Freiheit und Dienst
Allgemeine Dienstpflicht - Würdigung der Argumente
Zunächst sind die Argumente zu würdigen, die von den Befürwortern einer allgemeinen Dienstpflicht angeführt werden:
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Argumente für eine Dienstpflicht
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Die Befürworter einer allgemeinen Dienstpflicht betonen, sie stelle ein Konzept dar, mit dem Verantwortung für das Gemeinwesen gelernt und übernommen werden könne. Mit dem Ende des Zivildienstes gehe zudem eine Sozialisationsmöglichkeit für junge Männer in Richtung eines sozialen und fürsorglichen Engagements verloren, die wegen der dominanten sozialen Geschlechterrollen auf freiwilliger Basis kaum genutzt werden würde. Ein "Gesellschaftsjahr" für junge Männer und Frauen wird als Ausprägung und Form sozialen Lernens angesehen, die den sozialen Zusammenhang stärken und die gesellschaftliche Integration fördern würde.
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Der Staat sei heute insbesondere im Pflege- und Sozialbereich und angesichts der zu erwartenden demographischen Entwicklung an einer Leistungsgrenze angelangt. Auch hinsichtlich des Umweltschutzes könne eine allgemeine Dienstpflicht einen Beitrag leisten.
Auch in dem schon zitierten Votum der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD heißt es entsprechend:
"Eine allgemeine Dienstpflicht für Frauen und Männer wurde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland immer dann empfohlen, wenn eine besondere Situation in der Gesellschaft als Notstand empfunden wurde. Dabei handelte es sich um sehr unterschiedliche Situationen: Anfang der 50er Jahre z. B. sah man in ihr eine Lösung, um die Jugendarbeitslosigkeit zu lindern; Anfang der 60er Jahre, um die überfüllten Universitäten zu entlasten; Ende der 70er Jahre, um den Personalbedarf der Streitkräfte, gegebenenfalls auch mit Frauen, zu sichern. Heute erscheint die allgemeine Dienstpflicht als Lösung angesichts des Personalmangels in den sozialen, besonders den pflegerischen Berufen."
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Von den Befürwortern einer allgemeinen Dienstpflicht wird als Analogie auf die Schulpflicht bzw. den Erziehungsauftrag der Schule verwiesen. Die Erfahrungen, die Schüler während der Übernahme sozialer Verantwortung z. B. im Rahmen eines Praktikums sammeln, werden als Beleg für die wichtige erzieherische Rolle derartiger Tätigkeiten angesehen.
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Als weiteres Argument für die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht wird die Lastenverteilung zwischen Frauen und Männern angeführt. Weil nur Männer zum Wehrdienst eingezogen werden, stünden auch sie nur vor der Frage, diesen zu verweigern und stattdessen Zivildienst zu leisten. Eine allgemeine Dienstpflicht aber müsse im Sinne der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau nach Art. 3 Abs. 2 und 3 GG und des entsprechenden Gleichbehandlungsgebotes für Männer und Frauen gelten.
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Argumente gegen eine Dienstpflicht
Als Argumente gegen die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht lassen sich folgende Punkte festhalten:
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Vor juristischen und organisatorischen Bedenken wird vor allem ein grundsätzliches Argument gegen eine allgemeine Dienstpflicht geltend gemacht:
Es wird angefragt, ob der erhoffte Beitrag zur Solidarität in einer Gesellschaft und zu einer Kultur des Gemeinsinns unter den Bedingungen eines Pflichtjahres überhaupt gegeben sein könne. Die Entwicklung von Solidarität und Gemeinsinn setze Freiwilligkeit voraus. Ein allgemeines Pflichtjahr könne dazu führen, dass diejenigen, die es abgeleistet haben, sich von der Notwendigkeit eines weiteren Engagements tendenziell befreit fühlen.
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Grundsätzliche juristische Bedenken gegen eine allgemeine Dienstpflicht werden unter Berufung auf Art. 12 Abs. 2 und 3 GG vorgetragen: Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht durch einfaches Gesetz würde gegen diese Bestimmungen verstoßen, weil es sich hierbei nicht um eine "herkömmliche", d.h. seit langem bestehende Dienstpflicht handele. Nach Art. 12 Abs. 2 GG dürfe außerhalb einer solchen herkömmlichen Dienstleistungspflicht "niemand zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden". Nach herrschender Meinung gewähre Art 12 GG ein einheitliches Grundrecht, das die im Nationalsozialismus angewandten Formen des Arbeitszwangs und der Zwangsarbeit mit ihrer Herabwürdigung der menschlichen Persönlichkeit ausschließen solle.
Sollte eine allgemeine Dienstpflicht an Stelle der Wehrpflicht eingeführt werden, die eine Wahl zwischen der Erfüllung dieser Dienstpflicht durch den Wehrdienst oder durch allgemeine soziale Dienste ermöglichen würde, wäre die Beseitigung der Verfassungsforderung nach der "Herkömmlichkeit" dieser Pflicht erforderlich. Diese könne nur durch eine entsprechende Grundgesetzänderung (d.h. mit der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates) geschehen.
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Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht könne internationale Vereinbarungen, an die die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich gebunden ist - insbesondere Art. 4 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) - berühren [3].Nach Abs. 2 dieses Artikels darf "niemand gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten". Ausnahmen nach Abs. 3 sind Pflichten im Rahmen des Wehr- und Ersatzdienstes, Dienste im Falle von Notständen und Katastrophen und die Wahrnehmung normaler, d.h. üblicher Bürgerpflichten.
Es sei demnach sehr wahrscheinlich, dass eine allgemeine Dienstpflicht gegen die EMRK verstößt. Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zur Zulässigkeit einer allgemeinen Dienstpflicht vom 15.08.2003 kommt zu dem Ergebnis, "dass es sich bei diesen Dienstpflichten um 'Zwangs- oder Pflichtarbeit' im Sinne des Art. 4 Abs. 2 EMRK" handeln würde.
Demgegenüber kommt ein Rechtsgutachten der Universität Tübingen vom 24.09.2004 zu folgendem Ergebnis: "Die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres kann mit Art. 4 Abs. 2 EMRK ... vereinbar sein. Für die Frage, ob sich diese Inpflichtnahme als 'Zwangs- oder Pflichtarbeit' darstellt, kommt es auf eine umfassende Gesamtbewertung der Umstände an. Art. 4 Abs. 3 lit. b) EMRK belegt, dass auch einschneidende Pflichten konventionskonform sind, wenn sie nur von hinreichenden Interessen des Allgemeinwohls getragen werden. Eine konkrete Abwägung von Vor- und Nachteilen lässt sich nur im Angesicht eines konkreten Regelungsvorschlags und unter Verwendung hinreichend gesicherter Prognosen und Folgeabschätzungen vornehmen." [4] Allerdings spricht sich das Gutachten in seinem Gesamturteil gegen einen Pflichtdienst aus.
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Auf unterschiedliche Auswirkungen einer allgemeinen Dienstpflicht auf Männer und Frauen hat schon die Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD in ihrem Votum hingewiesen:
"Gerade im Blick auf Frauen ist ... zu sagen, dass sie in unserer Gesellschaft besondere soziale Lasten übernehmen. Viele scheiden durch die Geburt und die Erziehung der Kinder für bestimmte Zeiten aus dem beruflichen Leben aus. Auch wird in aller Regel die häusliche Pflege der alten und kranken Familienangehörigen, soweit das erforderlich ist, von Frauen übernommen. Ohnehin ist für junge Frauen die Phase beruflicher Qualifikation in aller Regel kürzer als für Männer. Die Zeit zwischen Schulabgang und den Erziehungsaufgaben in der Familie darf durch ein Pflichtjahr nicht noch weiter verkürzt werden."
Zwar werde mittlerweile kaum mehr bestritten, dass die Erziehung von Kindern und die Fürsorge für Ältere eine Aufgabe ist, die Frauen wie Männer gleichermaßen zu übernehmen haben. In der Praxis veränderten sich die überkommenen Rollenmuster aber nur langsam [5].
Ohne flankierende Maßnahmen zur Erhöhung der Partizipation von Männern an der privat zu leistenden Fürsorgearbeit bestehe daher die Gefahr, dass Frauen durch die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht doppelt belastet würden.
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Hinzu komme, dass der Lebensabschnitt des jüngeren Erwachsenenalters durch Mehrfachbelastung durch Bildung, Berufseinstieg und Familiengründung bereits heute massiv überfrachtet sei. Dieser Lebensstau, der durch ein soziales Pflichtjahr noch weiter verstärkt werde, wird als einer der Hauptgründe der gegenwärtigen Fertilitätskrise angesehen. Wegen der kürzeren Fertilitätsspanne träfe eine weitere Verdichtung dieser Lebensphase junge Frauen besonders stark.
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Auch die Befürworter einer allgemeinen Dienstpflicht konzedieren, dass die Frage der Finanzierung einer solchen Pflicht ungelöst sei. Auszugehen sei von einer Jahrgangsstärke von bis zu 800.000 Männern und Frauen. Zur Zeit werden ca. 80.000 Männer jährlich zum Wehrdienst eingezogen, ca. 90.000 leisten Zivildienst.
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Neben der Frage nach der Finanzierbarkeit stelle sich auch die nach der Organisierbarkeit einer allgemeinen Dienstpflicht. Angesichts der großen Zahl derer, die grundsätzlich im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht herangezogen werden müssten, ergäbe sich vermutlich ein erneutes Problem der Dienstgerechtigkeit. Es gäbe notwendig Ausnahmen und Durchbrechungen und es sei fraglich, ob überhaupt genügend Einsatzstellen vorhanden wären [6].
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Zu klären wäre außerdem das Verhältnis zu den regulären Beschäftigungsverhältnissen im Bereich der sozialen Dienste (Krankenschwestern / Pflegepersonal). Die Gegner einer allgemeinen Dienstpflicht befürchten, dass es mit ihrer Einführung zu einer weiteren Entprofessionalisierung der sozialen Dienste kommen könne und qualifizierte Fachkräfte durch Dienstleistende verdrängt würden.
Im Votum der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD von 1991 heißt es dazu:
"Die Zahl der Hilfskräfte durch eine allgemeine Dienstpflicht zu vergrößern, würde ... die professionell in der Pflege Tätigen weiter ins Abseits rücken, die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Berufe zusätzlich entwerten und hätte damit eher negative Auswirkungen auf die Berufswahl junger Menschen ... Der entgegengesetzte Weg verspricht eher Abhilfe. Die Akzeptanz der Berufe im Pflegebereich muss gestärkt, ihr Image durch Professionalisierung und bessere Entlohnung aufgewertet werden. Die Dienstpflicht würde den Trend in die falsche Richtung verstärken. Zudem führt eine allgemeine Dienstpflicht zur Entwertung freiwilliger Tätigkeit, ohne die soziales Handeln in der Gesellschaft nicht vorstellbar ist."
Generell wird von den Kritikern einer allgemeinen Dienstpflicht angeführt, es lasse sich nicht sicherstellen, dass die abzuleistenden Dienste letztlich arbeitsmarktneutral sein werden.
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Auf das Argument, für einen mit dem Ende der Wehrpflicht wegfallenden Zivildienst könne nur im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht Ersatz geschaffen werden, reagieren die Wohlfahrtsverbände schon jetzt mit der Praxis, dass seit längerem Zivildienststellen in großem Rahmen durch andere, reguläre Arbeitsverhältnisse ersetzt werden. Bei manchen Trägern treffe das inzwischen auf bis zu zwei Drittel aller ehemaligen Zivildienststellen zu. Eine weitere Reduzierung der Zahl der Zivildienstleistenden (parallel zu einer kleineren Zahl von Wehrpflichtigen in einer Einsatzarmee) bzw. ihr Wegfall wäre danach bei einer angemessenen Übergangszeit ein zu bewältigendes Problem.
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Zwar gebe es im Ausland gesetzlich unterschiedlich verankerte und verschieden ausgestaltete Modelle von Freiwilligendiensten, aber nirgendwo in Europa eine allgemeine Dienstpflicht.
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