Gott in der Stadt
Perspektiven evangelischer Kirche in der Stadt, EKD-Texte 93, 2007
II. Religion
Nach Meinung mancher Stadthistoriker (Paul Wheatley) hatte Gott bei der Verteilung städtischen Bodens Vorrang vor Königen und Kaufleuten. Fast immer findet man, wenn man die charakteristische Stadtgestalt bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt, ein rituelles Zentrum. Und so sind Städte seit ihrer Erfindung immer auch religionsproduktive Orte gewesen.
In ihnen finden Religionsstifter ihre erste Anhängerschaft, in ihnen vervielfältigen sich Weltanschauungen und Deutungssysteme, und dort existieren die Nischen, in denen auch obskure Wahrheitsansprüche einen Nährboden finden können. In Städten entsteht aus dem Gemisch von Kulturen und Nationen, von neuen Überzeugungen und alten Traditionen das Material für große Weltdeutungen.
Diese Ressource ist niemals versiegt. Allerdings wurde unter dem Stichwort der Säkularisierung den Religionen in Europa ihre traditionell öffentliche Wirkung bestritten. Von medialem Großaufgebot begleitet, sind die Fragen nach Gott und die Sehnsucht nach Bedeutung nun in die öffentliche Agenda zurückgekehrt.
In besonderer Weise gilt dieses für die Städte. In ihnen werden die Auseinandersetzungen über Religionen mit besonderer Leidenschaft geführt, und religiöse Entwicklungen zeigen sich dort als erste. Wo religiöse Weltdeutungen konkurrieren und sich Sinndeutungen unterschiedlichster Herkunft in ihren kulturellen Ausprägungen tagtäglich begegnen, entstehen Abgrenzungen, Vorwürfe und Vergleiche. Aber auch Toleranz und Dialogbereitschaft werden eingeübt und führen zur Praxis eines gelebten Miteinanders und einer Vergewisserung der je eigenen religiösen Identität.
Die Stadt bleibt als Spielraum religiöser Entwicklungen einzigartig und ist der Ort, an dem diese Entwicklungen am deutlichsten in den Fokus rücken.
1. Wiederkehr der Religion?
1.1. Stadt ohne Gott?
Aus den im ersten Teil skizzierten Wahrnehmungen und Entwicklungen der Stadt ergeben sich Folgerungen für das Handeln der Kirche. Die sich vollziehenden Veränderungen verlangen von ihr neue Strategien. Die allerdings müssen die Fragestellungen der bisherigen theologischen Reflektionen von kirchlichem Handeln in der Stadt aufnehmen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte eine intensive theologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Stadt ein, die in zwei Phasen verlief. Für beide Phasen bieten die Arbeiten von Harvey Cox ein anschauliches Beispiel. Die erste Phase diagnostizierte den Abschied der traditionellen Religion aus der säkularisierten Stadt - die zweite proklamierte die Rückkehr der Religion in die säkulare Stadt [24].
1965 erschien das Buch: “The Secular City. Secularization and Urbanisation in Theological Perspective“, von Harvey Cox. Die deutsche Übersetzung bekam den programmatischen Titel: “Stadt ohne Gott?” [25] In der Umbruchssituation der 60er Jahre verknüpfte Cox die Fragen der Säkularisierung mit denen der Urbanisierung. „Säkularisierung“, das Mündig-Werden des Menschen, ist nach Cox „die legitime Konsequenz des Einbruchs des biblischen Glaubens in die Geschichte“. Sie vollzieht sich durch die Entzauberung der Natur als Konsequenz des Schöpfungsglaubens, durch die Entsakralisierung der Politik als Konsequenz des Glaubens an den befreienden Gott (Exodustradition) und durch die Entheiligung der Werte als Konsequenz des Sinaibundes. Daraus ergibt sich nach Cox für Kirche und Theologie die Notwendigkeit, sich auf die weltliche Welt einzulassen und von Gott säkular zu reden.
Diese Vorgänge vollziehen sich primär in einem Kontext, den Cox „Urbanisierung“ nennt. Damit meint er nicht nur den Prozess der Verstädterung, sondern zwei damit verbundene Charakteristika des Zusammenlebens: die Anonymität und die Mobilität. Beides sind typische Merkmale des urbanen Stils, die den großstädtischen Menschen durch und durch prägen. Daraus folgt ein Pragmatismus, der primär am Funktionieren interessiert ist und eine Profanität, die sich nur am Innerweltlichen interessiert zeigt. Kirche und Theologie standen damit vor einer völlig neuen Situation: „Die Heraufkunft einer urbanen Zivilisation und der Zusammenbruch der traditionellen Religion sind die beiden bestimmenden Kennzeichnen unserer Zeit.“
Zwanzig Jahre später schrieb Cox das Buch „Religion in the Secular City“ (1983) und konstatierte darin die Rückkehr der Religion in die säkulare Stadt. Das Symbol dieser Rückkehr ist für Cox die Landung des 1979 gerade neu gewählten Papstes Johannes Paul II. in Mexiko-Stadt. Das Oberhaupt der größten christlichen Kirche besucht die größte Stadt, die faktisch und verfassungsmäßig säkularisiert ist. Den neuerlichen Einbruch der Religion in die Stadt sieht Cox auf dem amerikanischen Kontinent in zwei dramatischen Entwicklungen: im Einbruch des durch die elektronischen Medien gestützten religiös-politischen Fundamentalismus in Nordamerika und in der Dominanz der kirchlichen Basisgemeinschaften und der Befreiungstheologie in Mittel- und Südamerika.
1.2. Liturgie und Diakonie
Die von Cox formulierte Spannung lässt sich an den zwei Grundfunktionen von Kirche, Liturgie und Diakonie verdeutlichen. Beide weisen Bewegungen zwischen Selbstvergewisserung und Entäußerung auf. Kirche ist in unterschiedlicher Art und Weise in der Stadt. Sie ist - in ganz säkularen Formen, durchaus vergleichbar etwa mit anderen Anbietern auf dem Markt der Pflegedienstleistungen - „Kirche für andere“, und sie repräsentiert mit ihren uralten Wahrheiten und Riten das „ganz Andere“. Mit den Kirchengebäuden als Orten der Liturgie und Freistätten von jeglicher Zweckrationalität wird Gott als Geheimnis der Welt gefeiert. Mit ihrer Diakonie stellt sich die Kirche individuell und institutionell der Not der Stadt. An den sozialen Einrichtungen der Stadt hat die Kirche oft überproportionalen Anteil. Das gesamte Sozialgefüge würde zusammenbrechen, wenn die Kirchen von heute auf morgen gezwungen wären, aus diesem sozialen Netz auszusteigen. Als Leistung der Kirchen wird diese enorme diakonische Anstrengung allerdings in der Öffentlichkeit oft nicht wahrgenommen.
Manchmal wächst - wie in den Vesperkirchen einiger Großstädte (wie z.B. in Stuttgart), in denen Bedürftige gespeist und beherbergt werden - schon jetzt beides zusammen. Trotz zurückgehender finanzieller und personeller Ressourcen muss es der Kirche wieder stärker gelingen, Liturgie und Diakonie in ihrem gegenseitigen Verweischarakter deutlich zu machen. Beide gemeinsam machen die Mission der Kirche in der Stadt aus.
Die Kirchen leisten einen einzigartigen Beitrag zur Entwicklung einer Stadtkultur, wenn sie sich für die Wiedergewinnung und Gestaltung von Räumen - im lokalen, geistigen und geistlichen Sinne - einsetzen, in denen Menschen in der Stadt mit Leib und Seele leben können [26].
In jedem Fall „braucht die moderne Stadt Kirchen, die sich nicht aus der Öffentlichkeit herausstehlen“ [27], sondern sich ihrer öffentlichen Verantwortung als Teil der Stadtgesellschaft und als ihr Gegenüber bewusst sind.
2. Religiöse Entwicklungen in neuem Gewand
2.1. Neue Kathedralen
Die gebaute Stadt selbst hat über Jahrhunderte den Kirchen eine zentrale Bedeutung zugeschrieben. Sie waren in der Regel die höchsten, teuersten und anspruchsvollsten Bauzeugnisse einer Stadt und standen pars pro toto, für die ganze Stadt. Diese Bedeutungszuschreibung hat sich mit der Errichtung von großartigen Profanbauten in Jahrhunderten über die Kirchen hinweg ausgeweitet und erhält in den letzten Jahren erneut eine besondere Relevanz.
Der Versuch, den gebauten Stadtkörper aufzuwerten und mit besonderen Gebäuden eine symbolische Repräsentanz für die Gesamtstadt zu errichten, ist geradezu eine Modeerscheinung geworden.
So entsteht mit dem Neubau oder der Wiedererrichtung von herausragenden Bauten eine architektonische Symbolisierung der Stadtidentität, die nicht nur nach innen wirkt und eine Bindungskraft für die Bewohner mit ihrer Stadt auslöst, sondern die auch nach außen im Wettstreit der Städte um das gewagteste, höchste oder bedeutendste Gebäude im Land eine Rolle spielt.
Die Dresdner Frauenkirche kann aktuell als besonderes Beispiel einer solchen - die Stadtidentität formenden - baulichen Repräsentanz gewertet werden. Die Wiederherstellung der Stadtansicht und die Rekonstruktion des berühmtesten protestantischen Kirchbaus der Barockzeit haben einen außergewöhnlichen Effekt für die ganze Stadt erzeugt. Tourismusströme werden angezogen und große Teile der Stadtbevölkerung sehen mit Stolz auf diesen Kirchenbau. Dabei ist die Funktion des Wiederaufbaus der Dresdner Frauenkirche in einer Stadt mit ca. 20% Kirchenmitgliedschaft und einer über 70jährigen antikirchlichen Tradition ein besonderes Beispiel. Hier ist nicht nur ein historisches Bauzeugnis mit hohem Symbolwert wiedererrichtet worden, sondern auch in einer weitgehend nichtchristlich geprägten Stadtgesellschaft ein Kirchengebäude zum neuen Imageträger der Stadt geworden. Damit verbunden sind Anfragen an die Rolle der Kirche und die Bedeutung von christlicher Religion in der Stadt Dresden.
Stadtwahrzeichen wie die Dresdner Frauenkirche, der Kölner Dom oder der Hamburger Michel waren in der Regel jahrhundertealte architektonische Signaturen, die neben ihrer bauhistorischen Qualität zugleich für das Alter einer Stadt standen. Vorrangig handelte es sich dabei um Kirchenräume, die zur Zeit ihrer Errichtung das höchste Maß an baulichen und künstlerischen Fertigkeiten verlangten. Diese symbolische Funktion ausgewählter Bauzeugnisse in den Städten ist bereits im 19. Jahrhundert von den Kirchenbauten auf die Bahnhöfe als Sinnbilder einer technischen Revolution übergegangen; sie wurden die neuen Kathedralen der sich rasant industrialisierenden Städte. Nach einer Phase in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Großunternehmen wie Banken meist vergeblich versuchten, durch die schiere Bauhöhe ihrer Verwaltungszentren in diesen Wettstreit einzutreten, und in den Städten der DDR ein obligatorischer Turm die Stadtmitte anstelle der Kirchen markieren sollte (Jena, Berlin), bemüht man sich nun seit einigen Jahren mit außergewöhnlichen architektonischen Bauten, die vorrangig kulturelle Funktionen haben, neue Wahrzeichen in den Städten zu errichten. Besondere beliebte Objekte dafür sind Museumsbauten. Ob in Bilbao oder Linz, in London oder Paris - ausgewählte Stararchitekten entwerfen moderne Kathedralen, in denen oftmals das kulturelle Erbe und die künstlerische Gegenwartssprache zugleich zur Anschauung kommen. Es entstehen erhabene Räume, die für künstlerische Inszenierungen zur Verfügung stehen und Millionen Besucher aus aller Welt anziehen. Erwähnenswert ist dabei, dass nicht nur Neubauten die Funktion übernehmen, für die Stadt als ganze zu stehen, sondern gerade auch Konversionsprojekte die Verbindung von historischer Stadt und einer modernen Reformulierung der Stadtidee leisten sollen. Ob ein historischer Hafenspeicher zum Ankerplatz eines neuen Konzertsaales werden soll, wie in Hamburg mit der geplanten Elbphilharmonie, oder ein altes Kraftwerk zur Kunstkathedrale wird, wie Tate Modern in London, die neuen Wahrzeichen stehen auf dem Grund der alten Stadt und sind damit auch Zeugnisse der Erinnerung an vergangene Stadtepochen. Je spektakulärer dabei die Architektursprache ist, umso größer ist die garantierte Aufmerksamkeit und damit verbunden die zwangsläufige Zuschreibung von „Bedeutung“; einer Bedeutung, die in der gebauten Stadt in vergangenen Jahrhunderten fast exklusiv kirchlichen Großbauten zugeschrieben worden ist. Sie waren - und sind es in vielen Städten bis heute - die prominentesten Teile der gebauten Stadt, die mit dem Anspruch auftreten, für einen Gesamtzusammenhang der Stadtgesellschaft zu stehen.
2.2. Religiöse „Erregungsgemeinschaften“ und die Rolle der Medien
Neben diesen Zeugnissen in der gebauten Umwelt der Stadt zeigt sich mit der zunehmenden Attraktivität von Massenveranstaltungen mit religiösem Inhalt ein Phänomen, das Religion in den Fokus rückt. Die große Anziehungskraft religiöser Inszenierungen für Hunderttausende ist eine Entwicklung der jüngsten Zeit. Ob der Weltjugendtag in Köln oder die evangelischen Kirchentage mit ihren Eröffnungsveranstaltungen, gerade jüngere Menschen lassen sich von diesen „Events“ faszinieren und anziehen. Dabei zeigen soziologische Untersuchungen, dass zwar der Ausgangspunkt ein religiöses Ereignis darstellt, aber eine zusätzliche Attraktivitätssteigerung durch die große Anzahl der anwesenden Jugendlichen selbst entsteht. Durch mediale Ankündigungen und die Vorhersage von hunderttausendfacher Teilnahme entsteht eine Sogwirkung, die zu den unglaublich großen Teilnahmezahlen führt. Nicht das Ereignis selbst steht dann im Mittelpunkt, es ist vielmehr nur der Auslöser für eine gigantische Pilgerfahrt, die ihren Sinn teilweise in der Gemeinschaft der großen Menge erfährt. Das entwertet nicht den religiösen Ursprung, aber mahnt dazu, in solchen Massenveranstaltungen nicht allein das entscheidende Indiz für eine Wiederkehr der Religion zu sehen.
In einer solchen Perspektive finden sich zahlreiche Analogien zu kulturellen oder sportlichen Veranstaltungen, die Ausgangspunkte für eine massenhafte Begeisterung sind. Am anschaulichsten war für diese sich verstärkende Bewegung einer kollektiven Begeisterung für einen sportlichen Wettkampf sicherlich die Atmosphäre während der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland im Sommer 2006. Weit davon entfernt, diese Begeisterung als religiösen Enthusiasmus zu interpretieren, muss doch festgestellt werden, dass - rein funktional betrachtet - bestimmte Gefühlslagen und Handlungsweisen breiter Bevölkerungskreise Parallelen zu religiösen Ritualen und Motiven aufweisen.
2.3. Faszination alter Traditionen und Räume
Sehr viel deutlicher allerdings und den religiösen Traditionen unserer Kultur enger verpflichtet sind Veranstaltungen, die auf alte Räume neues Licht werfen und zu ungewohnten Zeiten oder mit besonderen Angeboten auf christliche Inhalte verweisen.
„Die (lange) Nacht der Kirchen“, die sich inzwischen als typische großstädtische Aktion in vielen deutschen Städten etabliert hat, ist so ein außergewöhnliches Angebot, das eine überraschend große und nachhaltige Resonanz erhält. Dabei kombinieren die Nächte der Kirchen eine ungewöhnliche Veranstaltungszeit mit der Attraktivität der Kirchenräume. Zigtausende machen sich auf den Weg, um sich von Musik oder Theater, Lesungen oder Gottesdiensten faszinieren zu lassen. Die Kirchenräume, die lange Jahre in den Städten ausschließlich als gottesdienstliche Orte wahrgenommen wurden und als Kulturorte nur eine Sache für Eingeweihte waren, öffnen sich für ungewohnte Begegnungen mit moderner Kunst, experimenteller Musik oder einem Diskurs zu Zukunftsfragen der Stadt und finden ein großes interessiertes Publikum.
Ob kirchliche Großveranstaltungen oder religiöse Kleinkunst, beide teilen eine typisch städtische Voraussetzung: Mobilität. Die Wahrnehmung der religiösen Interessen und die Befriedigung der Sehnsucht nach Sinn bedeutet ein „Sich-auf-den-Weg-machen“. Interessierte nehmen lange Wege in Kauf, um zu der Kirche ihrer Wahl oder dem religiösen Ort ihres Interesses zu gelangen. So wachsen die Personalgemeinden in den Städten, während teilweise zugleich die klassischen Parochien schrumpfen. Diese innerstädtische religiöse Pilgerschaft ist ein neues Phänomen und relativiert die Standorttreue gegenüber der klassischen Parochie [28]. Diese neuartige religiöse Mobilität hat auf der anderen Seite zu einem verstärkten Angebot an christlichen, aber auch interreligiösen Räumen an den Transitpunkten unserer Existenz geführt. Andachtsräume („Räume der Stille“) in Krankenhäusern und auf Flughäfen, auf Bahnhöfen, in Seemannsheimen und an Autobahnen sind inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Sie sind, genauso wie Kapellen in Fußballstadien und die Errichtung von Pilgerwegen, eine adäquate Antwort auf ein religiöses Interesse, das sich nicht an den klassischen Zeiten und Orten orientiert, sondern das mobil ist und sich „bei Gelegenheit“ formuliert.
Die Aufnahme religiöser, oft auch explizit christlicher Themen im städtischen säkularen Kulturbetrieb ist ein Phänomen, das den gleichen Trend beschreibt. Sinnfragen werden offen als religiöse Fragen formuliert und in zeitgenössischen Theaterstücken („Zehn Gebote“, nach Krzysztof Kieslowski oder „Der Bus - das Zeug einer Heiligen“ von Lukas Bärfuss) inszeniert oder in Vortragsreihen thematisiert.
Kommerziell wird diese Tendenz auch in der Literatur genutzt. Die Auseinandersetzung mit religiösen Themen in der Literatur ist so umfassend wie niemals zuvor. In allen Genres wird über religiöse Motive und Traditionen geschrieben und Sinnfragen werden in allen möglichen Deutungssystemen beantwortet. Der esoterische Büchermarkt hat sich viele Jahre ausgeweitet, aber auch belletristische Literatur, fiktional und populär zum Thema Religion, findet reißenden Absatz. Religion ist ein Thema auf dem Büchermarkt und erreicht in spannender Aufmachung, sei sie auch noch so populistisch konstruiert, Auflagenrekorde (Dan Brown, Sakrileg).
In der akademischen Welt hat die Beschäftigung mit Religion schon seit über 20 Jahren neues Interesse gefunden. „Nie zuvor waren so viele Intellektuelle damit beschäftigt, Religion zu deuten“ [29]. Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Religion ist dabei ihre „kulturpraktische Stärke“, die ihr seit Jahren - allerdings vor allem außerhalb Europas - eine zunehmende Bedeutung verleiht. Auch wenn sich dieser Trend nicht in einer Stärkung der Theologie an deutschen Universitäten niedergeschlagen hat, ist er doch - spätestens seit dem 11. September 2001 - in Seminarangeboten, Diskussionsveranstaltungen und Vorträgen öffentlich sichtbar geworden. Das Thema Religion ist damit nicht nur in Inszenierungen und die Festivalisierung städtischer Kultur, sondern auch in den wissenschaftlichen und literarischen Diskurs zurückgekehrt.
3. Was ist Religion?
Sind nun die neuen städtischen Wahrzeichen die Nachfolger der Kathedralen und ist ein Fußballspiel ein religiöses Ereignis? Hinter dieser Frage steht die Suche nach einer Definition von Religion. Erst mit einer solchen Begriffsbestimmung kann darüber entschieden werden, wie weit die neue Aufmerksamkeit für die Religion reicht und ob vielleicht sogar von einer „Wiederkehr der Religion“ gesprochen werden kann.
Doch müssen zuvor einige Konnotationen des Begriffes „Wiederkehr“ erläutert werden [30]. Denn zuerst einmal unterstellt die Rede von der Wiederkehr, dass es so etwas wie eine religionslose Zeit oder zumindest ein allgemeines Abnehmen von Religion in der Vergangenheit gegeben hätte. Was wiederkehrt, muss einmal fort gewesen sein. Das ist nur eingeschränkt richtig. Global gesehen, kann von einem Rückzug der Religion in den vergangenen Jahrzehnten keine Rede sein. Alle großen Religionen wachsen im weltweiten Kontext [31]. Die Ausbreitung des Islam und des Christentums hält in weltweiter Perspektive unvermindert an. In einigen Regionen der Welt jedoch gibt es einen Rückgang organisierter Religiosität. Dazu gehört Westeuropa, aber auch Australien und seit jüngster Zeit einige Länder Osteuropas. Die Rede von einem Verschwinden der Religion im Angesicht der Säkularisierung ist somit nicht nur eine eurozentrische, sondern in Teilen sogar typisch deutsche Betrachtung. Eine Beschreibung, die allgemein die westliche Welt in den Fokus nimmt und als Beispiel nutzt, um den Zusammenhang zwischen Modernisierung und Säkularisierung zu deuten, übersieht zudem die besondere religiöse Entwicklung in den USA. Es zeigt sich dort, dass die Annahme, Modernisierung führe grundsätzlich zum Rückzug von Religionen, ihre Plausibilität verloren hat [32]. Ein Abnehmen von Religion, so scheint es, bleibt damit auf westeuropäische Länder beschränkt, und diese westeuropäische Entwicklung ist nicht von allgemeiner Gültigkeit, sondern weltweit eher die Ausnahme. Allein deswegen darf der jetzige Zustand nicht einfach auf die Zukunft hochgerechnet werden.
Zum Zweiten muss gefragt werden, ob das Reden von einer Wiederkehr nicht suggeriert, es habe so etwas wie eine säkulare Phase in den westeuropäischen Kulturen gegeben, die sich nun dem Ende zuneigt. In einer Positionsbestimmung gegen Jürgen Habermas hat dagegen Hans Joas reklamiert, es ginge nicht um die Rückkehr der Religion oder das Ende eines säkularen Zeitalters, sondern um einen Bewusstseinswandel in der Beurteilung von Religion. Habermas reflektiert die Rückkehr des Religiösen unter dem Begriff „postsäkular“. Postsäkular ist für ihn eine Gesellschaft, „die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Gesellschaft einstellt“ [33]. Gerade in diesem Sinne aber kann von einer Wiederkehr der Religion nicht gesprochen werden, weil den grundsätzlichen Zweifel am Fortbestand religiöser Gemeinschaften und religiöser Sinndeutungen immer nur eine gesellschaftliche Minderheit vermutete oder sich wünschte.
Wenn dennoch die beschriebenen Phänomene eine neue Qualität und Quantität von Aufmerksamkeit auf sich ziehen und einen Trend markieren, der vielfach als religiös benannt wird, muss die Bedeutung des Begriffes geschärft werden. Denn der Religionsbegriff ist zu vieldeutig und unscharf, um all die beschriebenen Phänomene einer religiösen Revitalisierung unter einem Begriff zu subsumieren. Gilt dem einen schon die mediale Aufmerksamkeit für einige umfangreich kommunizierte Großevents als ausreichender Indikator für die Rückkehr der Religion, so sehen andere die Zeichen dafür in sinkenden Kirchenaustrittszahlen und steigender Gottesdienstfrequenz zu außergewöhnlichen Anlässen.
Alle diese Perspektiven aber leiden an einem diffusen Begriff von Religion, der mal die institutionalisierte kirchliche Form gelebten Glaubens meint, ein anderes Mal alle möglichen kulturellen Phänomene umfasst, die einen transzendenten Verweis erlauben.
Ist Religion nur das, was sich in den etablierten Begrifflichkeiten und der bekannten Systematik der jüdisch-christlichen Theologiegeschichte verorten lässt? Fundorte für religiöse Sehnsüchte, Chiffren und Rituale kann man doch, je nach den kategorialen Voraussetzungen, an allen Orten oder eben (fast) nur in den traditionellen Religionsgemeinschaften finden.
Ist nicht, wie U. Körtner [34] bemerkt, mindestens mit dem gleichen Recht wie von einer neuen Nachfrage nach Religion gesprochen wird, auch von einem „massenhaften Gewohnheitsatheismus“ zu reden, der diesen Megatrend Religion in Frage stellt? Dieser Gewohnheitsatheismus lebt dabei ganz selbstverständlich ohne Gott und erfährt diese Lebensform keineswegs als defizitär. Die große und ständig weiter anwachsende Gruppe der Konfessionslosen besonders in den Städten in Deutschland stellt die Behauptung, eine große Wiederkehr der Religion deute sich an, sofort wieder in Frage. Angesichts von fast 75% Konfessionslosen in den neuen Bundesländern und einer weiteren Zunahme in den Großstädten der alten Bundesländer kann eine Rückkehr von Religion nicht eine allgemeine soziokulturelle Bewegung meinen, sondern nur eine neue Aufmerksamkeit für religiöse Fragen und Phänomene in der Öffentlichkeit.
Angesichts dieser Vielschichtigkeit in der Deutung der Phänomene wird eine Definition des Religionsbegriffs, die allgemeine Gültigkeit beansprucht, immer umstritten bleiben müssen [35].
Obwohl der Religionsbegriff also extrem vieldeutig bleibt, kann man zwei Hauptlinien unterscheiden, die bei den Versuchen, ihn zu definieren, immer wieder auftauchen: eine funktionale und eine substantielle.
3.1. Der funktionale Religionsbegriff
Eine rein funktionale Definition von Religion beschreibt, was Religion leistet. Welche Aufgaben löst Religion, auf welche Fragen antwortet sie? In einer strengen funktionalen Betrachtung steht Religion dann neben anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie der Wissenschaft, Erziehung, Politik oder der Wirtschaft, und übernimmt für eine Gesellschaft und für das Individuum bestimmte Funktionen. Eine der gesellschaftlichen Funktionen von Religion, die trotz der Strittigkeit eines allgemein akzeptierten Religionsbegriffs Konsens findet, ist beispielsweise ihre Fähigkeit zur Integration von Gesellschaften: „Religion stellt in ihren symbolischen Sprachen Mittel dazu bereit, die innere Einheit sozialer Gruppen zu befördern“ [36].Ein solch funktionaler Religionsbegriff beschreibt die Außenseite der Religion. Er nutzt analytische Instrumente, um bestimmte Wirkweisen von Religionen nachzuzeichnen und ursächlich zu begründen. Ein solcher Religionsbegriff müht sich um Objektivität und Vergleichbarkeit, bleibt aber gleichwohl defizitär, weil er sich dem Phänomen Religion als einem rational voll erfassbaren, gleichsam objektiven Gegenstand nähert.
3.2. Der substanzielle Religionsbegriff
Der substanzielle Religionsbegriff beschreibt die Substanz von Religion. Eine solche Definition geht davon aus, dass alle Nützlichkeitserwägungen über Religion, die Untersuchung ihrer Geschichte und ihrer Wirkungen noch nichts über die Bedeutung der Religion für den Gläubigen selbst aussagt. Religion hat eine Binnenperspektive religiösen Bewusstseins, die mit der Funktion von Religion nicht erfasst wird.
Niemand wird Anhänger einer Religion und beginnt zu glauben, weil man ihm die Nützlichkeit des Glaubens demonstriert hat [37]. Der substantielle Religionsbegriff fragt damit nicht nach der Nützlichkeit von Religion, sondern nach der Erfahrung des Glaubens. Diese Erfahrung in den Fokus zu nehmen heißt, religiöse Praxis lesen zu lernen. Formen des Ergriffenseins und des Gebets ebenso wie die Erfahrung heiliger Handlungen. Der Sinn von religiösen Vorstellungen, von Ritualen und Symbolen sowie irrationalen Praktiken lässt sich nicht nur ansatzweise von „außen“ erschließen. Wollte ein Religionsforscher den Glauben verstehen lernen, müsste er die Versöhnungshoffnungen und Erlösungssehnsüchte der Gläubigen ernst nehmen. Und er muss erkennen, wie den Frommen ihr Gott dazu verhilft, die Welt sinnhaft zu deuten und das fragmentarische Leben in einen schlüssigen Zusammenhang zu überführen.
Während ein funktionaler Religionsbegriff versucht, eine neutrale, beschreibende Position einzunehmen, trifft der substanzielle Begriff auf die Gültigkeits- und Exklusivitätsansprüche von Religion und hat es somit auch schnell mit kognitiven Dissonanzen zu tun.
Viele aktuelle Versuche, Religion definitorisch zu erfassen, bemühen sich um eine Verbindung der beiden Ansätze. Was Religion leistet und was sie für den einzelnen ist, lässt sich nicht voneinander trennen. Beide Aspekte gehören zusammen, um das Phänomen Religion angemessen zu beschreiben. Eine Beschreibung einer Religionsgemeinschaft nur unter dem substantiellen Religionsbegriff verliert schnell das Gefühl für die Leistungen von Religion im Alltag des Lebens, in der Gründung von Gemeinschaften und in der Stabilisierung von Werthaltungen. Wenn andererseits Wissenschaften nur noch fragen, was Religion leistet, werden die institutionellen Verkörperungen von Religion profillos und man ignoriert die Transzendenzerfahrungen der Gläubigen. Für die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft jedoch geht es immer auch entscheidend um Exklusivitätsansprüche; sonst würden sie sich selbst überflüssig machen.
Detlef Pollack, der die These von der „Wiederkehr der Religion“ in Frage stellt, hat versucht, die beiden Definitionsansätze zusammen zu fassen. Sein Ausgangspunkt ist die kritische Einschätzung, dass Religion zwar eine spezifische Antwort auf die Sinnsuche des Menschen ist, aber durchaus nicht die einzige. Das Bedürfnis, nach dem Sinn des Lebens und der Welt zu fragen und die Sehnsucht, leidvolle Erfahrungen zu deuten, sei vermutlich allen Menschen eigen. Die Antwort darauf müsse aber nicht zwangsläufig eine religiöse Antwort sein. Es sei denn, man bezeichne alles, was Menschen zur Kontingenzbewältigung nutzen, als Religion. Womit das Feld religiöser Phänomene wieder unbegrenzt wäre. Für Pollack ist es dagegen sinnvoll, nur dann von Religion zu sprechen, wenn versucht wird, die Kontingenzbewältigung mit Hilfe der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz zu erreichen, „durch Bezug auf das Unerfassbare“ [38]. Damit ist eine Kombination von funktionalem und substanziellem Religionsbegriff vorgenommen, die es erlaubt, mit dem Kriterium der Transzendenzerfahrungen Phänomene aus dem religiösen Feld auszuschließen, die allgemein sportlicher, kultureller oder anderer Natur sind und die zugleich in wesentlichen Teilen an F. Schleiermacher erinnert.
In diesem engeren Sinne seien beispielhaft zwei Phänomene beschrieben, die die These einer Wiederkehr der Religion in der deutschen Gesellschaft unterstreichen:
- Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Deutung der Welt, auf die in der Vergangenheit Religionen eine Antwort gegeben haben, werden wieder deutlicher als explizit religiöse Fragen formuliert.
- Die Zunahme religiöser Gemeinschaften von Mitgliedern mit Migrationshintergrund und ihr selbstbewusstes Auftreten verändern die religiöse Landschaft, besonders in den Städten, deutlich.
3.2.1. Suche nach Welt- und Lebensdeutungen
In der Suche nach Religion drückt sich das Unbehagen an einer Rationalität aus, die ausschließlich an einer Diesseitigkeit orientiert ist und keinen Raum für die Dimensionen religiöser und mythischer Welt- und Lebensdeutungen lässt. Dabei geht es in der Mehrheit nicht sogleich um einen hohen Grad an Verbindlichkeit oder gar den Eintritt in eine religiöse Gemeinschaft, sondern um den vorübergehenden Kontakt mit religiösen Traditionen und Räumen. Religiöse Suchbewegungen formulieren sich bei Gelegenheit, zu besonderen Anlässen, um sich dann auch wieder zurückzuziehen. Einer dieser Anlässe, an denen sich religiöse Sinnfragen artikulieren, sind Erfahrungen von erschütternder, zerstörender Gewalt in einer Gesellschaft. Zunehmend wird an solchen Erschütterungen nicht zuerst der Ruf nach politischem Handeln, sondern nach Trost und Angstbannung laut. So werden Kirchen als die Orte wiederentdeckt, die in der Erfahrung kollektiver Katastrophen Möglichkeiten zur gemeinschaftlichen Klage bereithalten. Die Andachten und Gottesdienste im Anschluss an den 11.September 2001 waren ein Zeichen dafür, dass die Kirchenräume als religiöse Ressourcen in den Städten noch im Bewusstsein vieler Menschen verankert sind. Der zunehmende Wunsch, die Erfahrung der Zerbrechlichkeit des Lebens in einer geprägten religiösen Form aufzuheben, wird erkennbar daran, dass es kaum eine Katastrophe in städtischer lokaler oder nationaler Hinsicht gibt, die nicht mit einem Gottesdienst begleitet wird. Und dabei handelt es sich nicht nur um die Bewältigung aktueller Katastrophen, sondern auch vergangene, kollektive Katastrophenerfahrungen werden - nachdem sie teilweise jahrzehntelang vergessen waren - religiös gedeutet.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Dresdner Gedenktag an die Zerstörung der Stadt, der jedes Jahr am 13. Februar mit einem ökumenischen Gottesdienst begangen wird und immer um 21.40 Uhr damit endet, dass alle Glocken der Stadt in Erinnerung an die Uhrzeit des ersten Bombenangriffs läuten. In dieser Nacht sind die diffusen religiösen Gefühle bei den unterschiedlichsten Menschen zu spüren und gleichzeitig eine selbstverständliche Akzeptanz der Kirchen als Orte, die diesem Gefühl einen Raum geben können.
Neben diesen jahrzehntelang tradierten Gedenkfeiern werden für den ständig wachsenden städtischen Festkalender ebenso wie für die öffentliche Inszenierung von Übergängen, die noch vor einer halben Generation religiös unbeachtet geblieben sind, in den Stadtkirchen neue Angebote gemacht.
Eng mit den beschriebenen Erfahrungen verbunden ist die wachsende Bedeutung von Übergangsritualen, die - niedrigschwellig angeboten - auch vermehrt nachgefragt werden. So nehmen inzwischen in den alten Bundesländern fast alle Kinder, völlig unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit oder religiösen Sozialisation bei ihrer Einschulung an einem Einschulungsgottesdienst teil. Und bei Einweihungen von Gebäuden, bei der Einführung oder Verabschiedung von Personen der Öffentlichkeit wird wieder zunehmend geistliche Begleitung angefordert.
Die globalisierte Welt, die oft scheinbar nur ökonomischen Regeln und Gesetzen folgt, verlangt - besonders in den lokalen Zusammenhängen - nach Gegenentwürfen. Auch wenn die christliche Religion keinen alternativen politischen Weg zu der gesellschaftlichen Ordnung anbieten kann, so wird sie doch weitreichend als Möglichkeit wahrgenommen, über diese Ordnung hinaus eine andere Dimension der Wirklichkeit bereit zu halten.
In dieser Perspektive spielen die Stadtkirchen eine entscheidende Rolle. Sie verfügen gleich über mehrere Alleinstellungsmerkmale. So sind diese Räume zumeist die ältesten herausgehobenen Gebäude einer Stadt und verweisen damit auf die Vergangenheit des städtischen Gemeinwesens. Sie bilden mit ihrer Ausstattung, vor allem aber mit ihren gottesdienstlichen Angeboten einen Speicher, der an die städtischen Katastrophen und Feiern vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte erinnert und sie vergegenwärtigt. Innerstädtische Kirchenräume sind oftmals der letzte große Komplex kirchlicher Repräsentanz in der Öffentlichkeit, der sich in wesentlichen Teilen über Jahrhunderte nicht verändert hat. Darin verkörpern diese Räume bis heute die vergangene Geschichte der Bewohner der Stadt und ordnen aktuelle Erfahrungen ein in die große Geschichte Gottes mit den Menschen.
Zudem sind fast alle Innenstadtkirchen öffentlich für jeden zugänglich. In der kontinuierlichen Reduktion öffentlicher Stadträume erhält diese Funktion der kirchlichen Räume eine zunehmend wichtige Bedeutung.
Die seit einigen Jahren wachsenden Besuchszahlen in den Innenstadtkirchen, nicht nur durch Touristen oder Gottesdienstbesucher, legen es nahe, die Korrespondenz zwischen Trost-, Erinnerungs- und Asylort einerseits und religiöser Suchbewegung anderseits als neu belebt zu beschreiben.
3.2.2. Religiosität in der Vielfalt der Religionen
Die traditionellen christlichen Konfessionen sind in der westeuropäischen Geschichte bis heute kulturprägend. Dabei darf die noch existierende Dominanz der beiden großen Kirchen nicht darüber hinweg täuschen, dass es einen lebendigen Prozess der Pluralisierung der religiösen Landschaft in den Großstädten gab und gibt. Nicht wenige der christlichen Religionsgemeinschaften verdanken ihre Entstehung in deutschen Städten der Zuwanderung. Fast alle fremdsprachlichen Gemeinden in Deutschland sind aus Zuwanderungen in den letzten hundert Jahren entstanden, mit einem besonderen Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Interessanterweise ist damit die religiöse Pluralisierung nicht zuerst eine Binnendifferenzierung bestehender Milieus, sondern ein Ergebnis von Migration. Die Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund verzichten nicht auf die Ausübung ihrer religiösen Traditionen, sondern suchen sich Orte, Räume und Personen, um ihren Glauben leben zu können. Und diese Vitalität zugewanderter religiöser Gemeinschaften scheint über Generationen stabil zu bleiben. Die Diasporasituation verstärkt dabei die Bindung an sprachliche, kulturelle und religiöse Ausgangspunkte, und die familiäre Weitergabe der traditionellen religiösen Vorstellungen wird intensiv gepflegt.
Ein entscheidender Punkt, der gegenwärtig die Diskussion um Religion in unserer Gesellschaft bestimmt, ist deshalb die Begegnung mit anderen Religionen, besonders mit dem Islam. Die engagierte Diskussion über den Bau einer Moschee in Köln-Ehrenfeld (2007), der Karikaturenstreit und eine daraus entstandene freiwillige Selbstzensur unter Journalisten, die Auseinandersetzung über den Papstvortrag (Regensburg 2006) und die Handreichung der EKD zu „Christen und Muslime in Deutschland“ (2006) - in einer Fülle von Konflikten wird zurzeit über Religion und ihre Bedeutung für eine Gemeinschaft und den einzelnen Gläubigen gestritten. Dabei nimmt die Mehrheitsgesellschaft von Christen im demokratischen, freiheitlichen Rechtsstaat mit Verwunderung zur Kenntnis, in welch umfassender und bestimmender Art Muslime die Konsequenzen ihres Glaubens formulieren. Aus diesen Begegnungen sind in den letzten Jahren starke Impulse zur Auseinandersetzung mit religiösen Themen ausgegangen. Eine Glaubenshaltung, die öffentlich sichtbar ist - z.B. durch die Kleidung - und die sich klar gegenüber freiheitlichen Traditionen der westeuropäischen Kultur abgrenzt und damit auch Grundwerte dieser Kultur in Frage stellt, ist eine junge Entwicklung in der religiösen Landschaft Deutschlands. Es wäre verkürzt, wenn diese neue Aufmerksamkeit allein auf den Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 zurückgeführt werden würde. Jedoch haben dieses Attentat und die folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan und im Irak der Diskussion über religiösen Fundamentalismus und über die Notwendigkeit interreligiöser Verständigung eine neue Qualität gegeben.
Dieser neue religiöse Pluralismus könnte dabei durchaus zu einer Gesamtstärkung der religiösen Landschaft führen. Was mit Blick auf aktuelle Konfliktlinien eher nach einem kritischen Dialog mit Abgrenzungen aussieht, kann zugleich zu einem Aufschwung religiöser Grundfragen führen. Und die Erfahrungen in Kircheneintrittsstellen zeigen bereits, dass die Wahrnehmung muslimischer Glaubenshaltungen bei vielen aus der Kirche Ausgetretenen wieder zu einer Auseinandersetzung mit ihrem Glauben führt und ein starkes Motiv für den Wiedereintritt bildet. Auch in der Vergangenheit haben die konfessionellen Aufspaltungen nicht zu einer Verdrängung einzelner Religionen, sondern zu einer Vitalisierung und konfessionellen Stärkung der einzelnen Religionsgemeinschaften geführt.
Dabei wird aktuell auch die kulturprägende Kraft der jüdisch-christlichen Überlieferung im öffentlichen Bewusstsein weiter geschärft werden. Die Kultur der Freiheit [39], die das Zusammenleben der Menschen in der europäischen Stadt bis heute prägt, beruht in weiten Teilen auf der Idee der Achtung des Anderen, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, dem Bemühen um einen gerechten Ausgleich zwischen arm und reich und der Verpflichtung zum konsequenten Gewaltverzicht.
Migration wird - trotz aktuell abnehmender Zahlen - schon allein aufgrund der demographischen Entwicklung ein Schlüsselthema für die Stadtentwicklung bleiben und damit die Religionsfragen virulent halten. So bleiben - voraussichtlich für Jahrzehnte - soziale Integration und interreligiöse Partnerschaft zentrale Herausforderungen für die Stadtgesellschaften.
Das war in biblischer Zeit nicht anders. Der „barmherzige Samariter“, von dem Jesus auf eine Fangfrage, wer denn „mein Nächster“ sei, erzählt (Lukas 10, 25-37), ist der ethnisch Fremde und der kultisch unreine „Andersgläubige“. Dieser Fremde wird in der Beispielerzählung des Rabbi Jesus zum Ur- und Vorbild gelebter, Grenzen überwindender Nächstenliebe. Hier wird der jüdische Primat gelebter Praxis vor dem theoretischen Diskurs anschaulich, und zugleich das Gebot der Nächstenliebe radikal entgrenzt. Aus einer solchen Entgrenzung kann eine Kultur des Miteinanders der Fremden in der Stadt entstehen.