Gott in der Stadt
Perspektiven evangelischer Kirche in der Stadt, EKD-Texte 93, 2007
Vorwort
„Und du sollst fröhlich sein vor dem HERRN, deinem Gott, du und dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd und der Levit, der in deiner Stadt lebt, der Fremdling, die Waise und die Witwe, die in deiner Mitte sind, an der Stätte, die der HERR, dein Gott, erwählen wird, dass sein Name da wohne.“
(5.Mose 16,11)
„Stadtluft macht frei - Stadtluft macht Angst“ - die Spannung zwischen diesen beiden Sätzen kennzeichnet ein auch heute weit verbreitetes Lebensgefühl in der Stadt. Einer faszinierenden Vielfalt von Lebenswelten auf engstem Raum stehen sichtbare und unsichtbare Spaltungen gegenüber: Arm und Reich, Fremd und Heimisch, Religiös und Atheistisch begegnen unmittelbar nebeneinander. Große gesellschaftliche Initiativen und eindrückliche humane Gesten stehen unvermittelt neben Vernachlässigung und Brutalität, Anonymität und Einsamkeit. Neue soziale Verbindungen und Netzwerke stoßen sich mit der Auflösung sozialer, nachbarschaftlicher und solidarischer Strukturen.
Spannungsvoll ist auch die Diskussion um die Religion in der Stadt. Sie wurde in den vergangenen Jahrzehnten vornehmlich von dem Begriff der säkularen Stadt bestimmt. Urbanität wurde zu einem Synonym für Säkularisierung und Entkirchlichung. „Stadt ohne Gott?“ (Original: The secular City) - mit diesem Titel gab der nordamerikanische Theologe Harvey Cox im Jahr 1966 für diese Betrachtungsweise den Ton an. Inzwischen aber gilt die These vom fortschreitenden Verfall der Religion in der Moderne und damit auch in den Städten als überholt; mit Schlagworten wie „Wiederkehr der Götter“ oder „Renaissance der Religion“ wird auf das Phänomen verwiesen, dass auch in den Städten nicht nur die Sehnsucht nach Religion wächst, sondern auch die Vielzahl ihrer Ausgestaltungen. Man fühlt sich an die Rede des Apostels Paulus auf dem Areopag in Athen erinnert: „Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt“ (Apostelgeschichte 17, 22). Auch die Chancen für die evangelische Kirche in der Stadt treten wieder verstärkt in den Blick; die profilierte Arbeit in vielen Innenstadtkirchen und die gelungene Verbindung zwischen gemeindlichen und übergemeindlichen Angeboten sind Beispiele dafür.
Mit dem hier vorgelegten Text „Gott in der Stadt“ nimmt der Rat der EKD die Debatte um die Stadt und um die neue Wahrnehmung der Religion in ihr auf. Die Studie steht in Entsprechung zu dem Text „Wandeln und gestalten. Missionarische Chancen und Aufgaben der evangelischen Kirche in ländlichen Räumen“ (EKD Texte Nr. 87). Während dort neue Herausforderungen für die kirchliche Arbeit im ländlichen Bereich behandelt werden, stehen hier die spezifischen Aufgaben und Chancen für die evangelische Kirche unter urbanen Bedingungen im Zentrum. Geleitet wird diese Studie von der Grundüberzeugung, dass die neue Aufmerksamkeit für religiöse Phänomene eine reflektierte und klare evangelische Antwort verlangt und verdient.
Die Reformschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Kirche der Freiheit. Perspektive für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ vom Juli 2006 fordert dazu auf, die gesellschaftlichen Veränderungen genau zu analysieren und sich als evangelische Kirche „selbstbewusst und aktiv auf den Wandel einzustellen“. Der vorliegende Text beschreibt deshalb nicht nur die Herausforderungen gegenwärtiger Stadtentwicklung, sondern begreift diese Situation als Chance für eine einladende und überzeugende Verkündigung des Evangeliums. Der Text bejaht dabei mit dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ die Vielfalt evangelischer Gemeindeformen und schildert, wie sie sich in der gemeinsamen Verantwortung für einen Stadtteil oder eine Stadt wechselseitig ergänzen können. Gemeinsam abgestimmtes und vielfältig profiliertes kirchliches Handeln erscheint als zukunftsweisend; der Text plädiert daher für die Entwicklung eines kirchlichen Handlungsplanes jeweils für die ganze Stadt.
In theologischer Grundlegung, Situationsanalyse und Handlungskonzeption wird so ein Rahmen beschrieben, der für Veränderungsüberlegungen am jeweiligen Ort zur Orientierung dienen kann. Deshalb ist zu wünschen, dass Kirchenvorstände und Presbyterien, Kreissynoden und Pfarrkonvente, die je auf ihre Weise Verantwortung für die Kirche in der Stadt tragen, diesen Text als Ermutigung und hilfreiche Anregung aufnehmen. Aber auch in der Fort- und Weiterbildung für haupt- und ehrenamtlich in der Kirche Tätige bietet er Anstöße und lädt zum Weiterdenken ein.
Ich danke der Ad-hoc-Kommission, die diesen Text vorbereitet hat, und ihrem Vorsitzenden, Propst Ralf Meister, sehr herzlich für ihre engagierte Arbeit und wünsche dieser Veröffentlichung eine vielfältige Resonanz.
Berlin/Hannover, im November 2007
Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland