Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen

Vorwort

Wie überall in Europa so ist auch in Deutschland die Zahl der Menschen, die einer anderen als der christlichen Religion angehören, im Wachsen begriffen. In unserem Land leben inzwischen auf Dauer etwa 3 Millionen Muslime. Die Notwendigkeit, mit Menschen anderer Religion oder Weltanschauung zusammen zu leben, stellt hohe Anforderungen an die einheimische Bevölkerung wie an die Zugewanderten. Gegenwärtig nehmen auch die Begegnungsmöglichkeiten mit anderen Religionen zu, etwa durch Reisen selbst in entlegene Regionen der Erde. Diese und andere Folgen der Globalisierung tragen dazu bei, dass wir – ob in unserem Land oder außerhalb – anderen Religionen mit einer Mischung von Faszination und Befremden begegnen.

Spätestens die Ereignisse des 11. September 2001 lassen verstärkt nach dem friedenstiftenden wie dem friedengefährdenden Potenzial der Religionen fragen. Tragen die Religionen zur Spaltung unserer Welt bei und verhindern sie mit ihren absoluten Ansprüchen den ausgleichenden politischen Kompromiss? Oder sind sie eine Brücke der Verständigung und des Dialogs, indem sie unverzichtbare Werte wie Toleranz, Frieden, Gerechtigkeit und Recht in unserer Gesellschaft stiften und in den Menschen verankern?

Zugleich nimmt, zumindest in Europa, die Entkirchlichung zu. Religiöse Praxis einschließlich ihres Bezuges zu entsprechenden Institutionen wird nicht mehr selbstverständlich über die Generationen hin weitergegeben. Die Verwurzelung in den eigenen religiösen und kulturellen Traditionen wird schwächer. Religion wird stattdessen als ein Angebot wahrgenommen und die Menschen bedienen sich in ihrer Sinnsuche der Versatzstücke aus unterschiedlichen Religionen. So wird der Einzelne nicht mehr in eine spezifisch geprägte religiöse Welt hineingeboren, sondern er hat die Freiheit, aber damit auch den Zwang zum Auswählen.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat seine Kammer für Theologie beauftragt, sich des Themas anzunehmen und theologische Leitlinien zum Verhältnis zwischen dem christlichen Glauben und nichtchristlichen Religionen auszuarbeiten. Das Ergebnis der Beratungen in der Kammer wird mit dieser Schrift vorgelegt. Der Rat hat es mit Dank entgegengenommen und seiner Veröffentlichung zugestimmt.
Folgende Gesichtspunkte aus der Ausarbeitung der Kammer seien an dieser Stelle besonders herausgestellt:

  • Die Achtung vor dem Glauben anderer erfordert die Bereitschaft, deren Glauben kennen zu lernen. Dabei wird man Gemeinsamkeiten erkennen, aber vor allem muss man den anderen in seiner Fremdheit und Eigenheit akzeptieren. Dies ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen gelingenden Dialog.

  • Um sich zu anderen Religionen in ein Verhältnis zu setzen, ist es notwendig, von der Eigenart und dem charakteristischem Profil der jeweiligen Religion auszugehen und nicht von dem Konstrukt eines allgemeinen theoretischen Religionsbegriffs.

  • Im Umgang mit den Religionen kommt es darauf an, die in der christlichen Tradition enthaltenen religionskritischen Züge zu bewahren und zur Geltung zu bringen. Der biblisch inspirierte Gottesglaube hat immer die Zweideutigkeiten der Religion aufgedeckt.

  • Wir bedürfen der religiösen Dimension in unserem Leben. Sie weist uns über uns selbst hinaus. Eine Gesellschaft ist arm, die meint, des Unverfügbaren nicht mehr zu bedürfen.

  • Dabei zeichnen sich in der gegenwärtigen Debatte in unserem Land zwei völlig gegensätzliche Tendenzen ab: einerseits eine verschärfte Erneuerung radikaler neuzeitlicher Religionskritik und andererseits eine neue Sensibilität für die unverzichtbare Bedeutung des Religiösen für den einzelnen Menschen wie für das Gemeinwesen.

  • Das Kriterium, von dem her sich die evangelische Kirche und Theologie der Frage nach der Bedeutung der Religion zuwendet, ist das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders. Gott ist allen Menschen nah, welcher Religion sie auch immer angehören mögen. Im Glauben an Jesus Christus wird diese Nähe Gottes zu den Menschen bejaht und in die je eigenen Lebenszusammenhänge aufgenommen. Das Christentum unterscheidet sich darin von allen anderen Religionen, dass die christliche Kirche diesen Glauben bekennt. Eine neutrale Vergleichsposition über allen Religionen kann die Kirche deshalb nicht einnehmen. In der strikten Unterscheidung und Bezogenheit von Gott und Mensch liegt aber zugleich der unverzichtbare und spezifische Beitrag der christlichen Kirche zu dem notwendigen Gespräch mit anderen Religionen.

Der Rat der EKD verbindet die Veröffentlichung mit der Hoffnung, ein vertieftes Verständnis für den Umgang mit anderen Religionen zu wecken und zum notwendigen Dialog zwischen den Religionen zu ermutigen. Sein ausdrücklicher und großer Dank gilt den Mitgliedern der Kammer für Theologie, die unter dem Vorsitz von Professor Dr. Eberhard Jüngel und Professor Dr. Dorothea Wendebourg diesen klärenden und anregenden Beitrag ausgearbeitet haben.

Hannover, im Juni 2003
Manfred Kock
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

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