Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen

4. Die Religionen in der demokratischen, pluralistischen Gesellschaft

Die aufgewiesenen Leitdifferenzierungen ermöglichen eine positive Gestaltung des Verhältnisses der Christen, Gemeinden und Kirchen zu den Religionen und den Menschen, die in ihnen leben. Auch wenn es faktisch erst Ansätze gibt, sie beim Zusammenleben und beim Dialog der Religionen wirksam werden zu lassen, bringen sie doch den Geist zur Geltung, den der christliche Glaube in dieses Verhältnis einbringt. Dieser Geist kann von den Kirchen her auch auf die Gesellschaft ausstrahlen und politische Regelungen befördern, die Probleme und Konflikte gerecht lösen, welche das Zusammentreffen von vielen Menschen mit einer anderen Religion nicht bloß im Hinblick auf das Christentum, sondern für die ganze Gesellschaft schaffen.

Das ist nicht so gemeint, als könne oder wolle die Kirche den Anspruch erheben, politische Entscheidungen in dieser Hinsicht direkt zu beeinflussen. Religion hat zwar, wo sie eine Gesellschaft dominiert, in der Tat die Tendenz, auch das Recht und damit die Politik zu prägen. Im äußersten Falle kann das bis zu theokratischen Vorstellungen führen, wie sie heute in einigen islamischen Staaten anzutreffen sind. Die Kirche bejaht dagegen den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des demokratischen Staates. Gerade dieser weltanschaulich neutrale und keine Religion privilegierende Staat ist aber auf Prägekräfte angewiesen, die sich dem Christentum verdanken.(4)  Der Staat regelt durch das sanktionsgestützte Recht das Zusammenleben der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Gesellschaft, ohne sich dabei von irgendeiner Religion abhängig zu machen. Er sorgt dafür, dass argumentativ nicht lösbare Grunddifferenzen zwischen diesen Gemeinschaften nicht zu lebensschädigenden Konflikten in der Gesellschaft entarten.

Es würde hier zu weit führen, im Einzelnen aufzuzeigen, inwiefern die Trennung von Religion und Recht, Kirche und Staat aus dem reformatorischen Verständnis des Glaubens selbst folgt – wohl wissend dass sich das den Kirchen im Prozess der Moderne erst nach und nach erschlossen hat.(5)  Wie der Staat an keine Religion oder Weltanschauung gebunden sein darf, so muss auch die Religion frei von staatlichem Zwang und politischer Gewalt sein. Denn für den eigenen Glauben und die eigene Gewissensüberzeugung hat jeder Mensch selbst einzustehen. Indem die christliche Kirche das bejaht, bejaht sie auch den Grundsatz der Religionsfreiheit und damit das schutzwürdige Recht der Entfaltung jeder Religion in unserer Gesellschaft.

Für Menschen, die aus anderen Religionen in unsere Gesellschaft kommen, ist es durchaus nicht selbstverständlich und sogar vielfach befremdend, dass der damit entstehende Religionspluralismus nicht von den Interessen der einzelnen Religionen her, sondern durch ein religiös indifferentes Recht geregelt wird. Doch die Rahmenbedingungen, die dieses Recht setzt, ermöglichen es den Kirchen wie den anderen Religionen, in der Öffentlichkeit friedlich zusammenzuleben. Denn dieses Recht schützt nicht nur die freie Gewissensentscheidung jedes Einzelnen und damit die Freiheit, sein gesamtes Leben religiös auszurichten, sondern auch das Recht der Religionsgemeinschaften, sich nach den Grundsätzen ihres Glaubens unter Einhaltung der Regeln dieses Rechts als Gemeinschaft zu organisieren und zu betätigen. Dazu gehört, dass anderen Religionen dieses Recht nicht streitig gemacht wird – eine Anforderung, die letztlich in der Anerkennung der Würde jedes Menschen begründet ist, die nicht aus religiösen Gründen relativiert oder im Umgang miteinander missachtet werden darf.

Die Anerkennung der Menschenwürde und der Menschenrechte ist nichtchristlichen Religionen, die in einem demokratischen Staatswesen existieren, allerdings zugemutet. Es geht hier aber nicht um eine religiöse Zumutung, auch wenn die Idee der Menschenrechte auf dem Boden der vom Christentum geprägten Welt entstanden ist und Menschenwürde im christlichen Verständnis in der Zuwendung Gottes zu jedem Menschen gründet. Vielmehr schafft die auf der Anerkennung der Menschenwürde beruhende Rechtsordnung einen öffentlichen, rechtlich verfassten Raum der Kommunikation, der sich nicht einem vorgängigen Konsens in religiösen Fragen verdankt. In diesem Raum können sich die Religionen begegnen und den Dialog untereinander führen, ohne dass sie sich gegenseitig ihr Lebensrecht streitig machen dürfen.
Beziehen wir diese rechtliche und gesellschaftspolitische Lage, in der sich Menschen anderer Religionen als Einzelne und als Gemeinschaft in unserer Gesellschaft befinden, auf die vom christlichen Glauben ausgehenden Impulse für das interreligiöse Verhältnis, dann sind die Chancen für ein gutes Zusammenleben von Christen und Menschen anderer Religionen unverkennbar. Sie haben in der demokratischen Gesellschaft einen Raum religiös unbelasteter, freier Kommunikation. Christen, Gemeinden und Kirchen begrüßen anders Glaubende in diesem Raum als Geschöpfe Gottes, denen Gott nahe ist. Sie stellen sich dabei nicht als absolute Religion dar, sondern machen deutlich, dass sie im christlichen Glauben auf die unverfügbare Wahrheit Gottes angewiesen bleiben wie alle Menschen auch. Sie suchen im Geist des Evangeliums das Beste in den Religionen und bei ihren Anhängern, ohne Illusionen über die Grenzen zu verbreiten, die sie von den anderen Religionen trennen.

Kirchen, Gemeinden und Christen muss daran gelegen sein, diese Einstellung zu den Religionen und ihren Gläubigen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu vermitteln. In dieser Weise können sie am Entstehen eines gesellschaftlichen Klimas mitwirken, in dem Menschen anderer Religionen in unserer Gesellschaft ein geachtetes, von ihnen selbst bejahbares und der Kultur unserer Gesellschaft zugute kommendes Leben zu führen vermögen.

Fussnoten:

(4)  Vgl. hierzu die Erklärung des Rates der EKD von 1997: Christentum und politische Kultur – Über das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zum Christentum, EKD-Texte 63, Hannover, 1997.
 
(5) Vgl. hierzu die Demokratiedenkschrift der EKD von 1985: Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie – Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe; wiederabgedruckt in:
Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Band 2 / 4, Gütersloh, 1992, S. 9 – 54.

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