dadurch aus, dass sie Schülerinnen und Schüler auf diesem Weg begleitet und unterstützt. Das tut sie durch Signale des Willkommens, durch persönliche Begegnung, durch Eröffnung von Freiund Schutzräumen, durch Initiativen zur Kommunikation auch problematischer Seiten ihrer Lebenswege, durch Berücksichtigung ihrer Erfahrungen im Lernprozess und, nicht zuletzt, durch Erschließung der neuen Heimat. Unerlässlich sind hier Lehrerinnen und Lehrer, die sich dieser Aufgabe stellen. Hilfreich sind darüber hinaus multiprofessionelle Teams, die neben pädagogischer Expertise auch über Kompetenz in Psychologie und Sozialarbeit verfügen sowie ein politisches Verständnis von Migration und Globalisierung, Religionssensibilität und Schulseelsorge mitbringen.
8 Migration verändert die religiöse Landschaft Deutschlands und lässt interkulturelle und interreligiöse Bildung unverzichtbar werden.
Migration war und ist eine der wichtigsten Antriebskräfte kultureller und religiöser Pluralisierung. Migration hat es nach 1989 ermöglicht, jüdische Gemeinden in Deutschland in unverhoffter Vielfalt wachsen zu lassen. Die Arbeitsmigration seit den 1950er Jahren hat den Konfessionsproporz innerhalb des Christentums in Deutschland verschoben; durch den Zuzug von Spätaussiedlern und dank EU-interner Freizügigkeitsmigration stieg die Zahl orthodoxer Christinnen und Christen unterschiedlicher nationaler Herkunft in Deutschland an. Nicht zuletzt hat Migration Muslime und Musliminnen in Deutschland heimisch werden lassen. Mittlerweile sind mehr als fünf Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen Muslime bzw. Musliminnen. Migration bringt überdies unterschiedliche kulturelle Prägungen zur Geltung – oft, wenn auch keineswegs immer, verbunden mit Religion und Religiosität.
Diese Pluralisierung spiegelt sich unverkennbar in den Schülerinnen und Schülern wider. Multikulturalität und auch Multireligiosität haben die Schulen in Deutschland längst erreicht, wenn auch mit großen regionalen Differenzen.[5] Allzu lange wurde die Bedeutung von Religiosität und religiöser Vielfalt und damit auch das Potenzial re ligiöser Bildung unterschätzt.
Die in der EKD-Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen“ (2014) vorgelegte Leitvision einer „pluralitätsfähigen Schule“ gewinnt im Kontext der Migrationsgesellschaft noch einmal an Plausibilität und Kontur:
- Die Schule braucht und fördert eine positive Grundhaltung ihrer Angehörigen zu kultureller Vielfalt und zu religiöser Differenz. Es gilt, Heterogenität als Anstoß zur Verständigung und als potenzielle Bereicherung aufzufassen, nicht als etwas, das in Bildungsprozessen zu überwinden wäre.
- Die Schule braucht Räume und Zeiten, sie braucht Lehrerinnen und Lehrer, die transkulturelle und transreligiöse Erfahrungen zum Ausdruck kommen lassen, bearbeiten helfen und vermitteln. Das schließt ein Ringen um Überzeugungen, ein Streiten für die Akzeptanz von Grundrechten aller und wechselseitige Toleranz, eine Auseinandersetzung mit „harten“ Differenzen nicht aus (zum Beispiel im Blick auf Toleranz und die Gleichberechtigung der Geschlechter oder die Absage an Judenfeindlichkeit bzw. Antisemitismus). Solche Kontroversen sollten allein schon deshalb nicht aus der öffentlichen Schulbildung ausgeklammert werden, weil sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit in vielfältiger Weise wirksam sind.
- Die Schule braucht einen entsprechend sensibilisierten Religionsunterricht, sie braucht darüber hinaus migrationssensiblen Unterricht in Fächern wie Deutsch und Geschichte, welcher der kontextuellen Vielschichtigkeit der Lebensbezüge und Erfahrungsräume heutiger Kinder und Jugendlicher Rechnung trägt. Und sie braucht ein (außerunterrichtliches) Schulleben, in dem sich das im Unterricht Gelernte bewährt und zur Darstellung bringt.
- Das besondere Potenzial von Schulen besteht darin, dass sie auf Grund ihrer Reichweite und ihrer Autonomie (gegenüber Familientraditionen und kulturellen Milieus) heilsame Dynamiken inszenieren und anstoßen können. Im besten Falle sind sie modellhafte Orte wertschätzender Toleranz, gelingenden Zusammenlebens und sichtbaren Zusammenwirkens.
9 Eine steigende Zahl von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und vielgestaltiger Religionszugehörigkeit unterstreicht die Notwendigkeit, den Religionsunterricht dialogisch und kooperativ weiterzuentwickeln. Auch eine thematische Justierung ist erforderlich.
Wie in den Denkschriften der EKD zu Fragen des Religionsunterrichts (1994 und 2014) als Entwicklungslinie angebahnt, braucht der schulische Religionsunterricht angesichts kultureller und religiöser Pluralisierung eine dialogische Ausrichtung und kooperative Verschränkung. Unterschiedliche Formen von dialogischem Religionsunterricht existieren schon seit den 1980er Jahren. Die jetzige Situation ist Anlass und Herausforderung, ihn – wie in der Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen“ beschrieben – konsequent weiterzuentwickeln. Denn in einer migrationssensiblen Schule sollten religiöse Bildungsangebote in einer Weise angelegt werden, die gemeinsames Lernen mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher konfessioneller, religiöser und weltanschaulicher Zugehörigkeit ermöglicht und fördert. In derartigen Konstellationen können Kompetenzen reflektierter Positionalität erworben und eingeübt werden, auf die es in pluralen Multioptionsgesellschaften entscheidend ankommt. Deshalb befürwortet und unterstützt die evangelische Kirche mehr Koope ration, dialogorientierte Konzepte und Zusammenarbeit zwischen den etablierten Unterrichtsformaten, um Identitätsvergewisserung und Verständigung zu fördern.
In diesem Sinne ist es zu begrüßen, wenn
- die konfessionelle Kooperation von evangelischem und römisch-katholischem Religionsunterricht darüber hinaus insbesondere orthodoxe Kirchen einlädt, an Modellen und Praxisprojekten konfessioneller Zusammenarbeit mitzuwirken. Es gilt, Schülerinnen und Schüler orthodoxer, aber auch anderer christlicher Bekenntnisse in den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht einzubeziehen.
- evangelischer Religionsunterricht (ggf. in konfessioneller Kooperation) und islamischer, alevitischer und jüdischer Religionsunterricht in bestimmten Unterrichtseinheiten und Projektphasen zu interreligiöser Zusammenarbeit bereit sind.
- Religionsund Ethikunterricht themenbezogen kooperieren.
In allen drei Bezügen des Zusammenwirkens geht es darum, im Medium daseinsund wertorientierender Bildung Begegnung zu ermöglichen, Toleranz, Wertschätzung und themenbezogenen Dialog zu üben, Gemeinsamkeiten zu stärken, Unterschiede (an-) zuerkennen und Zusammenarbeit über Differenzen hinweg zu fördern. Dialogbereitschaft und -fähigkeit der Lehrerinnen und Lehrer sind dabei unerlässlich; sie sind Bestandteil ihres professionellen Habitus.
Die beschriebenen Entwicklungen haben auch Rückwirkungen auf die thematische Ausrichtung des Religionsunterrichts: Die Kenntnis anderskonfessioneller und andersreligiöser Praxen, Traditionen und Theologien in ihrer jeweiligen Vielgestaltigkeit gewinnt an Gewicht, ebenso die Identifikation und Explikation dessen, was für die je eigene Konfession, Religion oder individuelle Orientierung charakteristisch ist, nicht zuletzt die Reflexion von Kriterien und Regeln des Umgangs zwischen Konfessionen und Religionen (Ökumene und interreligiöser Dialog).
Diese (religions)pädagogischen Zielsetzungen sind theologisch begründbar, auch wenn Nähe und Distanz des evangelischen Christentums zu den verschiedenen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen unterschiedlich bestimmt sind.
10 Migrationssensibilität schließt Religionssensibilität ein. Religionssensibilität ist nicht allein Aufgabe der Religionslehrerinnen und -lehrer, sondern sollte im gesamten Raum der Schule zum Tragen kommen.
In Deutschland folgt die Zuordnung von Religion und Bildung aus gutem Grund dem Muster funktionaler Differenzierung: Religiöse Bildung hat auf der Basis von Artikel 4 und gemäß Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes einen festen Platz in der Schule. Damit wird die Zuständigkeit für diesen Bereich einem speziellen Fach, dem Religionsunterricht, zugeordnet. Allerdings wäre es ein Missverständnis, daraus zu folgern, dass religiöse Gesichtspunkte außerhalb dieses Faches in der Schule keine Rolle spielen.
In Schulen und Klassen mit hohem Anteil von jungen Geflüchteten machen Schulleitende und Lehrkräfte ganz unterschiedlicher fachlicher Zugehörigkeit vermehrt die Erfahrung, dass diese für sie selbstverständliche Aufgabenverteilung für ihre Schülerinnen und Schüler gerade nicht selbstverständlich ist. Ihre religiösen Fragen und für sie relevante Aspekte können gerade in fachlichen und pädagogischen Zusammenhängen aufbrechen, die mit Religion nur wenig zu tun zu haben scheinen: im Biologieunterricht, in der politischen Bildung, im Geschichtsunterricht und in der Gesundheitserziehung oder auch bei Konflikten auf dem Pausenhof. Wenn Religion die subjektive Weltsicht und Lebensführung vieler geflüchteter Schülerinnen und Schüler derart umfassend prägt, wird sie auch außerhalb des Religionsunterrichts im schulischen Kontext sichtbar und thematisch. Vor diesem Hintergrund werden auch Lehrkräfte mit religiösen Fragen konfrontiert, die keine Ausbildung in diesem Fach und vielleicht auch selbst keine Erfahrung damit haben.
- Um Fragen der Schülerinnen und Schüler angemessen aufnehmen und an die schulischen Wissensbestände anschließen zu können, ist eine elementare Religionssensibilität und interkulturelle Kompetenz aller Lehrkräfte erforderlich. Dafür müssen entsprechende Kompetenzen in der Ausund Fortbildung von Lehrkräften aller Fachrichtungen und Schularten verstärkt gefördert werden.
- Dieser Ruf nach interkultureller Kompetenz und Religionssensibilität aller Lehrkräfte wird nicht auf Grund der religiösen Geltungsansprüche etwa des Christentums erhoben, sondern aus der Einsicht, dass Religiosität und Religion als Teil kulturellen Lebens und prägender Teil der Lebensführung und -deutung vieler Schülerinnen und Schüler ernst zu nehmen sind.
11 Die Begegnung mit Flüchtlingen und die Bearbeitung von Migration rufen elementare Erfahrungen auf, die in die jüdisch-christliche Überlieferung eingegangen sind und durch sie wirksam werden.
Im christlichen Kontext kommt der biblischen Überlieferung ein besonderer Erschließungswert für die Begegnung mit Flüchtlingen und für die Bearbeitung von Migration zu. Fremdheit und Ausgrenzung, Migration und Neuorientierung sind keineswegs Themen, die allein der aktuellen Umstände wegen oder von außen an Christinnen und Christen herangetragen werden müssen. Im Gegenteil: Sie sind tief in der Erzählwelt des Alten und Neuen Testaments verankert und werden als geradezu charakteristisch für die menschliche Existenz angesehen. Biblische Geschichten – wie etwa diejenigen von Abraham und Ruth, vom Volk Israel in Ägypten und im babylonischen Exil – handeln von Flucht und Vertreibung sowie von Verheißungsmigration. Sie wurden z. T. von Migrantinnen und Migranten erzählt, sie rufen Christinnen und Christen in die Nachfolge Jesu Christi und lehren sie, sich als Teil eines wandernden Gottesvolkes (vgl. Hebr 13) zu verstehen.
Die Begegnung mit Migrantinnen und Migranten verweist uns aufs Neue an diese Tradition, die bei einem Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand in Vergessenheit zu geraten droht. Im Spiegel heutiger Migration treten die biografische Bedeutung und die religiöse Würde, die Tragik und die Härten zutage, welche die biblische Tradition Migration zuschreibt. Migrationssensibilität ist eine Qualität, die dem Christentum von seinen Quellen her innewohnt bzw. aufgegeben ist, ohne „Migration“ zu idealisieren oder zum Gebot der eigenen Lebensführung zu machen.
12 Es gilt, die Förderung von Migrationsund Religionssensibilität der Schule als akuten Handlungsbedarf und als strukturellen Bestandteil ihrer zukünftigen Entwicklung ernst zu nehmen.
„Dir obliegt es nicht, die Arbeit zu vollenden, doch du bist auch nicht frei, dich ihr zu entziehen“. Dieses Wort aus der Mischna (Sprüche der Väter II,21), einer Grundschrift rabbinischer Literatur aus dem 2. Jh. n. Chr., bringt zum Ausdruck, wie Menschen, die übergroß erscheinenden Herausforderungen gegenüberstehen, mit solchen Aufgaben umgehen können. Übertragen auf die hier verhandelte Thematik heißt dies: Auch wenn die Integrationsleistung nicht durch einzelne Lehrkräfte selbst erbracht werden kann, können und sollen sie sich dieser Anforderung nicht entziehen und sich in ihrer Arbeit nicht entmutigen lassen.
Die große Zahl von Kindern und Jugendlichen auf der Flucht bzw. mit Migrationshintergrund fordert die Schule und die Schuladministration, aber besonders die Lehrerinnen und Lehrer, nicht selten auch die Mitschülerinnen und -schüler bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, zum Teil auch darüber hinaus. Wir danken allen, die sich dieser wichtigen, unaufschiebbaren Aufgabe stellen, und ermutigen sie, ihr Engagement fortzusetzen.
Wir reden die Herausforderungen nicht klein: Die Inklusion von geflüchteten Kindern und Jugendlichen ist eine langjährige Verpflichtung, eine Arbeit, die im Kleinen wie im Großen mit Rückschlägen rechnen muss, eine Arbeit, die bei einer solchen Vielzahl so unterschiedlicher Heranwachsender unterschiedliche Früchte bringen wird.
Wir sehen den Staat und die Politik in der Pflicht, die Weichen klug zu stellen und (weiterhin) Ressourcen bereitzustellen, um in allen Bundesländern die schnelle Aufnahme von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in die Schule ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus zu ermöglichen, und die erforderlichen pädagogischen Maßnahmen nachhaltig zu ergreifen bzw. finanziell wie administrativ zu ermöglichen.
Wir sehen die Aufgabe, speziell die religiöse Bildungsarbeit und auch die Praxis von Religion in der Schule so zu konzipieren und zu realisieren, dass sie für junge Migrantinnen und Migranten hilfreiches Potenzial entfalten können. Darüber soll niemand vernachlässigt werden, der keine solche Erfahrung machen musste. Religionslehrerinnen und -lehrer, aber auch Religionspädagoginnen und -pädagogen in universitärer Forschung und Lehre sowie in kirchlichen Fortbildungsinstituten sind hier in neuer Weise gefordert. Wir bitten sie, ihre Expertise fruchtbar zu machen und, wo nötig, zu erweitern.
Doch nicht nur die Religionslehrenden sind gefragt; es ist vielmehr notwendig, religiöse Bildung als unerlässliche Dimension einer migrationssensiblen Schulentwicklung aufzufassen und konzeptionell zu integrieren. Dies gilt auch dann, wenn man als Schulleiterin und Schulleiter oder Lehrkraft dieser Dimension distanziert oder kritisch gegenübersteht. Denn sie dient nicht – wie gelegentlich befürchtet oder irrtümlich praktiziert – der Durchsetzung bestimmter Partikularinteressen, sondern der Förderung der Schwächsten, der Bildung der Einzelnen und dem Gemeinwohl der Schule.
Schließlich sei festgehalten: Auch auf die religiöse Bildung in der Kirche und ihren Gemeinden kommen neue Aufgaben zu
- in der Taufbegleitung,
- in der „Kirche mit Kindern“,
- in der Konfirmandenund Jugendarbeit,
- im diakonisch-sozialen Engagement für Flüchtlinge,
- im Einsatz zugunsten ökumenischer und interreligiöser Verständigung vor Ort,
- in der Öffnung für unterschiedliche kulturelle Stile, die Migrantinnen und Migranten mitbringen.
Insofern sehenwirunsauchals Kirche selbst in der Pflicht, die eigene Arbeit migrations sensibel zu gestalten.
2 Kirchenamt der EKD (Hg.): Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer plurali- tätsfähigen Schule, Gütersloh 2014, 70; vgl. 75 f.
3 Dieses Zitat stammt vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen – https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/cdn/trk/lp/v01 (Zugriff am 1.10.2017).
4 Diese Angaben folgen den Daten des Statistischen Bundesamtes – sie beziehen sich auf das Jahr 2016 und basieren auf dem seinerzeitigen Mikrozensus – vgl. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/08/ PD17_261_12511.html (Zugriff am 10.11.2017).
5 Dies hebt allerdings andere Entwicklungen – eines kulturellen „Dazwischen“ oder einer kulturellen Entwurzelung, einer individuellen Religiosität ohne Gemeindebindung, eines religiös indifferenten oder dezidiert areligiösen Lebenskonzeptes, einer Haltung ohne explizierbare Sinndeutungen – nicht auf bzw. lässt sie nicht weniger bedeutsam werden. Auch solche Phänomene finden sich in wachsender Zahl bei Menschen mit wie ohne Migrationshintergrund.