Thomas Mann und seine Kirche

Ada Kadelbach - Thomas Mann und seine Kirche im Spiegel der Buddenbrooks

Dem Bischof für den Sprengel Holstein-Lübeck, Karl Ludwig Kohlwage, zum Abschied aus dem Amt
gewidmet

 
Thomas Mann und „seine“ Kirche – das ist in der Tat die Kirche der Buddenbrooks. Das heißt Kirche in Lübeck, der „siebengetürmten Väterstadt“ (G. L., 55), die er in seinem nobelpreisgekrönten Romanerstling kein einziges Mal beim Namen nennt, aber bis ins kleinste Detail beschreibt – und dies so präzise, daß der Lübeckkenner bei der Lektüre ständig weiß, wo er sich topographisch befindet, und der Leser, der das „niederdeutsch-hanseatische“ (G. L., 38), „patrizisch-stadtherrschaftliche“ (G. L., 43) Gemeinwesen noch nicht aufgesucht hat, es zu kennen glaubt.

Sie ahnen es, meine Damen und Herren, „patrizisch-stadtherrschaftlich“, „niederdeutsch-hanseatisch“, „siebengetürmt“ – das sind Prädikate, die Thomas Mann seiner Vaterstadt verliehen hat, und zwar ziemlich genau vor 75 Jahren, zur 700-Jahr-Feier der Stadt. In der am Vorabend seines 51. Geburtstages im Stadttheater gehaltenen, berühmt gewordenen Rede über Lübeck als geistige Lebensform spricht er auch von der „Lübecker Gothik“ (G. L., 33), die auf seine „Schreiberei“ Einwirkung habe und sich in ihr spiegele. Die „Lübecker Gothik“, das ist für ihn das winkelige „Beieinander von Giebeln, Türmchen, Arkaden, Brunnen“ (Tonio Kröger), das sind vor allem die Giebelhäuser, die Ihnen noch heute auf Schritt und Tritt begegnen, mit ihren Fassaden, Dielen und Gewölben. Das Hoghe Hus, in dem Sie heute und morgen nachmittag tagen, ist ein typisches Lübecker Dielenhaus aus dem 13. Jahrhundert, jedoch mit der Besonderheit des großen Kaufkellers und der Durchfahrtsdiele, wie sie in Buddenbrooks beschrieben wird; im Haus an der Mengstraße, das Sie morgen besuchen, ist sie so heute aber nicht mehr erlebbar.

Das bürgerliche Lübeck durchzieht das ganze Werk Thomas Manns. „Es ist mein Ehrgeiz nachzuweisen“, bekennt er in dem bereits zitierten Vortrag von 1926, „daß Lübeck als Stadt, als Stadtbild und Stadtcharakter, als Landschaft, Sprache, Architektur durchaus nicht nur in ‚Buddenbrooks‘, deren unverleugneten Hintergrund es bildet, seine Rolle spielt, sondern daß es von Anfang bis zu Ende in meiner ganzen Schriftstellerei zu finden ist, sie entscheidend bestimmt und beherrscht.“ (G. L., 32)

Auch die anderen Gebäude, in denen Sie sich in diesen Tagen versammeln, spiegeln sich im Leben und Werk des Dichters wider. Der Saal der 1789 – übrigens von einem Petripastor – gegründeten „Gesellschaft zur Beförderung Gemeinnütziger Tätigkeit“, in dem Sie morgen abend gesellig beisammen sein werden, bildet die Kulisse zu den Vorträgen des Musiklehrers Wendell Kretschmar im Doktor Faustus, die er stotternd „eine Saison hindurch unverdrossen [dort] abhielt“. Bis heute finden die sog. „Dienstagsvorträge“ der „Gemeinnützigen“ gegenüber der Jakobikirche in der Königstraße statt.

Und im Lübecker Rathaus, wo Sie morgen mittag von den weltlichen Oberhäuptern unserer Stadt empfangen werden, wurde dem Nobelpreisträger am 20. Mai 1955, drei Monate vor seinem Tode – mit einer Stimme Mehrheit in der vorausgegangenen Bürgerschaftssitzung – die Ehrenbürgerwürde verliehen.

Aber selbstredend verbinden wir das „gotische Lübeck“ nicht nur mit profanen Gebäuden, sondern vor allem mit seinen aufragenden Sakralbauten, die ebenfalls in Thomas Manns literarischen Stadtbildern ständig präsent sind: „Die kleine alte Stadt mit ihren schmalen, winkeligen und giebeligen Straßen, ihren gotischen Kirchen und Brunnen“, so beschreibt der 22jährige seine Heimatstadt noch vor dem Buddenbrookroman in der Künstlernovelle Bajazzo (1897).

Noch heute ist die Stadtsilhouette geprägt von den sieben Türmen der fünf Altstadtkirchen, als geistliches Pendant zum weltlichen Holstentor – und das nicht nur auf den Etiketten der Marmeladengläser aus Bad Schwartau und auf den Autobahnschildern. Lübeck bezieht bis heute seine Identität keineswegs nur über Holstentor und Marzipan, Hanse und Hafen, sondern auch und besonders über diese sieben Türme, durch die Kirche zunächst einmal architektonisch und kunsthistorisch definiert ist. In der Stadt Buxtehudes und Distlers, in der Stadt der Glocken, Chöre und Orgeln wird sie vor allem aber auch tönend, d. h. kirchenmusikalisch wahrgenommen.

Diese kulturelle Dimension von Kirche tritt in Buddenbrooks permanent in Erscheinung. Schließlich steht das neuerworbene Haus der Familie Buddenbrook in der Mengstraße, in das man an einem Donnerstag im Oktober 1835 die „in der Stadt ansässigen Familienmitglieder“ und „ein paar gute Hausfreunde“ (S. 11) einlädt, direkt gegenüber dem Nordschiff und dem Chor von St. Marien.

„Um die mächtigen gotischen Ecken und Winkel der Kirche pfiff der Wind“ (S. 11). So stellt Thomas Mann auf den ersten Romanseiten „seine“ Kirche vor, in der er 1892 konfirmiert wurde, deren Pastoren ihn und alle seine Geschwister tauften und zunächst seine Großeltern und dann seinen Vater „als große Leichen“ aussegneten.

Gemütlich und heimelig klingt dieser Einstieg nicht gerade. Eher läßt er an den „heimatlichen gotischen Spuk“ (zit. nach Royer, 141) denken, den Thomas Mann bei der Ansprache zum 60. Geburtstag seines Bruders Heinrich (1931) in Erinnerung bringt. Zur, zugestandenermaßen gut beobachteten, ungastlichen Zugluft am Marienkirchhof gesellt sich am Ende des ersten Romankapitels die Unsauberkeit des Glockenspiels – beides zur einführenden Charakterisierung der stolzen Pfarr- und Ratskirche Lübecks, die mit ihrer die Bischofskirche um 18 Meter überragenden Firsthöhe und dem 10 Meter höheren Doppelturm die Domherren seit Jahrhunderten herausfordert, die vor allem aber zum Vorbild für alle Backsteinkirchen im Ostseeraum wurde. So also endet das Eingangskapitel von Buddenbrooks:

Das Glockenspiel von St. Marien setzte mit einem Chorale ein: pang! ping, ping – pung! Ziemlich taktlos, so daß man nicht recht zu erkennen vermochte, was es eigentlich sein sollte, aber doch voll Feierlichkeit, und während dann die kleine und die große Glocke fröhlich und würdevoll erzählten, daß es vier Uhr sei, schallte auch drunten die Glocke der Windfangtür gellend über die große Diele, worauf es in der Tat Tom und Christian waren, die ankamen, zusammen mit den ersten Gästen … (S. 14).

Darunter war auch der Hauptpastor von St. Marien Wunderlich, von dem wir später noch hören werden. Mit einer kleinen, aber doch wahrnehmbaren Taktlosigkeit führt Thomas Mann im ersten Kapitel des Romans also „seine“ Kirche ein.

Fast 700 Seiten oder über 40 Romanjahre später ist es Hanno, der 15jährige Sohn des zu Beginn des Romans 9jährigen Thomas, den das falsche Glockenspiel von St. Marien an einem nebeligen Montagmorgen nervt, um so mehr als er am Vorabend im Stadttheater „Lohengrin“ hatte hören dürfen, „die süße und verklärte Herrlichkeit“ (S. 702). Das Glockenspiel konfrontiert ihn überdies gnadenlos mit der Realität seiner morgendlichen Verspätung. Umsonst hatte er den Wecker auf sechs Uhr gestellt, vergeblich den Vorsatz zur Unterrichtsvorbereitung im Morgengrauen gefaßt und sich stattdessen seiner Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit hingegeben.

Da begann es auch schon acht Uhr zu schlagen! Die Glocken klangen durch den Nebel von allen Türmen, und diejenigen von Sankt Marien spielten zur Feier des Augenblicks sogar ‚Nun danket Alle Gott‘ … Sie spielten es grundfalsch, wie Hanno rasend vor Verzweiflung konstatierte, sie hatten keine Ahnung von Rhythmus und waren höchst mangelhaft gestimmt (S. 706).

Der Choralvers „Nun danket Alle Gott“ ist in einer Situation, in der Hanno verzweifelt feststellt, daß er die Montagsandacht nicht mehr pünktlich würde erreichen können, von ähnlicher Ironie wie das Lob- und Danklied, das Heinrich Mann den Schüler von Ertzum auf Geheiß des Herrn Professor Unrat im Hinterzimmer des „Blauen Engel“ aufsagen läßt: „Sollt ich meinem Gott nicht singen.“ Glaubwürdiger ist da schon Hannos gedachtes „gepriesen sei Gott“, als er wenige Minuten später erleichtert feststellt, daß er „sich ungesehen ins Klassenzimmer stehlen [konnte, um] dort heimlich das Ende der Andacht abzuwarten“, während alle anderen „für die Arbeit der Woche eine kleine religiöse Stärkung zu sich [nahmen]“ (S. 707).

Die Liebe der Lübecker zur Tradition will es, daß Sie, meine Damen und Herren, 124 Jahre nach Hannos schmerzlicher Wahrnehmung sich über das Glockenspiel von St. Marien persönlich ein musikalisches Urteil bilden können. Zwar wurde das originale, 1508 erbaute, älteste Glockenspiel Deutschlands in der Bombennacht Palmarum 1942 restlos zerstört, aber 1954 aus den Glocken der Danziger Katharinenkirche neu erstellt. Bis Lichtmeß erklingt nun wieder zu jeder vollen Stunde „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“ und zur halben „Gelobet seist du, Jesu Christ“ – ebenfalls „ziemlich taktlos“ und „höchst mangelhaft gestimmt“, wie von Thomas Mann vernommen und vor 100 Jahren beschrieben. „Nun danket alle Gott“ wird aber nach der traditionellen Choralfolge zwischen Michaelis und dem Reformationsfest zur halben Stunde gespielt. Daß Thomas Mann den Choral an einem nebeligen Spätwintertag ertönen läßt, ist sicherlich bewußte dichterische Freiheit und ein weiterer Beleg dafür, daß er den ihm gern unterstellten photographischen Realismus nur soweit einsetzt, wie er ins literarische Konzept paßt.

Die verstimmten Glocken von St. Marien – eine der vielen scheinbaren Nebensächlichkeiten im Roman! Zugleich ein Beispiel für die Methode der Leitmotivik, die Thomas Mann in Buddenbrooks anwendet. Wie auf vielen anderen Ebenen auch, wird mit dem Zustand des Glockenspiels und seiner Wirkung auf die Protagonisten die Eskalation des Romanthemas, Niedergang und Verfall, aufgezeigt. „Voll Feierlichkeit“, „fröhlich und würdevoll“, nur nicht ganz im Takt erklingen die Glocken am Romananfang; „durch den Nebel“, „grundfalsch“, „höchst mangelhaft gestimmt“ werden sie vom letzten Buddenbrook wahrgenommen. Für Tom und Christian ist das Glockenspiel Zeichen, daß sie – von der Schule kommend – pünktlich zur vereinbarten Essenszeit im geborgenen Familien- und Freundeskreis eintreffen. Für Hanno ist der Choral quälende Gewißheit, daß er – aus der Kunstwelt der Oper und seiner Fantasien gerissen – die verhaßte Lehranstalt nur verspätet erreicht.

In den vier Jahrzehnten der Romanzeit ist das Glockenspiel sicherlich nicht schlechter geworden. Es hängt mit der Verfeinerung der Buddenbrooks zusammen, mit ihrer Sensibilisierung für das Künstlerische und Ästhetische, daß Hanno die rhythmischen und intonatorischen Mängel der Glocken als störender empfindet als die vorherigen Generationen, ja, daß sie ihn sogar „rasend vor Verzweiflung“ machen. Sie symbolisieren sein Leiden am Leben, das wenig später zuende geht, weil er sich ihm verweigert.

Es ist schon angeklungen: Thomas Mann entfaltet sein Verfallsthema auf vielen Ebenen – familiär und gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch, biologisch und sittlich, und natürlich auch religiös-kirchlich. Parallel zum Firmenniedergang erkranken und sterben die Familienmitglieder immer früher – und immer weniger im Einklang mit sich und Gott.

Während Johann Buddenbrook d. Ä., der heitere aufgeklärte Freigeist mit einer natürlichen, unbefangenen Religiösität, umstanden von seiner Familie „alt und lebenssatt“ (Gen. 25, 8) stirbt, ereilt seinen romantischen, fundamentalistisch frommen Sohn Jean der Tod plötzlich und unerwartet nach einem Barometersturz im Lehnstuhl. Dessen Sohn Thomas, der sich als Kulturprotestant mehr für Kunst und Philosophie als für das Religiöse interessiert, stirbt noch nicht 50jährig zwar im Bett, aber beschämenderweise nach einem Sturz in die Gosse und ohne von den Segnungen des Pastors Notiz zu nehmen. Und sein Sohn Hanno, für den die Musik Religionsersatz ist, wird 15jährig von der als ekelhaft beschriebenen Typhuskrankheit dahingerafft. Die zunehmende Décadence der Romanfiguren findet somit ihre Entsprechung in der zunehmenden Würdelosigkeit ihres Sterbens, aber auch in ihrem Verhältnis zu Kirche und Religion.

Um Letzteres zu verdeutlichen, hat der Autor jeder Buddenbrookgeneration einen Pastor zur Seite gestellt, der den theologischen und kirchlichen Zeitgeist spiegelt. Diese Verkörperung gerät – bis auf die des ersten – wenig liebevoll, dafür karikierend-frivol bis süffisant, in jedem Fall aber ironisch-kritisch und meistens amüsant.

Der noch in die Aufklärungsgeneration gehörige Pastor Wunderlich wird als „untersetzter alter Herr in langem, schwarzen Rock mit gepudertem Haar und einem weißen, behaglich lustigen Gesicht, in dem ein Paar grauer, munterer Augen blinzelten“ (S. 16), noch als recht liebenswert und sympathisch geschildert, der als Vollmitglied der Lübecker Gesellschaft „in aller Behaglichkeit ein Glas [Rotspon] nach dem anderen“ (S. 28) trinkt, dabei aber „weiß und formgewandt“ (S. 34) bleibt und „in angenehmen Wendungen zu toasten“ versteht, „in dem freien und behaglichen Plauderton, den er auch auf der Kanzel innezuhalten liebte“ (S. 31). Was er von der Kanzel, im seelsorgerlichen oder theologischen Gespräch sagte, darüber schweigt sich der Autor allerdings aus. Aber offensichtlich sind für Pastor Wunderlich wie für den ältesten Buddenbrook Kirche und Leben, Religion und Bürgertum noch eine selbstverständliche, harmonische Einheit. Die beiden aufgeklärten Herren lächeln einander „ganz leise zu“, als sich der zweite Buddenbrook selbst „als christlichen Mann, als Mensch[en] von religiösem Empfinden“ bezeichnet und bei diesen Worten „einen stillen und schwärmerischen Ausdruck“ annimmt (S. 27).

Dieser Konsul Jean, dem sein Vater „christliche und phantastische Flausen vorwirft“ (S. 46), hängt dem gefühlsbetonten Bibelchristentum der Erweckungsbewegung an, das bei dem ihm zugeordneten nächsten Marienpastor Kölling, einem „robusten Mann mit dickem Kopf und derber Redeweise“ (S. 73), aber bereits bigotte Züge annimmt. Das natürliche Christentum des Pastor Wunderlich degeneriert bei seinem Nachfolger zur Morallehre. Er wettert am Grabe des alten Buddenbrook mit großem Pathos gegen die „Wollüstigen, Fresser und Säufer“ (S. 73) und predigt statt den Glauben die Mäßigkeit. Er mißbraucht sein Amt, indem er sich von Konsul Jean instrumentalisieren läßt und dessen Tochter Tony von der Kanzel aus in die Ehe mit dem heuchlerischen und betrügerischen Pfarrerssohn Grünlich und damit ins Unglück treibt.

Kein Wunder also, daß Tony nach diesem Komplott väterlicher und kirchlicher Gewalt eine instinktive Abscheu gegen jede Form eines hohlen und unechten Christentums empfindet. Diese richtet sich vor allem gegen die frömmelnden Wanderprediger, die sich zuhauf im Hause ihrer Mutter durchfüttern lassen. Konsulin Elisabeth Buddenbrook, genannt Bethsy, entwickelte nach dem Tode ihres Mannes eine religiöse Betriebsamkeit mit ausgedehnten Morgen- und Abendandachten, an denen der gesamte Hausstaat teilnehmen mußte, mit Sonntagsschule für die Volksschul-Mädchen aus dem sogenannten niederen Stande und den „Jerusalemsabenden“, an denen „etwa zwanzig Damen, die in dem Alter standen, wo es an der Zeit ist, sich nach einem guten Platze im Himmel umzusehen“, einmal wöchentlich zusammenkamen, Tee tranken, „geistliche Lieder und Abhandlungen“ vorlasen und Handarbeiten fertigten, „die am Ende des Jahres in einem Basare verkauft wurden, und deren Erlös zu Missionszwecken nach Jerusalem geschickt ward“ (S. 279).

Auch bei den Morgen- und Abendandachten „trat oft an die Stelle der Bibel eines der Predigt- und Erbauungsbücher mit schwarzem Einband und Goldschnitt, dieser Schatzkästchen, Psalter, Weihestunden, Morgenklänge und Pilgerstäbe, deren beständige Zärtlichkeit für das süße, wonnesame Jesulein ein wenig widerlich anmutete und von denen allzuviele im Hause vorhanden waren“ (S. 277). Man spürt geradezu, wie der nach eigener Aussage eben „aus der Haft seiner engen Vaterstadt“ (zit. nach Schröter, 32) entflohene Thomas Mann, 23jährig und – aus sicherer Entfernung in München oder Rom – sich diese Sätze genüßlich auf der Zunge zergehen läßt.

Bei dem hier praktizierten Christentum wurde die Institution Kirche offensichtlich kaum noch gebraucht. Und so trat Marienpastor Kölling in den Hintergrund gegenüber dem clerus vagans: Tränen-Trieschke aus Berlin, der so hieß, „weil er allsonntäglich einmal inmitten seiner Predigt an geeigneter Stelle zu weinen begann“ (S. 282), Erbschleicher Pastor Tiburtius, der Tonys fromme Schwester Clara nach Riga entführte, Missionar Jonathan, Pastor Matthias aus Cannstadt und wie sie alle hießen.

Thomas Mann beschreibt das fromme Treiben in der Mengstraße 4 sicherlich mit einiger Übertreibung, aber zweifellos auch aus eigener Anschauung.

Seine Großmutter Elisabeth Mann, die das Vorbild für Bethsy Buddenbrook abgab, überlebte ihren Mann um 27 Jahre in dem Haus, das durch den Roman Weltruhm erhalten sollte. Die Enkel gingen bei der Großmutter, die von Thomas Mann später als „sehr fromm reformiert-protestantisch denkend“ (zit. nach Dittmer, Sp. 68) charakterisiert wurde, ein und aus. Sie waren von ihrer Frömmigkeit offensichtlich beeindruckt, trotz der „vielen wunderlichen Missionars- und Predigertypen, von denen manches Humoristische und Karikaturistische von Familienhumor anekdotisch überliefert wurde“ (ebd.). Als sie 1890 fast 80jährig starb – Thomas war damals 15 –, schrieb der vier Jahre ältere, spürbar betroffene Bruder Heinrich an seinen Schulfreund: „Ich sage ganz ohne Spott: Sie war ‚stark im Glauben‘. Begreifst Du?“ (Briefe an L. Ewers, 198). „Stark im Glauben“ setzte er dabei in Anführungsstriche und ließ damit durchblicken, daß ihm die Wendung als Bibelzitat vertraut war (Röm. 4, 20).

Elisabeth Mann, geb. Marty, war die Tochter eines aus der Schweiz stammenden aktiven Mitglieds der Reformierten Gemeinde Lübeck. Dieser vermachte sie ansehnliche Teile ihres Vermögens. Die Erweckungsfrömmigkeit ging in Lübeck in erster Linie von reformierter Seite aus. Führender Geistlicher war 55 Jahre lang (1798 – 1853) Johannes Geibel, Vater von Emanuel, der – konfessionsübergreifend – mit den angesehensten Lübecker Bürgern u. a. die Bibelgesellschaft (1814) und den Missionsverein (1821) gründete und sonntags nahezu 800 Gottesdienstbesucher um sich versammelte. Darunter waren auch viele Mitglieder der lutherischen Staatskirche, die sich von der wärmeren, gefühlsbetonten Bibelorientierung und Christusfrömmigkeit angezogen fühlten.

Durch Einheirat bildete die Familie Mann ein gesellschaftliches Bindeglied zwischen den lutherisch-orthodoxen Gelehrtenkreisen und den traditionell dem Kaufmannsstand angehörenden reformierten Familien mit der neupietistischen Frömmigkeit und der positiven „Dominus providebit“-Theologie. „Ein freudiger Glaube ist Erbtheil in unserer Familie gewesen“, schrieb noch Thomas Manns Vater 1891 in sein Testament (zit. nach de Mendelssohn, 132).

Davon spürt man in dem, was sein Sohn über die religiösen Übungen im Hause Bethsy Buddenbrooks und vor allem über den freudlosen Glauben ihrer Tochter Clara erzählt, allerdings wenig. Wenn Religiosität Ausdruck von Weltflucht und Lebensschwäche wird und Sündenbewußtsein in heuchlerische Zerknirschung umschlägt, revoltiert Tony, und ihr Schöpfer Thomas Mann brilliert in ironisch-satirischen Episoden. So nötigt ein fremder Prediger, der bei Buddenbrooks zu Gast ist, die Familie bei der Morgenandacht, „zu einer feierlichen, glaubensfesten und innigen Melodie die Worte zu singen:

‚Ich bin ein rechtes Rabenaas,
Ein wahrer Sündenkrüppel,
Der seine Sünden in sich fraß,
Als wie der Rost den Zwippel.

Ach Herr, so nimm mich Hund beim Ohr,
Wirf mir den Gnadenknochen vor
Und nimm mich Sündenlümmel
In deinen Gnadenhimmel!‘ (S. 278).

Manche Germanisten beschäftigen sich noch immer mit der Frage, was es mit dieser Strophe auf sich habe, in welchem Gesangbuch sie zu finden sei oder ob sie Thomas Mann selbst gedichtet habe. Die Hymnologen haben das Geheimnis längst gelüftet. Es handelt sich um die Parodie einer Kirchenliedstrophe, die 1840 in einem Artikel gegen die beabsichtigte Restauration der rationalistisch veränderten Kirchenlieder veröffentlicht wurde. Allerdings wurde von dem anonymen Verfasser des Artikels (und wohl auch der Parodie) in polemischer Absicht behauptet, sie „einem noch nicht sehr alten Breslauer Gesangbuche entnommen“ (zit. nach Ameln, 193) zu haben. Danach wurde ein jahrzehntelanger öffentlicher Streit um die vermeintliche Echtheit der „Rabenaas-Strophe“ und ihre Urheberschaft ausgetragen, an der sich mit großer Genugtuung kein geringerer als Friedrich Engels beteiligte. Von katholischer Seite wurde sie sogar Luther zugeschrieben, weil darin „die lutherische Rechtfertigungslehre doch recht korrekt ausgesprochen“ sei (zit. nach Ameln, 191). Die Diskussion entbrannte 1898 neu, gerade rechtzeitig, um Thomas Mann diese drastische Karikatur von Sündenzerknirschtheit und Erlösungsglauben für das 5. Kapitel des 5. Buches, in dem er die Veränderungen im Hause Buddenbrook nach dem Tode des Konsuls schildert, zuzuspielen.

Doch auch echte Kirchenliedverse, vor allem von Martin Luther und Paul Gerhardt, zitiert der Autor, meistens jedoch ebenfalls in einem ironischen Kontext. „Laß fahren dahin“ wurde gegen Ende des Romans die Lieblingsrede des zitierfreudigen Maklers Gosch, „er wiederholte sie beständig und oftmals ganz außer dem Zusammenhange“ (S. 665). Und das zu einem Zeitpunkt, als die Buddenbrooks tatsächlich „Gut, Ehr, Kind und Weib“ verloren, ohne daß ihnen ein anderes Reich zu bleiben schien. „‚Ich mag gar nicht mehr auf der Welt sein‘, sagte Christian. ‚Laß fahren dahin!‘ sagte Herr Gosch“ (S. 669).

Für Thomas Mann und seine Generation war das Kirchenlied – und dies keineswegs nur auf Luthers „Eine feste Burg“ (EG 362) bezogen – noch fester Bestandteil der Bildung. In Schule und Konfirmandenunterricht wurden nicht nur zahlreiche Bibelverse und der Katechismus mit den umständlichen Erklärungen der Erklärungen Luthers auswendig gelernt, sondern auch ein Stamm von vielstrophigen Kirchenliedern. Der Katechismusausgabe aus Thomas Manns Schulzeit (1886) ist z. B. eine Auswahl von 38 „evangelischen Liedern zum Auswendiglernen“ beigegeben, von denen 20 fettgedruckte offensichtlich zum absoluten Pflichtkanon gehörten, darunter auch die in Buddenbrooks zitierten Kernlieder. So schöpften der jugendliche Verfasser des Romans, aber auch sein Bruder Heinrich wie viele Dichter vor ihnen und noch nach ihnen – Goethe, Claudius, Jean Paul, Fontane, Brecht, Bobrowski, um nur einige zu nennen – aus dem Fundus eines Wissens, das ständig verfügbar war. Die mehr oder weniger verborgenen Zitate und Anspielungen werden in einer Zeit, da Kirchenlieder kaum noch allgemeines Bildungsgut sind, von immer weniger Lesern, aber leider auch nicht mehr von allen Interpreten und Kommentatoren erkannt.

Kehren wir zurück ins Buddenbrookhaus, zunächst zu Bethsy und ihren Jerusalemsabenden. Zu dem „frommen Verein“ (S. 279) gehörten auch die Schwestern Gerhardt, die „beteuerten, in gerader Linie von Paul Gerhardt abzustammen“ (S. 279). Eine von ihnen, Lea mit Vornamen, las, da sie taub war, gewöhnlich vor, und zwar „mit fürchterlicher Stimme, die klang, wie wenn der Wind sich im Ofenrohr verfängt:

‚Will Satan mich verschlingen …‘

Nun! dachte Tony Grünlich. Welcher Satan möchte die wohl verschlingen!“ (S. 280).

Durch diesen ungezogenen Gedanken – glücklicherweise nur dem Leser und nicht den Damen mitgeteilt – wird der Vers aus Paul Gerhardts Abendlied „Nun ruhen alle Wälder“ (EG 477, 8) persifliert und ins Lächerliche gezogen. Die Liedzeile aus der berühmten Strophe „Breit aus die Flügel beide“, die sich als Gute-Nacht-Gebet für Kinder verselbständigt hat, wird an dieser Stelle ironisierend eingesetzt, um Tonys Mißtrauen gegen gewisse Formen der Frömmigkeit verständlich zu machen.

Ein weiteres Paul Gerhardt-Zitat findet sich zehn Kapitel weiter. Bei der Morgenrasur pflegt Thomas Buddenbrook mit dem Barbier und Mitglied der Bürgerschaft Wenzel die allmorgendliche Konversation über die Nachtruhe, das Wetter, die Weltpolitik und Lokales:

‚Was Neues aus Kopenhagen?‘

‚Gar nichts, Herr Konsul. Sie wollen nicht …‘

‚Ja, es ist ganz unerhört, Wenzel [… ] Ach ja, diese Dänen! Ich erinnere mich lebhaft, wie ich mich schon als ganz kleiner Junge beständig über einen Gesangvers ärgerte, der anfing: ‚Gib mir, gib allen denen, die sich von Herzen sehnen …‘, wobei ich ‚Denen‘ im Geiste immer mit ‚ä‘ schrieb und nicht begriff, daß der Herrgott auch den Dänen irgendetwas geben sollte … (S. 358).

Wenzel lacht und der Konsul wechselt das Thema von der großen Politik zur regionalen Eisenbahnpolitik.

Das wörtliche und zugleich verballhornte Zitat aus Paul Gerhardts Neujahrslied haben wir alle noch frisch im Ohr:

Gib mir und allen denen,
die sich von Herzen sehnen
nach dir und deiner Hulde,
ein Herz, das sich gedulde. (EG 58, 9)

In dieser Szene wird eine Pennäleranekdote – sicher nicht ohne biographischen Hintergrund – mit politischem Witz und kalauerndem Wortspiel verbunden.

Etwa 20 Jahre später, gegen Ende des Romans, stehen wir am Sterbebett von Thomas Buddenbrook. Die Familie ist versammelt. Pastor Pringsheim und Doktor Grabow sind gegangen. Da beginnt Tony, „sehr laut und mit gefalteten Händen, einen Gesang zu sprechen … ‚Mach End‘, o Herr, … mach Ende mit aller seiner Not; stärk‘ seine Füß‘ und Hände und laß bis in den Tod …‘“. Hier blieb sie „jämmerlich“ stecken, und „jedermann im Zimmer wartete und zog sich zusammen vor Geniertheit“ (S. 685).

Sie haben den Texteingriff in die letzte Strophe von Paul Gerhardts Trost- und Vertrauenslied „Befiehl du deine Wege“ (EG 361) bemerkt: Aus „unsrer“ Not macht Tony „seine“ Not; auch die „Füß‘ und Hände“ bezieht sie grammatikalisch auf den Bruder. Vielleicht spürt sie ja die Unlogik ihres Gebets, wenn sie dem Sterbenden damit nun einerseits den Tod, andererseits die Stärkung seiner Glieder, also die Gesundung wünscht, und verliert deshalb den Faden. Die steife Feierlichkeit der Szene schlägt jedenfalls um in peinliche Beklommenheit. Der Leser teilt aber weniger die Geniertheit der Umstehenden als die Freude des Erzählers über seinen satirischen Einfall und die Sympathie für Tony. Sie wirkt bei aller Konvention aufrichtig. Sie macht zumindest den Versuch, ein religiöses Bedürfnis, das sie individuell nicht mehr ausdrücken kann, mittels einer Kirchenliedstrophe zu artikulieren. Sie versucht da einzuspringen, wo Pastor Pringsheim, den sie ans Sterbebett hatte holen lassen, versagte.

Mit seinem gekünstelten Selbstdarstellungsdrang und seiner glatten Perfektion steht er in krassem Gegensatz zu ihrer ehrlichen Absicht und dem Lapsus, den man ihr gerne verzeiht. Alles an ihm ist gefühllos und theatralisch, er inszeniert sich ständig selbst und bleibt im Gegensatz zu Tony natürlich auch nicht stecken. So beschreibt Thomas Mann seinen Auftritt:

In halbem Ornat, ohne Halskrause aber in langem Talar, erschien er [… ] Er bat den Kranken, ihn zu erkennen und ihm ein wenig Gehör zu schenken; da dieser Versuch aber fruchtlos blieb, so wandte er sich direkt an Gott, redete ihn in stilisiertem Fränkisch an und sprach zu ihm mit modulierender Stimme in bald dunklen, bald jäh accentuierten Lauten, indeß finsterer Fanatismus und milde Verklärung auf seinem Gesichte wechselten [… ] Und dann sprach er mit wirksamer Pointierung noch zwei in solchen Fällen übliche Gebete und erhob sich [… ], streifte Schwester Leandra [die katholische] nochmals mit einem kalten Blick und hielt seinen Abgang (S. 684).

Der Vertreter der Amtskirche, der dem letzten Buddenbrookschen Familienoberhaupt zugeordnet ist, zeigt an dessen Sterbebett also sehr viel mehr schauspielerisches Talent als seelsorgerliche Qualitäten. In dieser Überzeichnung der Person des Pastor Pringsheim wird noch einmal folgendes deutlich: Dem äußeren Verfall der Familie entspricht die Veräußerlichung der Religion und die Vergröberung ihrer kirchlichen Amtsträger. Neben dem Spiegelbild des Verfalls erkennen wir aber auch das Gegenbild einer Décadence im Sinne von Verfeinerung. Das heißt, je weiter der religiöse und sittliche Niedergang sowie der gesellschaftliche und biologische Verfall voranschreiten, desto mehr reflektieren die Buddenbrooks, desto mehr werden sie sensibilisiert für das Philosophisch-Künstlerische, das schließlich in Hannos lebensverachtender Musikleidenschaft, in seiner Kunstreligion gipfelt.

Sein Vater Thomas Buddenbrook hatte sich noch nach dem wirklichen Leben und nach Erlösung gesehnt, die er bei der „Schopenhauer-Lektüre“ in einem metaphysischen Erlebnis gekommen glaubte: „Und siehe da: plötzlich war es, wie wenn die Finsternis vor seinen Augen zerrisse, wie wenn die samtne Wand der Nacht sich klaffend teilte und eine unermeßlich tiefe, eine ewige Fernsicht von Licht enthüllte … Ich werde leben!“ (S. 656).

Doch schon am nächsten Morgen hatte er sich wegen der „geistigen Extravaganzen“ geniert (S. 659) und sich 14 Tage später in den sicheren Hafen der „Begriffe und Bilder, in deren gläubigem Gebrauch man seine Kindheit geübt hatte“ (S. 660), hinübergerettet, ohne daß sie ihm wirklich zur Lebenshilfe wurden. Er rief sich die Grundsätze der christlichen Lehre von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht in Erinnerung und fand doch keinen Frieden. Mehrere Tage plagte ihn die Frage, „ob nun eigentlich die Seele unmittelbar nach dem Tode in den Himmel gelange, oder ob die Seligkeit erst mit der Auferstehung des Fleisches beginne …“ (S. 661) und wo die Seele bis dahin bliebe. Er warf Schule und Kirche vor, ihn niemals darüber belehrt zu haben, und wäre beinahe zu Pastor Pringsheim gegangen, was er jedoch im letzten Augenblick aus Furcht, sich lächerlich zu machen, unterließ. Stattdessen machte er sein Testament, und ein halbes Jahr später war er tot.

Pastor Pringsheim hätte ohnehin wenig Verständnis gehabt für derlei differenzierende Fragen und unbürgerliche Anwandlungen. Er beobachtete mit Abneigung die zunehmenden „Décadence-Merkmale“ (vgl. Buddenbrooks-Handbuch, 24) bei den Buddenbrooks und sagte nach dem Tode des Senators über dessen Sohn Hanno, man müsse ihn aufgeben, denn er stamme „aus einer verrotteten Familie“ (S. 743).

Dies hat nun der „echte“ langjährige Hauptpastor an St. Marien, Senior Leopold Friedrich Ranke (1842 – 1918), der in mancherlei Hinsicht für sein literarisches alter ego „Pastor Pringsheim“ Pate gestanden hat, tatsächlich über die Familie Mann gesagt. „Die ,verrottete‘ Familie, so genannt von einem voreiligen Pastor, sollte noch auffallend produktiv sein“, mokiert sich Heinrich Mann in Ein Zeitalter wird besichtigt (S. 239). Der über 30 Jahre an St. Marien wirkende Konfirmator von Heinrich und Thomas Mann trat als Anhänger des wilhelminischen Nationalprotestantismus für Deutschtum und Christentum, Religion und Vaterland, Ehe und Familie ein. Als von der Erlanger Theologie geprägter Konservativer fürchtete er die immer größer werdende Zahl derer, „die an den Grundfesten des Staates, der Kirche, der Gesellschaft rütteln“ (Neujahrspredigt 1905, zit. nach Hauschild, 499), und meinte damit wohl vor allem die Sozialdemokraten.

In einer Festpredigt von 1893 über Ps. 144, 9 – 12 machte er das Vaterland direkt zum Thema: „Was erwartet das Vaterland von uns? Es erwartet: 1. daß wir Gottes Wundergüte gegen uns Deutsche mit neuen Liedern fröhlich preisen [Gemeint ist das „Wunder“ von 1870 / 71, das er als herrliches Eingreifen Gottes interpretierte.]; 2. daß wir uns vor undeutschen Lehren und Werken fleißig in Acht nehmen; 3. daß wir das junge Geschlecht zu echt deutscher Art treulich und ernstlich anleiten.“ Wozu eine solche Verschmelzung von Nationalismus und Religiosität führen kann, haben die Geschichte und die Kirchengeschichte – leider auch in Lübeck – schmerzlichst gezeigt.

Die eben zitierte Festpredigt kann der 18jährige Thomas Mann, bevor er im Frühjahr 1894 nach München übersiedelte, noch gehört haben. Gestalten wie die des Pastor Ranke haben sein Bild von der Institution Kirche und ihren Repräsentanten zweifellos geprägt. Und er hat ihre Charaktere und Ansichten in seinem literarischen Werk verarbeitet. Nicht eins zu eins, damit täte man dem herausragenden Lübecker Theologen und Kirchenführer Ranke unrecht. Er war nicht nur ein geschätzter Prediger und Seelsorger, sondern als Mann der Inneren Mission auch ein sozialkaritativer und volkskirchlicher Reformer. In Pastor Pringsheim karikiert der jugendliche Autor nur eine, wenn auch besonders auffällige und unsympathische Seite des aus dem fränkischen Bayreuth stammenden Geistlichen.

Thomas Manns Beschreibungen der pastoralen Auftritte am Sterbebett von Thomas Buddenbrook einerseits und in der Todesstunde seines leiblichen Vaters andererseits zeigen entlarvende Parallelen:

Als der Hauptpastor von Sankt Marien zu Lübeck, im Priesterkleide am Sterbebett meines Vaters kniend, sich in lauten Gebeten erging, sprach der Sterbende, nach einigem unruhigen Kopfwenden, ein energisches ‚Amen!‘ in die frommen Redereien hinein. Der Geistliche ließ sich dadurch nicht stören und tat des Amen s sogar in seiner Grabrede lobend Erwähnung, während es doch, wie mir, dem halbwüchsigen Jungen, sofort klar gewesen war, nichts weiter bedeutet hatte als ‚Schluß!‘ (zit. nach Schröter, 25).

Thomas Mann und seine Kirche. Ohne den Zusatz „im Spiegel der Buddenbrooks“ hätte ich nicht gewagt, darüber zu sprechen. Der „Libertin und ein wenig lasche Kulturprotestant, der er in seiner Jugendzeit war“ (Jens, 11), hat dazu selten ausdrücklich Stellung genommen. Aber wir spüren Distanz und Mißtrauen. In einem Brief an Kuno Fiedler äußert er sich direkter: „Sobald das Religiöse sich als positive, gegen andere Bekenntnisse bestimmt, ja militant abgegrenzte Religion etabliert, stellt sich alles wieder ein: Theologie, Mythologie, Orthodoxie, ein Dogmensystem, das an das Heil gebunden ist, sogar kirchliche Machtpolitik (denn Religion und Politik sind nicht zu trennen), und wir sind wieder am gleichen Fleck“ (zit. nach Jens, 18).

Der Roman sagt über das persönliche Verhältnis seines Autors zur Kirche oder gar zum Glauben zunächst gar nichts aus. Er ist Literatur, Fiktion, auch wenn sich die Erfahrungswelt des Verfassers auf jeder Seite widerspiegelt. Der Erzähler legt damit nicht etwa ein Bekenntnis ab, weder ein religiöses noch ein konfessionelles. Er gewährt uns aber mittels seiner Romanfiguren Einblicke in seine Beobachtungen und kritischen Überlegungen. Und weckt somit indirekt, über das Medium Literatur, Verständnis für seine Skepsis.

Das sahen die Geistlichen seiner Zeit keineswegs alle so. In der theologischen Zeitschrift Die Reformation entspann sich bereits 1904, also drei Jahre nach dem Erscheinen von Buddenbrooks, eine kontroverse Diskussion über die Behandlung des Christentums im Roman. Die einen warfen dem Verfasser vor, ob gewollt oder ungewollt, „eine weltgeschichtliche Erscheinung wie das Christentum“ (Die Reformation, 428) mit seinem Roman empfindlich getroffen zu haben: „Daß Th. Mann ein vornehmer Charakter ist, steht uns außer aller Frage; aber daß er in den ,Buddenbrooks‘ dem Christentume eine vornehme Behandlung so total versagt, das ist unser Schmerz“ (Die Reformation, 570). Die anderen verteidigen den künstlerischen Standpunkt und konstatieren, daß der Verfasser „kein böses Wort über das Christentum“ sage. „Was er schildert, unbarmherzig, boshaft schildert, sind allerhand ,Christen‘, denen das ,Christentum‘ im Munde und auf der Haut, in den Kleidern und über der Haustür sitzt. Gibt es solche ,Christen‘ vielleicht nicht? Ist die Kritik an ihnen eine Kritik am Christentum?“ (Die Reformation, 524).

Thomas Mann selbst hat in reiferem Alter (1931) dem Theologen Hans Dittmer gegenüber konzediert, „daß das Buch die Spuren des jugendlichen Alters trägt, in dem es verfaßt wurde. Die Satire gegen das Protestantisch-Geistliche, die es enthält, ist ohne Frage ein bißchen knabenhaft leichtsinnig“ (Dittmer, Sp. 67). Er nahm die religiöse Frage durchaus ernst. Sie stellte sich ihm nach eigener Aussage in der Sterbestunde seines Vaters (vgl. Schröter, 25) und ließ ihn sein Leben lang nicht wieder los. Darüber, über „Thomas Mann und die religiöse Frage“, wird Professor Schwöbel sprechen. Ich freue mich darauf, danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, Ihre (Wieder-)Leselust auf Buddenbrooks ein wenig geweckt zu haben.


Literatur

Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. 2. durchgesehene Auflage. Frankfurt / Main 1974.

Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Sonderausgabe. Frankfurt / Main 1999. (Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe).

Thomas Mann: Lübeck als geistige Lebensform. Lübeck 1926. Reprint mit einem Nachwort von Eckhard Heftrich. Lübeck 1993. (G.L., Seitenzahl)

Heinrich Mann: Briefe an Ludwig Ewers 1889 – 1913. Berlin und Weimar 1980.

Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. Studienausgabe in Einzelbänden hrsg. von Peter-Paul Schneider. Frankfurt 1988.

Buddenbrooks-Handbuch hrsg. von Ken Moulden und Gero von Wilpert. Stuttgart 1988.

Thomas-Mann-Handbuch hrsg. von Helmut Koopmann. 2. Aufl. Stuttgart 1995.

Evangelisches Gesangbuch. Stammausgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland. [Hannover 1993]. (EG und Lied-Nummer)

Konrad Ameln: Über die „Rabenaas“-Strophe und ähnliche Gebilde. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie hrsg. von Konrad Ameln u. a. Bd. 13 (1968), S. 190 – 194.

Hans Dittmer: Buddenbrooks und die Kirche. In: Die Christliche Welt Nr. 2 (17.1.1931), Sp. 67 – 70.

Manfred Hanke: Ich bin ein rechtes Rabenaas – Wer schrieb das Lied? In: FAZ Magazin Nr. 505 (3.11.1989), S. 72 – 80.

Wolf-Dieter Hauschild: Kirchengeschichte Lübecks. Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten. Lübeck 1981.

Walter Jens: Die Buddenbrooks und ihre Pastoren. Zu Gast im Weihnachtshause Thomas Manns. Lübeck 1993.

Ada Kadelbach: Paul Gerhardt im Blauen Engel. Ein rätselhaftes Kirchenliedzitat in Heinrich Manns Professor Unrat. In: Heinrich Mann-Jahrbuch hrsg. von Helmut Koopmann und Peter-Paul Schneider. Bd. 14 (1996), S. 87 – 112.

Ada Kadelbach: Was ist was? Ein neuer Blick auf einen berühmten Romananfang und die Lübecker Katechismen. In: ‚Buddenbrooks‘. Neue Blicke in ein altes Buch hrsg. von Manfred Eickhölter und Hans Wißkirchen. Lübeck 2000, S. 36 – 47.

Peter de Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Erster Teil 1875 – 1918. Frankfurt / Main 1975.

Die Reformation (1904), S. 427 – 429, 523 f., 569 – 571.

Jean Royer: Lübecks Gotik und Lübecker Straßenbild als Leitmotiv in den „Buddenbrooks“. In: Nordelbingen hrsg. von Olaf Klose und Ellen Redlefsen. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte, Bd. 33 (1964), S. 136 – 150.

Klaus Schröter: Thomas Mann. Rowohlts Monographie 93. Reinbek 1964.

Ernest M. Wolf: ‚Offenbar nichts weiter als eine Parodie …‘: Zur Kontroverse um die ‚Rabenaas-Strophe‘ und um die Satire des protestantischen Christentums in Thomas Manns Buddenbrooks. In: Blätter der Thomas Mann Gesellschaft Zürich Nr. 24 (1991 / 92), S. 21 – 30.

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