Pro und Contra Mindestlöhne - Gerechtigkeit bei der Lohngestaltung im Niedriglohnsektor
Eine Argumentationshilfe der Kammer der EKD für soziale Ordnung, EKD-Texte 102, 2009
Pro und Contra Mindestlohn
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In diesen Zusammenhängen ist in den letzten Jahren die Forderung nach Mindestlöhnen entstanden, die staatlich festgesetzt werden sollten, um in jedem Fall ein Abrutschen der Löhne zu verhindern und eine untere Grenze einer „gerechten“ – wobei natürlich immer offen bleiben muss, was dies im Einzelnen genau bedeutet – Bezahlung zu fixieren. Ein entsprechend ruinöser Wettbewerb auf Kosten der Löhne könne, so argumentieren die Befürworter, auf diese Weise begrenzt und „Lohndrückerei“ bis zu einem gewissen Maß beseitigt werden. Von Seiten der Gewerkschaften werden deswegen 7,50 Euro als Untergrenze gefordert. Allerdings engagieren sich besonders diejenigen Gewerkschaften, die im Bereich von Dienstleistungen operieren, für diese Forderung, während sich andere, die ihren Schwerpunkt im klassisch industriellen Bereich haben, eher zurückhalten, weil sie als Folge der Einführung von staatlich geregelten Löhnen eine Schwächung der Tarifautonomie befürchten. Von Arbeitgebern werden Mindestlöhne dann für wirksam gehalten, um Wettbewerbsvorteile von Konkurrenten auf der Basis von Lohndumping zu verhindern.
Die Berechnung der Mindestlohnhöhe erfolgt in diesem Modell etwa folgendermaßen: Damit bei Vollzeiterwerbstätigkeit ein Nettoeinkommen deutlich oberhalb der Mindestsicherungsschwelle (= 680 Euro für einen Alleinstehenden) erzielt werden kann (etwa 8,50 Euro bei einer durchschnittlichen Abgabequote von 25% = Brutto ca. 1.065 Euro), müsste ein Bruttostundenlohn von 6,15 Euro erreicht werden, was dann die Lohnkosten für den Arbeitgeber bei etwa 7,40 Euro fixieren würde (nach Richard Hauser). Klar ist, dass ein Mindestlohn deutlich höher als der Regelsatz nach SGB II angesetzt sein muss, damit es einen Anreiz zum bezahlten Arbeiten gibt. Ein Mindestlohn in dieser Höhe läge zudem knapp über der Armutsgrenze. Hier wird in Anschlag gebracht, dass es zur Würde eines jeden Arbeitenden gehört, dass ein jeder vom dem, was er verdient, wenn auch auf einem bescheidenen Niveau, leben können müsste. Im Fall von 7,50 Euro könnte das für einen alleinstehenden Erwachsenen gelten, nicht jedoch dann, wenn Kinder oder ein Ehepartner mit unterhalten werden müssen.
Mindestlöhne können aber nur Individuallöhne sein. Der Mindestlohn ersetzt keine Familienleistungen; das sind steuerfinanzierte Leistungen. Um die Teilhabechancen von Kindern in einkommensschwachen Haushalten aktuell und im Blick auf ihre spätere Entwicklung zu verbessern, ist darüber hinaus ein gezielter Familienleistungsausgleich oder ein gesichertes Grundeinkommen für Kinder notwendig.
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Sowohl die evangelische Sozialethik als auch die katholische Soziallehre betonen die große Bedeutung, die die Mitarbeit in der Schöpfung Gottes für die Menschen hat und stellen zugleich die Verpflichtung zur Arbeit heraus. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert (1. Tim 5,18). Von der Würde der Arbeitenden her gedacht, ist prinzipiell eine Abhängigkeit von staatlichen Transfereinkommen nur vorübergehend in Kauf zu nehmen. Allerdings muss hier einschränkend darauf hingewiesen werden, dass die Tatsache eines möglichen Transferbezuges selbst bei Löhnen in Höhe von bis zu 15 Euro bei entsprechender Familiensituation kaum als diskriminierend angesehen werden kann. Auf jeden Fall ist aber daran fest zuhalten, dass die sozialethisch geforderte Integration in Arbeit der Menschen im Interesse der Sicherung ihrer Teilhabe nicht die Übernahme jeder beliebigen Tätigkeit zu allen möglichen Bedingungen bedeuten kann, sondern Arbeitsbedingungen und Entlohnung allgemein anerkannten Maßstäben guter Arbeit entsprechen müssen.
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In einigen Branchen wie im Baugewerbe oder in der Gebäudereinigung ist es gelungen, durch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung von vorhandenen Tarifabschlüssen zu branchenbezogenen Mindestlöhnen zu kommen. Auf diese Weise konnte ein unterbietender Wettbewerb verhindert werden. Die Frage, ob es darüber hinaus einen generellen Mindestlohn für alle Bereiche der Wirtschaft geben soll, ist umstritten. Seine Befürworter haben vor allem das Argument auf ihrer Seite, dass damit einem Abrutschen der Löhne gewehrt werden könnte, was insbesondere in den Bereichen verbreitet ist, wo staatliches „Aufstocken“ einen Mindest-Nettolohn garantiert und extrem niedrige Brutto-Löhne zulässt.
Zudem wäre – so wird argumentiert – mit dem Mindestlohn ein verlässlicher unterer Bezugspunkt fixiert, der die Lohnfindung im Niedriglohnbereich pragmatisch gesehen erheblich erleichtern würde. Ein Vorteil könnte zudem sein, dass die Lohngestaltung in den Unternehmen auf diese Weise von den betreffenden Arbeitnehmern insgesamt als fair akzeptiert werden kann. Ein Abrutschen in Einzelfällen kann die gesamte Tarifautonomie delegitimieren – insbesondere dann, wenn dies mit dem Anschein des Missbrauchs von Sozialleistungen einhergeht. Dem kann auch eine große Zahl von Arbeitgebern durchaus etwas abgewinnen – allerdings am meisten diejenigen, die schon bisher aufgrund von tariflichen Bindungen höhere Löhne zahlen. Zudem können insbesondere bei branchenbezogenen Mindestlöhnen auch Motive des Ausschaltens von Wettbewerbern eine Rolle spielen.
Die Befürworter können zudem auf durchaus erfolgreiche Praktiken in den meisten europäischen Ländern verweisen. Insgesamt 20 der 27 EU-Mitgliedsländer haben einen Mindestlohn. In keinem Fall konnte bestätigt werden, dass die Einführung dieses Instruments zum Wegfall von Arbeitsplätzen geführt hat. Allerdings machen diese Beispiele auch deutlich, dass Mindestlöhne allein keineswegs ein Mittel gegen Armutsentwicklungen sind: Einige europäische Länder verfügen zwar über Mindestlöhne, auch oberhalb dessen, was in Deutschland diskutiert wird, weisen aber höhere Armutsraten auf als Deutschland.
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Gegen die Einführung eines Mindestlohnes steht die verbreitete Befürchtung, dass er zum Wegfall von Arbeitsplätzen in weniger produktiven Bereichen führt – insbesondere im Osten Deutschlands. So haben die Präsidenten und Direktoren der großen deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute (DIW/IZA, HWWI, IfO, ifw, IW Köln und RWI) im März 2008 für den Fall einer Einführung eines Mindestlohnes in Höhe von 7,50 Euro einen Wegfall von etwa 1 Mio Arbeitsplätzen prognostiziert. Andere Einschätzungen, die im Wesentlichen neutrale Effekte erwarten, lassen sich allerdings ebenso finden. Auch die Befürchtung, dass in einigen Bereichen generell nur noch der Mindestlohn gezahlt bzw. refinanziert werden würde, wird geäußert. Dies gilt auch für die Pflegebranche, die von der Refinanzierung der Pflegekassen abhängig ist. Eine weitere Folge könnte das vermehrte Ausweichen vieler Tätigkeiten in den Bereich der Schwarzarbeit sein. Dienstleistungen in Haushalt, Handwerk und Pflege werden schon jetzt in hohem Maße informell erbracht. Auch grenzüberschreitende Angebote spielen dabei eine große Rolle. Um sie zu kontrollieren, könnte allerdings die Einführung eines gesetzlichen, branchenspezifischen Mindestlohns nach dem Entsendegesetz hilfreich sein.
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Ein wichtiges Gegenargument gegen die Einführung von Mindestlöhnen in Höhe von 7,50 Euro oder darüber ist, dass dadurch der Einstieg in Arbeit für bestimmte Gruppen mit schwacher Beschäftigungsfähigkeit erschwert und möglicherweise entsprechende Arbeitsplätze vernichtet werden. Dadurch wären aber gerade diejenigen auf dem Arbeitsmarkt, die die geringsten Chancen auf Arbeit haben, benachteiligt, während ihnen die Aufstockung Arbeit und ein ausreichendes Einkommen ermöglicht. Wer jahrelang arbeitslos war, noch nie gearbeitet hat oder ohne Ausbildung ist, wird möglicherweise zu einem Mindestlohn in dieser Höhe nicht beschäftigt werden; eine Aufstockungslösung könnte ihm aber helfen. Dies betrifft insbesondere den Dienstleistungssektor. Dagegen kann eingewendet werden, dass auf diese Weise besonders schlechte und unwürdige Arbeitsplätze wegfallen würden, was hingenommen werden könnte, weil sich so die Situation insgesamt verbessern würde. Da jedoch aus der Armutsforschung bekannt ist, welch große Bedeutung eine bezahlte Beschäftigung für die Stabilisierung des Selbstwertgefühls hat, bleibt diese Argumentation unbefriedigend. Erfahrungen mit Mindestlöhnen in Großbritannien zeigen, dass dabei durchaus flexible Regelungen mit niedrigeren Einstiegslöhnen und Staffelungen möglich sind.
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Ein anderes Gegenargument ist die Tatsache, dass die Einführung von Mindestlöhnen zwar in einigen Bereichen zu höheren Auszahlungen durch die Arbeitgeber führen würde – sich aber dadurch, dass für die betreffenden Arbeitnehmer im Gegenzug anteilige staatliche Transferleistungen wegfallen würden, in der Summe gar nichts ändern würde. Falls also die Betreffenden von Armut bedroht sein sollten, wären sie es auch nach der Einführung der Mindestlöhne. Dies hängt allerdings wesentlich von der Größe der Familie ab und gilt insbesondere für Nicht-Alleinstehende. Deren Teilhabesituation würde sich folglich rein materiell nicht verbessern – die Folgen für das Selbstwertgefühl der Menschen können jedoch beträchtlich sein. Um allein eine materielle Besserstellung zu erreichen, sind Mindestlöhne für sich genommen folglich kein ausreichendes Instrument.