Wenn Menschen sterben wollen - Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung
Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 97, 2008
1. Einleitung
Die Beihilfe zur Selbsttötung oder, wie der eingeführte Fachbegriff dafür lautet, der assistierte Suizid findet seit einiger Zeit verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit. Für Schlagzeilen sorgte die medienwirksame Eröffnung des Büros einer schweizerischen Sterbehilfeorganisation in Hannover. Sie rückte die Praxis der Suizidbeihilfe jenseits der deutschen Grenzen in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Große Betroffenheit löste die durch diese Sterbehilfeorganisation organisierte Selbsttötung zweier Deutscher auf einem Parkplatz bei Zürich im November 2007 aus. Politiker verschiedener Parteien forderten daraufhin zumindest auf deutschem Boden gesetzliche Schranken für derartige Aktivitäten. Umstritten ist allerdings, ob diese sich nur auf die Suizidbeihilfe durch Sterbehilfeorganisationen beziehen sollen oder generell auf den assistierten Suizid. So gibt es umgekehrt Vorstöße, die ärztliche Suizidbeihilfe rechtlich zu erleichtern. Unter anderem wird darauf verwiesen, dass man sich fragen müsse, warum Deutsche ins Ausland fahren, um sich das Leben zu nehmen. Vor allem im juristischen Bereich gibt es verschiedene Überlegungen und Empfehlungen, die darauf zielen, die ärztliche Mitwirkung bei einem Suizid bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen straffrei zu stellen.
In der Problematik des assistierten Suizids bündeln sich verschiedene Aspekte und Fragen. Vielen Menschen erscheint der assistierte Suizid als ein möglicher letzter Ausweg aus einer Situation unerträglichen Leidens oder des krankheitsbedingten Verlustes der Kontrolle über das eigene Leben. Daher sollte es nach ihrer Auffassung diese Möglichkeit geben, und es sollte der Selbstbestimmung des einzelnen überlassen bleiben, ob er diese Möglichkeit für sich in Anspruch nehmen will. Es gehört zum Selbstverständnis unseres politischen Gemeinwesens, dass es seinen Bürgerinnen und Bürgern einen größtmöglichen Freiraum in ihrer Lebensgestaltung gewährt. Das schließt das Lebensende mit ein.
Auf der anderen Seite berührt dieses Thema elementare Fragen des Verständnisses menschlichen Lebens und Sterbens. Es besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass es gilt, Suizide nach Möglichkeit zu verhindern, und es werden erhebliche Anstrengungen zur Suizidprävention unternommen. Darin zeigt sich ein bestimmtes Verständnis von der Bestimmung menschlichen Lebens und von der gemeinsamen Aufgabe, Menschen nach Möglichkeit zum Leben zu helfen. Es ist die Spannung zwischen diesem Verständnis menschlichen Lebens und dem Respekt vor der Selbstbestimmung eines Menschen, der sein Leben beenden möchte, die das Thema des assistierten Suizids so konfliktreich macht. Die Kirche sieht sich durch dieses Thema zu einer Diskussion darüber herausgefordert, ob Christinnen und Christen den assistierten Suizid als eine mögliche Option für sich selbst und für andere verstehen können. Hier geht es um das christliche Verständnis menschlichen Lebens und Sterbens und um die Bedeutung des christlichen Glaubens für den Umgang mit Erfahrungen schweren Leidens.
Eine besondere Zuspitzung erfährt die Problematik in der kontrovers diskutierten Frage, ob der ärztlich assistierte Suizid explizit im Recht als unter bestimmten Voraussetzungen zulässig verankert werden sollte. Kritiker befürchten, dass dies erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis des ärztlichen Berufs und das ärztliche Ethos hätte, denn die Erwartungen, die sich an eine ärztliche Beteiligung am assistierten Suizid richten, stehen in Widerspruch zum geltenden ärztlichen Ethos. Zwar betrifft die Frage der Beihilfe zum Suizid nicht nur Ärztinnen und Ärzte, sondern auch Angehörige, das Pflegepersonal und die Seelsorge. Ärztinnen und Ärzte sind jedoch aufgrund der Verschreibungspflicht für tödlich wirkende Mittel in einer besonderen Weise involviert. Auch sind sie es, denen die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit einer suizidwilligen Person obliegt. Dies sind die Gründe, warum diese Berufsgruppe im Zentrum der rechtlichen Debatte steht. Davon betroffen sind freilich nicht nur Ärztinnen und Ärzte. Spiegelt sich doch im Verständnis der ärztlichen Aufgabe und des ärztlichen Berufs die Sicht wider, die eine Gesellschaft auf Leben und Sterben hat. Daher bedürfen die Auswirkungen, die eine rechtliche Verankerung der ärztlichen Suizidbeihilfe auf das ärztliche Ethos haben würde, einer besonders sorgfältigen Prüfung.
Absicht dieser Orientierungshilfe ist es, einen Beitrag zur Klärung dieser Fragen zu leisten. Sie will einerseits im Raum der Kirche eine Diskussion über das Thema des assistierten Suizids anregen, die dessen existentieller Dimension nicht ausweicht und die Bedeutung des christlichen Glaubens für den Umgang mit Leiden und Sterben ins Bewusstsein rückt. Sie wendet sich andererseits an eine weitere Öffentlichkeit und an die Entscheidungsträger im Bereich der Politik und des Rechtes. Sie versucht, möglichst umfassend die medizinischen, rechtlichen, gesellschaftlichen, theologischen und ethischen Aspekte zu berücksichtigen, die in dieser Frage zu bedenken sind. Dabei werden auch Erfahrungen aus dem benachbarten Ausland, besonders aus der Schweiz, einbezogen.