Wandeln und gestalten

2. „Sehen lernen“: Missionarische Chancen und Aufgaben

Es gehört zu den Grundeinsichten und überzeugungen des evangelischen Glaubens, dass alleine der Geist Gottes den Glauben wirkt, „wo und wann er will“. Für die Wahrnehmung missionarischer Chancen und Aufgaben ist so die Bitte um die Führung des Heiligen Geistes ebenso unerlässlich wie die „spirituelle Demut“, die sich dieser eigenen Angewiesenheit bewusst ist. Für das konkrete Planen und Gestalten des missionarischen Wirkens der Gemeinden, Kirchenkreise und Landeskirchen freilich bedarf es zusätzlicher Planungshilfen.

Eine grundlegende Voraussetzung für die Einschätzung missionarischer Zukunftschancen und aufgaben ist demnach die möglichst sorgfältige und genaue Wahrnehmung der allgemeinen und kirchlichen Rahmenbedingungen und Entwicklungsperspektiven in einem bestimmten ländlichen Raum, innerhalb dessen sich die Evangeliumsverkündigung vollzieht. Ganz einfach gesagt geht es darum, den Blick dafür zu schärfen, wie sich die Lebenswelt in diesem ländlichen Raum entwickelt, wie die Menschen leben, wo sie arbeiten, wie sie ihre Freizeit verbringen, in welchen familiären Beziehungen sie stehen und welche Rolle dabei vor allem die Kirche spielt bzw. spielen kann. Dies alles spielt für die Möglichkeit zur Weitergabe des Evangeliums eine wichtige Rolle, auch wenn die missionarischen Entwicklungspotentiale in einem bestimmten Kontext nicht direkt einfach nur der Reflex der soziologischen Daten sind, sondern der Geist Gottes lebendige Gemeinden auch in demografisch ausgedünnten Regionen bewirken kann. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die genannten „soziologischen“ Aspekte, weil ihnen eine besondere Bedeutung für die kirchenleitende Planung zukommt. Sie bilden ein kritisches Korrektiv für die subjektive Situationsbeurteilung durch die Beteiligten. Eine nüchterne Wahrnehmung ist jedoch selbst ein Zeichen evangelischer Glaubenshaltung und gehört zu den Gaben des Geistes.

Um die genannten Leitfragen einer kirchlichen Situationsbeurteilung angemessen beantworten zu können, bedarf es vielfältiger Informationen und Daten. Die Erschließung und Auswertung solcher Daten - das sei ausdrücklich betont - ist vor allem bei einer erstmaligen Beschäftigung damit sehr arbeitsintensiv. Manche Informationen lassen sich nur in Bezug auf größere Gestaltungsräume, nicht aber für einzelne Dörfer erheben. Auch für die richtige Einordnung der eigenen Zahlen bedarf es jeweils entsprechender Vergleichswerte aus einem weiteren Bezugskontext. Schließlich braucht es eine kompetente Unterstützung bei ihrer Auswertung. Für die konkrete Wahrnehmung gibt es dabei verschiedene Hilfestellungen von kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen (vgl. die entsprechenden Informationen der Ämter des Land und Kirchenkreises). Zudem finden sich oft unter den Kirchenmitgliedern des jeweiligen Raumes Menschen, die auf Grund ihrer Ausbildung oder beruflichen Tätigkeit im Umgang mit solchen Daten Erfahrung haben.

Die äußeren Kriterien zur allgemeinen Situation und Entwicklung in den ländlichen Räumen (a) bilden eine Zusammenstellung von Aspekten aus verschiedenen Studien. Sie sollten je nach den Gegebenheiten vor Ort ergänzt werden. Die kirchlichen Kriterien der Situationsbeurteilung (b) konzentrieren sich ebenfalls vor allem auf die Wahrnehmung quantitativer Daten. Sie sind in den Gemeinden, im Kirchenkreis bzw. beim Landeskirchenamt in aller Regel vorhanden, entbehren jedoch oft noch einer sachgemäßen Zusammenstellung und Auswertung. Mit ihnen werden der „IstZustand“ und - bei Einbeziehung von ZeitreihenVergleichen - die zurückliegenden Entwicklungen beschrieben. Für die Beurteilung von Potentialen und künftigen Entwicklungen bedarf es weiterer Überlegungen. Die Leitkriterien (c) sollen helfen, das an Hand der Kriterien entwickelte komplexe Gesamtbild entsprechend zu gewichten und zu beurteilen.

a) Allgemeine Situation

Demographie

  • Bevölkerungsdichte
  • Bevölkerungsentwicklung
  • Geburtenrate/Sterberate
  • Bevölkerungsanteil der Kinder/Jugendlichen (unter 18 Jahren)
  • Binnenwanderungssaldo der Altersklasse „unter 18 Jahren“ und „3050 Jahre“
  • Durchschnitts und Medianalter
  • Ausländeranteil

Infrastruktur

  • Verkehrstechnische Anbindung, Öffentlicher Personennahverkehr
  • Entfernung zu den Unter/Mittel/OberZentren
  • Siedlungsstruktur, Entfernungen zwischen Siedlungen
  • Anteil der regelmäßigen Pendler an der Bevölkerung
  • Länge und Richtung der Pendelwege
  • Einkaufsmöglichkeiten, Dienstleistungsanbieter
  • GesundheitsVersorgung (Erreichbarkeit von Ärzten, Apotheken, Krankenhäusern)
  • Öffentliche Einrichtungen und Daseinsversorgung
  • Freizeitangebote (z.B. Sport, Kultur) aufgeschlüsselt nach Altersgruppen
  • Vereine, Interessengruppen u.ä.
  • Zugang zu „natürlichen“ Lebensräumen und Erholungsgebieten

Erziehung und Bildung

  • Betreuungseinrichtungen insgesamt von 09 Jahren
  • Anteil der Ganztagsbetreuungen (Krippen/Kita/Hort)
  • Krippen (unter 3 Jahren)/Kitas (36 Jahre)/Hort (69 Jahre) je 1000 Kinder
  • Grundschulen/weiterführende Schulen, durchschnittliche Entfernung
  • Konfessionelle Schulen
  • Schulabgänger (der verschiedenen Schulzweige, Abgänger ohne Schulabschluss)

Arbeitsmarkt und Wirtschaft

  • Beschäftigungsanteil in verschiedenen Wirtschaftssektoren
  • Flächennutzung
  • Ausbildungsplatzdichte
  • Arbeitslosenquote
  • Jugendarbeitslosigkeit: 1525jährige je 1000 Jugendliche
  • Beschäftigungsanteil der Frauen
  • Vereinbarkeit von Familie/Beruf (z.B. Teilzeitquote)
  • Anteil von Arbeitslosengeld IIEmpfängern (spez. Anteil der Kinder/Jugendlichen)

Sicherheit und Wohlstand

  • Private Haushalte
  • Kriminalitätsrate (Körperverletzungen/Einbruchdiebstähle je 100.000 Einwohner)
  • Verkehrsunfälle (spez. verletzte Kinder im Straßenverkehr)
  • Wohnungssituation/Eigenheimanteile

b) Kirchliche Situation

Gemeindeglieder

  • religiöse und konfessionelle Bevölkerungsanteile
  • Anzahl der Gemeindeglieder
  • Anteil an Gesamtbevölkerung
  • Austritte, Eintritte, Übertritte
  • Wanderungsgewinne/verluste
  • Demographische Gewinne/Verluste
  • Anteil von Kindern, Jugendlichen, Erwerbstätigen
  • Anzahl „saisonaler Gemeindeglieder“ (z.B. Besucher, Urlauber)

Amtshandlungen

  • Taufen (Anzahl, Entwicklung, Taufalter)
  • Konfirmationen (Anzahl, Entwicklung)
  • Trauungen (Anzahl, Entwicklung)
  • Bestattungen (Anzahl, Entwicklung)

Gottesdienste

  • Anzahl der SonntagsGottesdienste
  • weitere Gottesdienste und spezifische Veranstaltungen
  • durchschnittliche Gottesdienstbesucherzahlen (in allen Arten von Gottesdiensten)
  • Anzahl der Predigtstätten, gottesdienstlicher Rhythmus
  • Kindergottesdienst

Kirchliche Gebäude und Einrichtungen

  • Kirchengebäude
  • Gemeindehäuser
  • Pfarrhäuser
  • Kindergärten/Kindertagesstätten
  • weitere Einrichtungen (z.B. Beratungsstellen, Alten und Pflegeheime, Diakoniestationen, Friedhöfe)
  • weitere kirchliche Gebäude und Liegenschaften

Kirchliche Mitarbeiter/innen

  • Pfarrer/in (Stellenanteil, zusätzliche Beauftragungen in der Region)
  • weitere Haupt/Nebenamtliche: Diakon/in, Küster/in, Organist/in, Sekretär/in
  • Ehrenamtliche: Anzahl, Tätigkeitsfeld, Entwicklung
  • Kirchliche Leitungsstruktur

Kirchliche Angebote und Aktivitäten

  • Gruppen, Kreise, Hauskreise
  • Chöre
  • Veranstaltungen (Freizeiten, Seminare)
  • Kinder/Jugend/Familien und Seniorenarbeit
  • Schulischer und kirchlicher Unterricht (z.B. Konfirmandenunterricht, Christenlehre)
  • gemeindliche und regionale diakonische Arbeit und Angebote
  • Kooperationen mit anderen Anbietern/Einrichtungen am Ort und in der Region
  • Feste am Ort/im ländlichen Raum und besondere lokale Traditionen

Finanzen

  • Entwicklung des kirchlichen Haushalts (Einnahmen/Ausgaben)
  • Kollekten/Spendenaufkommen
  • eigene Finanzmittel (z.B. Stiftungen)
  • Kirchensteueraufkommen pro Kopf
  • freiwilliges Kirchgeld pro Kopf
  • Finanzzuweisungen
  • Anteil der Kirchensteuerzahler an Mitgliedern
  • Finanzielle Leistungen von Kommunen, Fördermittel von Land/Bund

c) Hilfen für die Situationsbeurteilung

Die Zusammenschau der allgemeinen und kirchlichen Kriterien erlaubt eine angemessene Wahrnehmung der kirchlichen Situation im jeweiligen ländlichen Raum. Die Kriterien bilden so ein kritisches Korrektiv für die eigene subjektive Lageeinschätzung. Der Wahrnehmungskatalog ließe sich leicht um zahlreiche weitere Aspekte ergänzen.

Die Fülle und Komplexität der Informationen stellen jedoch auch in der jetzigen Auflistung oftmals ein Problem dar. Eine Erfahrung in Gemeinden und Kirchenkreisen beim Zusammentragen entsprechender Daten ist, dass mitunter eine verwirrende Vielfalt von Informationen entsteht. Anstatt handlungsleitend zu orientieren, kann eine solche unstrukturierte „Datenflut“ leicht zu Verunsicherung und Verwirrung führen. Zudem geben die einzelnen Daten in der Regel den „Ist-Zustand“ wieder bzw. dokumentieren zurückliegende Entwicklungen.

Um die Potentiale zukünftiger kirchlicher Entwicklung abschätzen zu können, bedarf es daher zusätzlicher Leitkriterien. Sie haben eine Art Scharnier-Funktion zwischen Situationswahrnehmung und Handlungsorientierung: Zum einen sollen sie Gewichtungen innerhalb der vielfältigen Informationen vorgeben und den geweiteten Blick für die Wahrnehmung der Zukunftsaufgaben und -chancen schärfen. Zum anderen sollen sie den ersten Schritt von der Wahrnehmung zur Beurteilung der Situation vollziehen, indem sie innerhalb der Daten eine wertende Gewichtung vornehmen und eine handlungsleitende Orientierung bieten. Die Leitkriterien bilden so eine Brücke zur Einordnung eines bestimmten Gestaltungsraumes in die Typen kirchlicher Entwicklungen in ländlichen Räumen, die im nächsten Kapitel entfaltet werden. Die drei Leitkriterien beinhalten dabei jeweils ein Wahrnehmungs und ein Orientierungselement. Es geht in ihnen um:

  • die Wahrnehmung demographischer Entwicklungen und die Orientierung an familiären Beziehungen,
  • die Wahrnehmung von Milieus und Lebensstilen und die Orientierung an Lebenswelten,
  • die Wahrnehmung kirchlicher Wachstumskräfte und die Orientierung an den Stärken der Kirche.

Die drei Leitkriterien haben ihren Ursprung in der kirchlichen Situation, wie sie sich in den verschiedenen ländlichen Räumen gegenwärtig darstellt. Sie sind daher nicht von theologischen Voraussetzungen her abgeleitet und beanspruchen weder Vollständigkeit noch eine systematische Notwendigkeit. Ihre Wahl liegt jedoch - auch theologisch gesehen - nahe:

Wenn die Kirche Menschen missionarisch erreichen will, muss sie die tiefgreifenden Veränderungen wahrnehmen, die sich gegenwärtig in der Bevölkerung vollziehen. Dies schließt das veränderte Verhältnis der Generationen ebenso ein wie Wanderungsbewegungen auf Grund von Mobilität und Migration. Als zentrale Bezugspunkte kirchlicher Arbeit angesichts dieser Wandlungen kommen dabei die Familien und familiären Beziehungen in den Blick.

Weiterhin spielt für die Kirche - wie für die Gesellschaft insgesamt - die Ausdifferenzierung der sozialen Milieus und Lebensstile eine zunehmende Rolle. Wenn die Verkündigung des Evangeliums den Menschen lebensnah erreichen soll, so gilt es die mit diesen Milieus verbundenen Lebenswelten als orientierende Leitgrößen kirchlicher Arbeit zu beachten.

Schließlich ist die Wahrnehmung der eigenen kirchlichen Wachstumskräfte für die Gestaltung missionarischen Wirkens von zentraler Bedeutung. Für die weitere Entwicklung der Kirche in den unterschiedlichen Räumen wird es wichtig sein, sich an den kirchlichen Stärken statt an ihren Defiziten zu orientieren.

Die eigentliche Legitimation erfahren die Leitkriterien jedoch erst aus ihrer Anwendbarkeit - daraus, dass sie im praktischen Vollzug helfen, Wahrnehmung zu strukturieren und handlungsleitende Orientierungen zu gewinnen.

  • Wahrnehmung von demographischen Entwicklungen -
    Orientierung an Familien und familiären Beziehungen

Eine der größten Herausforderungen der Zukunft besteht in der demographischen Entwicklung, das heißt, in dem voraussehbaren Rückgang der Bevölkerung, der Zunahme des Anteils älterer Menschen, den damit einhergehenden sozialen Strukturveränderungen und innerdeutschen Wanderungsbewegungen und der Zunahme ausländischer Bevölkerungsanteile und ihrer Integration.

Auf Grund des demographischen Aspektes der Überalterung (bzw. „Unterjüngung“) der Gesellschaft wird die Familien-Situation vielfach als ein zentraler „Standortfaktor“ für die Zukunft angesehen. Diese Bedeutung kommt ihr sowohl im Hinblick auf das allgemeine Entwicklungspotential eines ländlichen Raumes als auch auf das Entwicklungspotential der Kirche in diesem Raum zu. Familien siedeln sich dort an, wo insgesamt positive Lebensbedingungen vorhanden sind, und tragen selbst vielfältig zur Entwicklung einer Region bei. Umgekehrt ziehen sie dort weg, wo sie keine Chancen mehr für ihre Entwicklung sehen. Gerade in ländlichen Räumen zeigen sich in dieser Hinsicht stark divergierende Tendenzen - vom stark überproportionalen Anteil junger Menschen über ausgewogene demographische Verhältnisse bis hin zur Überalterung ganzer Landstriche. Durch die demographische Entwicklung wird es zudem zu Konzentrationsprozessen bei der geographischen Verteilung der Bevölkerung kommen. Es gilt kirchlich wahrzunehmen, welche Regionen durch die Verbindung von Bevölkerungsentwicklung und Wanderungsbewegung einen demographischen Gewinn bzw. Verlust aufweisen werden.

Ohne einer einseitigen Fixierung auf Jungsein zu erliegen, gilt es die Lebensräume von Familien als Zentren gesellschaftlicher Zukunft zu beachten. Die Kirche als Trägerin von Bildungseinrichtungen, sozialen Netzwerken und familiärer Begleitung schafft ihrerseits wesentliche Rahmenbedingungen für ein familienfreundliches Umfeld. Ihr wächst so eine bisher noch zu wenig beachtete Schlüsselstellung für die allgemeine Entwicklungsfähigkeit von (ländlichen) Regionen zu.

Aber auch im Blick auf die eigene Arbeit der Kirche geraten die Familien und familiären Beziehungen wieder stärker in den Blick. Die Verkündigung des Evangeliums richtet sich an den Menschen als Beziehungswesen. Dem entspricht die biblische Redeweise, dass das Heil dem „Haus“ eines Menschen widerfährt, das heißt, dem Menschen in seinem primären sozialen Beziehungssystem (vgl. Lk 19,9; Apg 16,31; Jos 24,15). Kirchliche Arbeit ist daher wesentlich immer auch Beziehungsarbeit. In der Familie ereignet sich die primäre religiöse Sozialisation oder NichtSozialisation von Kindern und Jugendlichen. Partner, (Groß)Eltern und Angehörige gehören - wie die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen immer wieder belegen - auch später zu den Menschen, mit denen man sich primär über Fragen des eigenen Glaubens austauscht.

Dabei gilt es den Familienbegriff über die Fixierung auf Kinder und Jugendliche hinaus zu erweitern und auch die intergenerationelle Beziehung von Erwachsenen mit in den Blick zu nehmen. Die hier gebrauchte Rede von „Familien und familiären Beziehungen“ versucht dieser zweifachen Aufgabe Rechnung zu tragen: Der Würdigung und Wertschätzung der Familie als primärem Lebensraum von Kindern und Jugendlichen - als der kommenden Generation - und der Würdigung und Wertschätzung von intergenerationellen Beziehungen allgemein, durch die jeder Mensch in familiären Beziehungen steht. Dies schließt auch die alleinlebenden Menschen ein, deren Zahl in ländlichen Räumen zunimmt (besonders in der älteren Generation).

  • Wahrnehmung von Milieus und Lebensstilen -
    Orientierung an Lebenswelten

Nicht nur die Bevölkerungsstruktur befindet sich in einem Wandlungsprozess, auch die Art und Weise, in der die Menschen die großen und kleinen Dinge ihres Lebens sehen, bewerten und gestalten, hat sich verändert. Es gibt eine Pluralisierung von Lebensformen, die sich in der Ausbildung bestimmter Milieus und Lebensstile wahrnehmbar niederschlägt. Sie drücken sich u.a. darin aus, wie Menschen sich selbst darstellen, wie sie mit anderen umgehen, wo sie ihre Freizeit verbringen, welche Werte für sie maßgeblich sind. In diesen Milieus und Lebensstilen spielt sich das Leben in ganz unterschiedlichen „Lebenswelten“ ab. Und auch die Rolle von Religion, Glaube und Kirche ist in den verschiedenen Milieus und Lebensstilen sehr unterschiedlich bestimmt. Die vierte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, deren Ergebnisse unter dem Titel „Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge“ veröffentlicht wurde, skizziert jeweils sechs verschiedene Lebensstile von evangelischen Kirchenmitgliedern und von Konfessionslosen [1]. Die Wahrnehmung von Milieus und Lebensstilen gilt es bei der Reflexion und Planung kirchlicher Arbeit in ländlichen Räumen zu beachten. Dabei stellen zielgruppenorientierte Angebote nur eine mögliche Reaktionsweise dar; die Bedeutung vieler kirchlicher Angebote und Handlungen liegt z.T. gerade in dem Überschreiten milieu und altersspezifischer Grenzen. Notwendig ist es jedoch, die Lebenswelten als zentrale strukturelle Orientierungspunkte zu begreifen, da diese in den kirchlichen Organisationsstrukturen bisher vielfach unberücksichtigt bleiben.

Einen wichtigen Aspekt der Lebenswelten stellt die gewachsene Mobilität dar. Durch berufsbedingten Pendelverkehr und mobile Freizeitgestaltung vollziehen sich innerhalb von Deutschland „kleine Völkerwanderungen des Alltages“. In vielen ländlichen Regionen hat sich durch das Phänomen der gestiegenen Mobilität die soziale Struktur radikal verändert. Die zu suchende und zu gestaltende „Nähe“ der Kirche zum Menschen ist entsprechend nicht einfach lokal, sondern vor allem lebensweltlich zu bestimmen. Entsprechend darf sich die kirchliche Wahrnehmung nicht nur an dem Wohnsitz der Menschen orientieren und danach ihre Arbeitsstrukturen ausrichten. Vielmehr gilt es neu zu schauen, wo sich die Menschen in ihrer Arbeit und in ihrer Freizeit, am Werktag, am Wochenende und in der Urlaubszeit aufhalten. Um dies an zwei konträren Beispielen zu veranschaulichen: Manche ländlichen Gestaltungsräume sind „unter der Woche“ pastoral überversorgt, wenn fast alle Kinder und Jugendlichen des Ortes in Ganztagsschulen und die erwerbstätigen Erwachsenen an auswärtigen Arbeitsplätzen weilen. Andere Orte in touristisch attraktiven Räumen sind dagegen auf Grund ihrer relativ kleinen Einwohnerzahl, aber einer großen Zahl von Urlaubern saisonal unterbesetzt. Hier gilt es, kirchliche Strukturen im Blick auf die lebensweltliche Nähe zum Menschen neu zu überdenken.

  • Wahrnehmung von kirchlichen Wachstumskräften -
    Orientierung an den Stärken der Kirche

Entscheidend für die Entwicklung der Kirche innerhalb der verschieden strukturierten ländlichen Räume sind die Wachstumskräfte, die ihr selbst eigen sind - oder geistlich gesprochen: die ihr „zukommen“. In theologischer Perspektive ist kirchliches Wachstum letztlich keine Kraft oder Fähigkeit, welche die Kirche besitzt. Diese Wachstumskraft der Kirche im eigentlichen Sinn ereignet sich, wo und wann Gott es will, und ist - in der freien Selbstbindung Gottes an Wort und Sakrament - menschlich unverfügbar. Äußerlich wahrnehmen lassen sich nur bestimmte individuelle und soziale Phänomene, die mit solchem Geisteswirken einhergehen. Diese Phänomene lassen sich in weiterem, theologisch abgeleiteten Sinne als „kirchliche Wachstumskräfte“ bezeichnen.

Zu diesen Wachstumskräften gehören:

  • ein belebendes Gottvertrauen,
  • ein großes allgemeines Vertrauen in die Kirche,
  • eine ansprechende, einladende und zugewandte Verkündigung des Evangeliums und Feier der Sakramente (und aller anderen kirchlichen Amtshandlungen),
  • eine gelebte Spiritualität, die sich in Gottesdienst, Gebet, Gemeinschaft und tätiger Nächstenliebe ausdrückt,
  • Menschen, die sich engagiert und kompetent in ihrer Kirche und für ihre Kirche einbringen (Ehrenamtliche),
  • eine vom Glauben geprägte Kultur des Umgangs in den Gemeinden und Einrichtungen,
  • Kirchengebäude, die dem Glauben „Raum geben“ und vom Glauben zeugen („durchbetete Räume“),
  • diakonisches Engagement,
  • die Bereitschaft zur Übernahme von Bildungsverantwortung.

Von ihnen hängt ab, wie sich die Kirche im Verhältnis zu den äußeren Rahmenbedingungen eines ländlichen Raumes entwickelt, ob sie im Rahmen ihrer gegebenen Möglichkeiten wächst oder abnimmt.

Den drei entfalteten Leitkriterien liegt ein gemeinsamer Perspektivwechsel in der Einschätzung der kirchlichen Situation zu Grunde. Es geht in ihnen darum, die Kirche in den verschiedenen ländlichen Räumen nicht an der Bewahrung des jetzigen Zustandes auszurichten, sondern an ihren Entwicklungsmöglichkeiten.


Fußnote

  1. Vgl. W. Huber, P. Steinacker, J. Friedrich (Hg.) : Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006, S. 203 - 278.

EKD-Text 87 als PDF-Datei

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