Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen
2. Der theologische Ausgangspunkt des Verständnisses der Religionen
Das Kriterium, von dem her sich die evangelische Theologie der Frage nach der Bedeutung der Religionen zuwendet, ist dasselbe, an dem sie auch alle kirchliche Lehre und Praxis misst. Sie betrachtet die Religionen und die Menschen, die sie praktizieren, im Lichte des Evangeliums von der Rechtfertigung des Sünders, also im Lichte der Botschaft von der Liebe Gottes: Das Evangelium besagt, dass Gott schon als Schöpfer allen Menschen nahe ist. Menschsein heißt: in der Nähe Gottes sein. Darin sind alle Menschen gleich, welcher Religion sie auch immer angehören. Diese Nähe des Schöpfers zu allen Menschen erschließt sich in ihrem ganzen Reichtum und unwiderruflich in Jesus Christus. In ihm ist Gott der Menschheit geschichtlich-konkret begegnet, und im Evangelium von Jesus Christus wendet er sich allen Menschen gnädig zu. In dieser Hinsicht befinden sich Christen und Menschen anderer Religionen vor Gott in derselben Situation. Sie leben als Gottes Geschöpfe in der durch seine Gnade bestimmten Gegenwart. Auf die Nähe des gnädigen Gottes aber sind alle Menschen umso mehr angewiesen, als sie sich zu ihrem Verderben der Gegenwart Gottes entziehen und also als Sünder leben. Auch darin unterscheiden sich Christen nicht von Menschen anderer Religionen. Das Verhältnis zu ihnen ist also nicht dadurch bestimmt, dass hier Nicht-Sünder Sündern gegenüber treten. Gerade als Sünder sind Christen und Menschen, die eine andere Religion haben, ganz auf Gottes freie, gnädige Zuwendung angewiesen. Das ist die Voraussetzung, unter der Christen diesen Menschen begegnen, mit ihnen verkehren, zusammenleben und auch ihre Religion beurteilen.
Der Unterschied zwischen Christen und Menschen einer anderen Religion wird dagegen durch die Erfahrung der heilsamen Zuwendung Gottes zur Menschheit in der Geschichte Jesu Christi begründet, die nur der an Jesus Christus Glaubende macht. Durch den Glauben an Jesus Christus unterscheidet sich das Christentum von allen anderen Religionen. Im Bekenntnis der Kirche zu Gottes Gegenwart in Jesus Christus und in der Taufe wird dieser Unterschied zwischen der „Versammlung der Glaubenden“ und denjenigen, die in anderen Religionen anderes bekennen, sichtbar und wirksam. Dieses Unterschiedensein stellt Gottes gnädige Zuwendung zu allen Menschen nicht in Frage, macht aber deutlich, dass andere Religionen die Erfahrung des in Jesus Christus allen Menschen nahe kommenden Gottes nicht vermitteln. Das den christlichen Glauben mit den Menschen aller Religionen Verbindende (Gott ist allen Menschen gnädig nahe) ist insofern das sie zugleich Trennende.
Darin liegt der Grund, warum ein „neutraler“ Vergleich einzelner mehr oder weniger ins Auge fallender Gemeinsamkeiten zwischen dem christlichen Glauben und den Religionen schwerlich als Basis einer Verständigung zwischen den Religionen taugt. Alle derartigen Vergleichspunkte sind immer schon von einer besonderen religiösen Perspektive besetzt. Das bedeutet nicht, ein solcher Vergleich aus religionswissenschaftlicher und also aus nichttheologischer Perspektive sei überflüssig. Er kann im Gegenteil das Wissen um die Phänomene erweitern und zu einem differenzierenden Problembewusstsein der evangelischen Theologie beitragen.
Das Gleiche gilt für die Beurteilung der Religionen einschließlich des Christentums durch eine der anderen Religionen, wie wir sie z. B. aus dem Hinduismus und dem Islam kennen. Solche außerchristlichen religiösen Perspektiven auf die Religionen und den christlichen Glauben sind kritisch und selbstkritisch zu berücksichtigen, wenn sich die christliche Theologie auf Phänomene in den Religionen bezieht, die nach einem vergleichenden Urteil rufen. Erst recht gilt das für den Eigen-Sinn, den alle religiösen Phänomene in einer besonderen Religion haben. Aus der Perspektive der christlichen Theologie kann sachgerecht nur dann über die einzelnen Religionen geurteilt werden, wenn deren Selbstauffassung als Grenze und Kritik der eigenen theologischen Auffassung dieser Religion respektiert wird. Theologisch zureichend wird eine andere Religion demnach nur verstanden, wenn in dieses Verständnis eingeht, dass sie sich selbst anders versteht. Aber auch dann bleibt die christlich-theologische Betrachtungsweise anderer Religionen dadurch charakterisiert, dass sie diese im Licht des christlichen Glaubens thematisiert.
Dieser Sachverhalt setzt dem Versuch Grenzen, das Verhältnis der Religionen zueinander auf der Grundlage eines von allen Religionen geteilten Religionsbegriffs zu erfassen.(1) Die zahlreichen Definitionsvorschläge sind allesamt nicht befriedigend. Irgendein Phänomen in irgendeiner Religion fällt immer aus solchen Definitionsversuchen heraus. Ist der Buddhismus z. B. eine Religion, obwohl ein Gottes- oder Götterglaube nicht zu seinen Grundlagen gehört? Ist es sinnvoll, den Ahnenkult in Afrika eine Religion zu nennen? Soll als Zentralvorstellung der Religion „das Heilige“ oder die „jenseitige Macht“ gelten? usw., usw. Die meisten Religionen können sich zwar als Religion beschreiben. Doch wenn dieser Begriff jeweils mit dem gefüllt wird, was eine bestimmte Religion auszeichnet, dann bringt der Plural „Religionen“ eher eine Gegensätzlichkeit als eine Gemeinsamkeit zum Ausdruck. Daraus folgt aber, dass Recht und Sinn der Beanspruchung des Begriffs der „Religion“ an der jeweils konkret bestimmten Gestalt einer Religion ausgewiesen werden muss.
Auch die christliche Kirche begegnet anderen Religionen mit einem theologisch erarbeiteten Religionsverständnis, das es ihr erlaubt, sie als Religionen differenziert wahrzunehmen und sich so in ein Verhältnis zu ihnen zu setzen. Ein solches Religionsverständnis kann nach Lage der Dinge nicht zu einer abschließenden Definition von Religion, sondern nur zu einem Arbeitsbegriff führen, der sich im Verhältnis des christlichen Glaubens zu den einzelnen Religionen immer erst bewähren muss und für Korrekturen offen ist. Diese Offenheit für die Kritik und die Überbietung von allem, was Menschen – gerade christlich glaubende Menschen! – „Religion“ nennen, ist mit dem Wesen des christlichen Glaubens ohnehin gegeben. Denn nach christlichem Verständnis überholt der den Glauben schaffende Gott immer wieder alles, worauf Menschen ihre Gotteserfahrung und ihre Wirklichkeitssicht als „Religion“ festgelegt haben.
Ein solcher am Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders orientierter Arbeitsbegriff von Religion zeichnet sich dadurch aus, dass mit seinem Gebrauch die andauernde Differenzierung zwischen dem, was Gott tut, und dem, was Menschen tun, nötig wird. Denn Religion wird im Sinne der evangelischen Theologie als die von Gott gewirkte glaubende Aufnahme seiner gnädigen Nähe in die Lebens- und Tätigkeitszusammenhänge des menschlichen Lebens verstanden. Da der Glaube in diesen Lebens- und Tätigkeitszusammenhängen als Glaube sündiger Menschen aber ständig zu einer bloß menschlichen Angelegenheit zu werden droht, bedeutet „Religion“: im ständigen Unterscheiden von Gottes Handeln und menschlichem Handeln und Verhalten leben und dabei nach der größtmöglichen Entsprechung zwischen dem, was Gott tut, und dem, was wir tun sollen, zu suchen.
Fussnote:
(1) Der Begriff ‚Religion‘ bezieht sich seiner lateinischen Herkunft nach u. a. auf die Praxis des Kultus und der Zeremonien. Er lenkt von daher die Aufmerksamkeit auf die sichtbaren Praktiken des Kultus in den verschiedenen Religionen. Auf dieser Linie wird der Begriff der ‚Religion‘ auch auf das individuelle und soziale Verhalten von Menschen in Bezug auf Gott, Götter, Göttliches oder einfach geheimnisvoll Jenseitiges bezogen. Er bezeichnet dann summarisch die Frömmigkeit, die Normen der Lebensführung und die Praxis der religiösen Gemeinschaften, die Religionskultur, in die man hineingeboren wird (Tradition) oder die man wählt. In dieser Perspektive werden Christen, Juden, Moslems, Buddhisten etc. dadurch erkennbar und definiert, dass sie am Kultus und an der religiösen Praxis ihrer ‚Religion‘ teilnehmen.