Pro und Contra Mindestlöhne - Gerechtigkeit bei der Lohngestaltung im Niedriglohnsektor
Eine Argumentationshilfe der Kammer der EKD für soziale Ordnung, EKD-Texte 102, 2009
Gerechte Lohnfindung – ordnungspolitische Überlegungen zur Festsetzung von Löhnen
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Was die faktische Festsetzung von Löhnen anbetrifft, stellt sich seit Beginn der modernen Wirtschaftsentwicklung und dem Abschied von einer mehr oder minder als „natürlich“ anerkannten willkürlichen Festsetzung von Entlohnungen das Problem, sich über Maßstäbe für eine möglichst gerechte Lohnfindung zu einigen. Faktisch stehen sich in den Verhandlungen über den Preis der Arbeitskraft unterschiedliche Interessen gegenüber: Auf der einen Seite der Unternehmer, für den sich die Arbeitskraft letztlich immer in Kosten niederschlägt, die er tendenziell minimieren möchte – auf der anderen Seite der Arbeitnehmer, der sich naturgemäß möglichst teuer verkaufen will, um seinen Lebensstandard zu steigern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Mitarbeitende produktiver sind, wenn sie sich gerecht entlohnt fühlen. Da der einzelne Arbeitnehmer in der Regel – Ausnahmen sind durch besondere seltene oder hohe Qualifikationen bedingt – seine Interessen gegen den Kapitaleigner kaum durchsetzen kann und Arbeitgeber nicht mit jedem einzelnen Arbeitnehmer individuell verhandeln wollen und können, ist es zur Gründung von Gewerkschaften gekommen, die die Interessen der Arbeitnehmer bündeln und so eine entsprechende Marktmacht erzeugen. Komplex werden diese Verhandlungen u.a. dadurch, dass sie stets unter Berücksichtigung der allgemeinen und der besonderen wirtschaftlichen Lage, insbesondere der wirtschaftlichen Aussichten des jeweils betroffenen Unternehmens, geführt werden müssen. Denn niemandem wäre gedient, wenn die Möglichkeiten einer Firma überdehnt werden, sodass es zum Konkurs wegen zu höher Löhne kommen müsste.
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In diesem Gefüge gibt es auch in einer Sozialen Marktwirtschaft keine Instanz, die aus einer neutralen Position heraus vorschreiben könnte, welche Höhe die Löhne annehmen sollten. Schon gar nicht lässt sich objektiv entscheiden, was denn in dieser oder jener Sparte ein „gerechter Lohn“ wäre, da die wirtschaftliche Dynamik auch am Arbeitsmarkt groß ist und sich die Anforderungen an Kompetenzen und Qualifikationen schnell ändern können. Entsprechend wird in Deutschland, abgesehen von freien Einzelverträgen zwischen einzelnen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, seit der gesetzlichen Regelung der Tarifautonomie 1919 die Lohnfindung der Einigung der Tarifpartner überlassen, in die der Staat nicht eingreifen soll. In diesem Bereich hat sich ein komplexes Gefüge von freiwilligen und arbeitsrechtlich geregelten Verfahren entwickelt, die von einfachen Verhandlungen bis hin zu Arbeitskampfmaßnahmen wie Streik und Aussperrung ein breites Spektrum an Konflikt- und Einigungsmöglichkeiten enthalten. Das Ziel dieser Regelungen ist es immer, zu einer möglichst raschen konsensualen Einigung über die Lohnhöhe zu kommen. Auf diesem Weg hat die Tarifautonomie maßgeblich zu sozialem Frieden und allgemeinem Wohlstand beigetragen. Dies beweisen die fast 70.000 bestehenden Tarifverträge genauso, wie der wirtschaftliche Erfolg deutscher Unternehmen.
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Voraussetzung für dieses insgesamt breit anerkannte und bewährte Verfahren ist allerdings die Existenz von einer möglichst paritätischen Verhandlungsmacht auf beiden Seiten, also von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, die in ihren Bereichen über große Mitgliederzahlen verfügen und so das gesamte Gefüge prägen können. Lange Zeit ist dies in Deutschland der Fall gewesen. Es hat sich eine breite Vertrauensbasis herausgebildet, auf der das Austragen von z.T. durchaus heftigen Konflikten möglich war. Die Tarifbindung von Arbeitnehmern und Betrieben durch unmittelbare Mitgliedschaft in den Gewerkschaften bzw. den Arbeitgeberverbänden hat aber in den vergangenen Jahren, insbesondere in Ostdeutschland, abgenommen. Deshalb haben die Tarifpartner in den letzten Jahren vor allem die Flächentarifverträge modernisiert und die betrieblichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Betriebspartner erweitert. Dazu tragen vermehrt auch Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen bei. Außerdem sind mit Zustimmung der Tarifpartner betriebliche Abweichungen in den unterschiedlichsten Formen ermöglicht worden.
Nach dem IAB-Betriebspanel 2007 ist die Tarifbindung weiterhin rückläufig. Neu gegründete Betriebe sind seltener tarifgebunden. Nur noch 52% der Beschäftigten arbeiteten in Westdeutschland in branchentarifgebundenen Betrieben, in Ostdeutschland waren es lediglich 33%. Kaum Zuwächse hat es bei Firmentarifverträgen gegeben: 7% der Beschäftigten in West und 12% in Ost arbeiten in Betrieben mit Haus- oder Firmentarifverträgen. Leicht gestiegen ist dagegen der Anteil der Betriebe, die sich an einem Tarifvertrag orientieren: 22% der westdeutschen Beschäftigten und 27% der ostdeutschen Beschäftigten sind damit indirekt von einem Branchentarifvertrag erfasst. Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig eine Gleichstellung mit den Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben. Nicht tarifgebundene Betriebe orientieren sich eher an einzelnen Aspekten des Branchentarifs, sie sind nicht verpflichtet, sich an den Branchentarif des zuständigen Arbeitgeberverbandes anzulehnen und die Beschäftigten dieser Betriebe haben keinen rechtlichen Anspruch darauf.
Freilich kann auch durch eine perfekt funktionierende Tarifautonomie das Problem entstehen, dass die festgesetzten Löhne – gemessen an dem von der Gesellschaft als Minimum angesehenem Netto-Einkommen – zu niedrig sind, weil die Produktivität von Kapital und Arbeit individuell, betrieblich oder branchenweit (im Extremfall landesweit) zu gering ist, um die Minimallöhne ohne Verluste auszahlbar zu machen.
Es ist allerdings auffällig, dass in Ländern, die gesetzliche Mindestlöhne haben, die Tarifautonomie eine zum Teil deutlich geringere Rolle spielt als in Deutschland. Je mehr staatlicherseits in die Tarifautonomie eingegriffen wird, desto stärker ist die Gefahr, dass die Tarifbindung abnimmt und damit insgesamt als ungerecht angesehene Löhne gezahlt werden. Die Motivation zur Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden kann sich dadurch verringern, dass der Staat anstelle der Tarifpartner Regelungen festsetzt.
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Im Rückblick und im Vergleich mit anderen Ländern kann man festhalten, dass sich das deutsche System der konsensorientierten Tarifautonomie mit dem Ziel einer angemessenen Lohnfindung im Blick auf die beschäftigen Arbeitnehmer und ihre Unternehmen insgesamt bewährt hat. Es sorgte weitgehend für auskömmliche und steigende Löhne und war zugleich flexibel genug, sich auch wirtschaftlich schwierigeren Zeiten anzupassen und dann durch Lohnzurückhaltung zur Verbesserung von Marktpositionen der Firmen beizutragen. Dort, wo dies durch als zu starr empfundene Flächentarifverträge nicht zu funktionieren schien, konnte auf Ausnahmeregelungen oder betriebliche Bündnisse aufgrund von tariflichen Öffnungsklauseln ausgewichen werden. Auch dies gelang meist in der freien Kooperation der Tarifpartner bzw. der Betriebsräte und Unternehmensleitungen. Es ist maßgeblich der verantwortungsvollen Tarifpolitik zu verdanken, dass allein in den letzten Jahren mehr als eine Million neue Arbeitsplätze in Deutschland entstanden sind.