Wenn Menschen sterben wollen - Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung
Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 97, 2008
2. Die Diskussion über die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung
2.1 Medizinische und standesethische Aspekte
Die Begriffe „Ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung“ und „Ärztlich assistierter Suizid“ werden im Folgenden synonym verwendet. Hingegen werden die Begriffe Selbstmord und Freitod wegen ihres tendenziell diskriminierenden bzw. tendenziell verharmlosenden Charakters vermieden. Unter ärztlich assistiertem Suizid wird die Mitwirkung eines Arztes oder einer Ärztin bei der Selbsttötung eines Patienten oder Hilfesuchenden verstanden. Diese Mitwirkung kann in der Beschaffung eines tödlichen Medikamentes bestehen oder in der Beschaffung einer Vorrichtung, die dem Suizidwilligen die Selbsttötung ermöglicht, oder in der medizinischen Begleitung und Überwachung eines Suizids. Entscheidend ist in jedem Falle, dass der letzte Schritt durch den Suizidwilligen selbst ausgeführt wird. Dies unterscheidet die „Beihilfe zur Selbsttötung“ ausnahmslos von der „Tötung auf Verlangen“ (auch als „aktive Sterbehilfe“ bezeichnet), die in den Niederlanden und Belgien unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, in Deutschland aber verboten ist. Hierbei verabreicht der Arzt auf Wunsch des Patienten selbst das todbringende Medikament. Als Sterben-Lassen (auch als „passive Sterbehilfe“ bezeichnet) werden heutzutage zunehmend der dem Krankheitsverlauf angemessene und aufgrund ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willens des Patienten durchgeführte Therapieverzicht oder die Therapiebegrenzung bezeichnet, was beispielsweise auch die Reduzierung und das Absetzen der künstlichen Beatmung beinhalten kann. Unter „Sterbebegleitung“ wird die Unterstützung und Begleitung eines Menschen im absehbaren oder begonnenen Sterbeprozess verstanden. Daneben gibt es die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung straffreie sog. „indirekte Sterbehilfe“. Sie ist gegeben, wenn die ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation bei einem tödlich Erkrankten als unbeabsichtigte Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann. Allerdings kann beim heutigen Wissensstand der Palliativmedizin eine Lebensverkürzung bei einer fachgerechten Medikation nicht mehr eintreten. Die fachgerechte Schmerzmedikation hat nach Angaben der maßgeblichen Palliativmediziner eher eine lebensverlängernde, weil stressmindernde Wirkung.Die ärztliche Beihilfe zum Suizid gilt bislang als unvereinbar mit dem ärztlichen Ethos. Diesem zufolge ist es Aufgabe des Arztes, Kranke zu heilen und Leben zu schützen [1]. Die derzeitige ärztliche Berufsordnung hat dies noch erweitert um das Lindern von Schmerzen, die Begleitung von Sterbenden und den Schutz der Lebensgrundlagen [2]. Gleichzeitig hat aber in der ärztlichen Ethik in den letzten Jahrzehnten neben dem traditionellen Grundsatz ärztlichen Handelns, der Sorge um das Patientenwohl, das Prinzip der Selbstbestimmung des Patienten einen bedeutsamen Stellenwert erlangt. Im konkreten Fall können die Selbstbestimmung des Patienten und das Gebot der ärztlichen Fürsorge in Konflikt geraten. Ärztliche Hilfe zum Suizid steht dabei gegen den Auftrag des Arztes zur Erhaltung von Leben, zur Wiederherstellung der Gesundheit, zur Linderung von Leiden und zum Beistand bei Sterbenden. Während es mit traditionellem ärztlichen Handeln vereinbar ist, im Sterbeprozess Hilfe, Schmerzlinderung und Begleitung zu leisten, verlangt der Wunsch nach Hilfe zum Suizid, dass mit ärztlicher Unterstützung ein Leben absichtlich und geplant vorzeitig beendet wird.
Im Jahr 2005 begingen in Deutschland 10.260 Menschen einen Suizid (7.523 Männer; 2.737 Frauen) [3]. Es muss hierbei aber von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden; geschätzt wird eine um ca. 25% höhere Anzahl [4]. Verlässliche Zahlen über Suizidversuche liegen nicht vor; geschätzt werden ca. zehnmal so viele Suizidversuche. Die Anzahl der Suizide insgesamt hat in Deutschland in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Die Suizidrate steigt mit dem Lebensalter; Suizidversuche kommen dagegen vermehrt bei jüngeren Menschen vor. Zwei Drittel begehen nur einen Suizidversuch, ein Drittel begeht mindestens einen weiteren Versuch.
Als Ursache der Suizide und Suizidversuche werden am häufigsten psychische Störungen wie Depressionen und Schizophrenie angegeben. Psychiater gehen davon aus, dass hierbei die Selbstbestimmungsfähigkeit häufig eingeschränkt ist. Ein reiflich überlegter sog. Bilanzsuizid, z. B. im Zusammenhang mit einer schwerwiegenden körperlichen Erkrankung, wird eher als Ausnahme angesehen [5]. Im Zusammenhang mit schweren körperlichen Erkrankungen sind Wünsche nach Suizid häufig verbunden mit Depression und Hoffnungslosigkeit. Wird auf letztere mit palliativen Angeboten und sozialer Unterstützung eingegangen, verschwindet meistens der Wunsch nach einem vorzeitigen Tod [6].
Nach fachärztlicher Einschätzung bestehen häufig Zweifel, ob der Wunsch des Patienten Ausdruck einer selbstbestimmten Entscheidung ist oder ob die Selbstbestimmung nicht vielmehr durch psychische Faktoren eingeschränkt ist, die durch die Erkrankung bedingt sind [7]. Darüber hinaus ist in manchen Fällen schwer abzuschätzen, welchen Einfluss dem Patienten nahestehende Personen und gesellschaftliche Verhaltenserwartungen haben. Seitens der Palliativmedizin, deren Aufgabe die Schmerz- und Leidminderung ist, wird auf den appellativen Charakter des Suizidversuchs als Ruf nach Hilfe hingewiesen. Erfahrungsgemäß verschwinde der Wunsch zu sterben, wenn kompetente Hilfe angeboten würde. Die ärztliche Beurteilung, ob eine Entscheidung zum Suizid selbstbestimmt gefällt wird, kann im Einzelfall sehr schwierig sein.
In der Diskussion wird darauf hingewiesen, dass es argumentativ nur schwer begründbar ist, einerseits den ärztlich assistierten Suizid moralisch zu legitimieren, andererseits gleichzeitig die Tötung auf Verlangen zu untersagen. Denn Letzteres würde bedeuten, dass einem Patienten, der aufgrund seiner Erkrankung nicht in der Lage ist, einen Suizid eigenhändig durchzuführen, diese Möglichkeit in der Regel versagt bliebe. Würde es andererseits Ärzten gestattet, in solchen Fällen eine Tötung auf Verlangen durchzuführen, wäre argumentativ eine ethische Abgrenzung nicht mehr möglich, und eine Ausweitung der Tötung auf Verlangen auch auf andere als unmittelbare Sterbesituationen und auf Situationen fehlender Einwilligungsfähigkeit wäre zu befürchten.
Aus standesethischer Sicht würde eine Öffnung in Richtung auf die ärztliche Beihilfe zum Suizid einen einschneidenden Wandel der Grundprinzipien ärztlichen Handelns bedeuten. Das Vertrauensverhältnis zu einem Berufsstand, dessen Aufgabe die Hilfe bei der Heilung und Linderung von Krankheiten und Schmerzen ihrer Patienten ist, könnte gefährdet werden. Dabei wenden sich nur sehr wenige Patienten mit der Bitte um das Verschreiben oder Besorgen von todbringenden Medikamenten an Ärzte und Sterbehilfeorganisationen [8].
Der ärztlich assistierte Suizid widerspricht, so die Verlautbarungen der ärztlichen Standesvertretungen, dem ärztlichen Ethos. Die Bundesärztekammer lehnt den ärztlich assistierten Suizid eindeutig ab: „Für die deutsche Ärzteschaft ist Tötung von Patienten, und dazu gehört auch der assistierte Suizid, tabu. Und dabei bleibt es auch!“ [9]. Als angemessenes Vorgehen werden eine professionelle Betreuung, menschliche Zuwendung und die Begleitung eines Patienten gesehen. Auch die Einrichtung von Hospizen wird neben dem Aufbau der Palliativmedizin als unterstützend gewertet. Initiativen zur Sterbehilfe werden jedoch abgelehnt. Hierbei spielt auch das Argument eine Rolle, dass bei menschlicher Zuwendung und Schmerzlinderung selbst bei schwerkranken Patienten erfahrungsgemäß das Verlangen nach Sterbehilfe schwindet. Nach den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung ist es Aufgabe des Arztes „unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. [...] Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein. Diese Grundsätze können dem Arzt die eigene Verantwortung in der konkreten Situation nicht abnehmen. Alle Entscheidungen müssen individuell erarbeitet werden.“ [10]
Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin verurteilt den assistierten Suizid. Sie nimmt insbesondere Anstoß daran, dass damit ein „Sterben in Würde“ propagiert, andere Sterbesituationen dagegen als unwürdig dargestellt und damit der „allzu menschlichen Angst vor dem Sterben neue Nahrung“ gegeben würde [11]. Sie spricht sich stattdessen für bessere Angebote bei der medizinischen, pflegerischen und psychosozialen Begleitung am Lebensende aus. Ebenso bezeichnet die World Medical Association die Beihilfe zum Suizid als unethisch („unethical“) und folgert daraus, dass diese verurteilt werden müsse. Der einzelne Arzt und die ärztlichen Organisationen sollten in Ländern, in denen dies erlaubt sei, dem nicht folgen [12]. Empirische Studien zeigen, dass Ärzte in Deutschland einer ärztlichen Assistenz zur Selbsttötung mehrheitlich kritisch gegenüber stehen [13].
2.2 Rechtliche Aspekte
2.2.1 Derzeitige Rechtslage in Deutschland
Die Selbsttötung als solche ist nach deutschem Recht straflos, denn die Tötungsdelikte beziehen sich auf die Tötung eines anderen Menschen. Daher ist auch die Anstiftung und Beihilfe zum Suizid in Deutschland nicht strafbar [14], es sei denn, der Suizident konnte aufgrund von Willensmängeln nicht freiverantwortlich [15] handeln. Im letzteren Fall kann ein Tötungsdelikt (Totschlag) in mittelbarer Täterschaft vorliegen, das heißt, dass der Täter sich zur Tatausführung eines anderen Menschen als Werkzeug bzw. wie eines Werkzeugs bedient hat. Ein Recht auf Selbsttötung ist aber nicht anerkannt.
Die Abgrenzung der straflosen Beihilfe zur Selbsttötung von der strafbaren Tötung auf Verlangen kann im Einzelfall schwierig sein. Letztere liegt vor, wenn der Täter durch das ausdrückliche und ernsthafte Verlangen des Opfers zu dessen Tötung bestimmt worden ist (auch dann, wenn die Tat nur zu einer geringfügigen Lebensverkürzung führt). Was aber ist z. B., wenn sich das Opfer an der Ausführung der Tat über das Verlangen nach Tötung hinaus beteiligt? In der Rechtsprechung wird strafbare Tötung von der straflosen Beihilfe zum Suizid anhand des Kriteriums der sog. Tatherrschaft unterschieden. Straflose Beihilfe soll nur dann vorliegen, wenn der Suizident den entscheidenden Akt der Selbsttötung selbst ausführt, d. h. die Herrschaft über den todbringenden Moment in der Hand behält. Hat der Suizident nicht eindeutig die Tatherrschaft, kann ein strafbarer Totschlag oder, falls der Tötung ein ernstliches und ausdrückliches Verlangen des Getöteten vorangegangen ist, eine Tötung auf Verlangen vorliegen.
Eine Strafbarkeit der „Beihilfe zum Suizid“, und zwar als täterschaftliche Mitwirkung an der „Selbsttötung“, kann aber gleichwohl gegeben sein, wenn der Gehilfe eine Garantenpflicht (synonym: Einstandspflicht) gegenüber dem Suizidenten hat. Denn nach den allgemeinen Regeln des Strafrechts (§ 13 StGB) kann eine strafbare Tötung nicht nur durch aktives Tun, sondern auch durch Unterlassen begangen werden, wenn der Täter auf Grund seiner besonderen Stellung und Verantwortung gegenüber dem Opfer, etwa als behandelnder Arzt oder Angehöriger, dessen Wohl verpflichtet war (Garantenpflicht) und entgegen dieser Verpflichtung mögliches rettendes Tun bewusst unterlassen und den Todeseintritt nicht abgewendet hat. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung [16] ist der Arzt auch bei einem freiverantwortlich begonnenen Suizid nach Eintritt der Handlungsunfähigkeit des Suizidenten aufgrund seiner Garantenpflicht zur Hilfe verpflichtet, solange Rettung noch möglich ist. Denn sobald der Suizident die Möglichkeit der Beeinflussung des Geschehens verloren hat, hängt der Eintritt des Todes allein vom Verhalten des Garanten ab, es sei denn, Rettung ist dann nicht mehr möglich, etwa weil ein sofort tödlich wirkendes Mittel eingenommen wurde.
Daneben kann auch der (mit erheblich geringerer Strafdrohung als die Tötungsdelikte belegte) Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung bei Unglücksfällen erfüllt sein (§ 323c StGB) [17]), soweit man den Selbsttötungsversuch als „Unglücksfall“ bewertet. Diese Strafdrohung gilt unabhängig von einer Garantenpflicht für jedermann. Nach der Rechtsprechung des BGH [18] ist der freiverantwortete Suizid im Zweifel als Unglücksfall anzusehen. Er begründet dies damit, dass die jedermann treffende strafbewehrte Hilfspflicht nicht davon abhängig gemacht werden könne, ob im konkreten Fall der Suizident einen freien Entschluss gefasst hat oder in seiner Willensbildung beeinträchtigt gewesen sei. Denn dies könne innerhalb der meist kurzen Zeitspanne, die für eine lebensrettende Entscheidung am Unglücksort bleibe, kaum jemand zuverlässig beurteilen. § 323c StGB diene unabhängig von einer etwaigen Freiverantwortlichkeit des Willensentschlusses dem vorrangig zu leistenden solidarischen Lebensschutz.
2.2.2 Diskussion der Rechtslage und Änderungsvorschläge
Die bis zum heutigen Tag nicht revidierte Rechtsprechung des BGH zur Rettungspflicht des Garanten und zur unterlassenen Hilfeleistung wird von der Rechtslehre ganz überwiegend abgelehnt: Damit werde das Selbstbestimmungsrecht des frei verantwortlichen Suizidenten nicht ausreichend beachtet [19], und es sei widersprüchlich, dem Suizidgehilfen zwar die Beschaffung eines Tötungsmittels zu gestatten, ihn aber zum Einschreiten zu verpflichten, sobald das Mittel wirke und der Suiziden nicht mehr selbst handlungsfähig sei. Dies führe in der Praxis zu unwürdigen Umgehungsstrategien (der Arzt muss sich rechtzeitig entfernen). In den letzten Jahren wurden etliche Änderungsvorschläge gemacht, die sich teilweise auf das Strafrecht mit dem Ziel der Einschränkung der Handlungspflicht des Garanten beziehen, aber darüber hinaus auch auf eine Änderung des ärztlichen Berufs- bzw. Standesrechts abzielen, um eine ärztliche Begleitung bis zum Eintritt des Todes zu ermöglichen.
Der 66. Deutsche Juristentag von 2006 empfiehlt zu regeln, dass straffrei ist, wer in Kenntnis der Freiverantwortlichkeit einer Selbsttötung diese nicht verhindert oder eine nachträgliche Rettung unterlässt und empfiehlt, einen Straftatbestand einzuführen, der die Förderung der Selbsttötung bei Handeln aus Gewinnsucht unter Strafe stellt [20]. Damit würde für diese Fälle gleichzeitig die Straffreiheit im Hinblick auf § 323c StGB klargestellt. Weiter wird empfohlen, dass die ausnahmslose berufsrechtliche Missbilligung des ärztlich assistierten Suizids einer differenzierten Beurteilung weichen sollte, welche die Mitwirkung des Arztes an dem Suizid eines Patienten mit unerträglichen, unheilbaren und mit palliativmedizinischen Mitteln nicht ausreichend zu linderndem Leiden als eine nicht nur strafrechtlich zulässige, sondern auch ethisch vertretbare Form der Sterbebegleitung toleriert [21]. Der Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer („Alternativ-Professoren“) schlug in ähnlicher Weise 2005 in seinem „Alternativentwurf Sterbebegleitung“ [22] vor, im Strafrecht zu regeln, dass die Unterlassung der Rettung eines (volljährigen) Suizidenten nach einem Selbsttötungsversuch nicht rechtswidrig ist, wenn die Selbsttötung auf einer freiverantwortlichen, ernstlichen und ausdrücklich erklärten oder aus den Umständen erkennbaren Entscheidung beruht. Außerdem soll in einem „Sterbebegleitungsgesetz“ [23] u. a. geregelt werden, dass ein Arzt auf ausdrückliches und ernstliches Verlangen eines tödlich Erkrankten nach Ausschöpfung aller therapeutischen Möglichkeiten zur Abwendung eines unerträglichen und unheilbaren Leidens Beihilfe zur Selbsttötung leisten darf. Er soll dazu zwar nicht verpflichtet sein, auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten soll er aber an einen anderen Arzt verweisen, wenn er selbst zur Beihilfe nicht bereit ist.
Der Nationale Ethikrat [24] hat im Jahr 2006 in seiner Stellungnahme zu „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ [25] auch Empfehlungen zum Suizid vorgelegt: Bestehen bei einem Suizidversuch eines schwer kranken Menschen klare Anhaltspunkte, dass der Versuch aufgrund eines ernsthaft bedachten Entschlusses erfolgt und dass der Betroffene jegliche Rettungsmaßnahme ablehnt, sollen Personen, die beispielsweise als Ärzte oder Angehörige eine besondere Einstandspflicht haben, von einer lebenserhaltenden Intervention absehen dürfen. Auch der Ethikrat geht jedoch wie die anderen vorstehenden Vorschläge über diese Neutralisierung der Garanten- bzw. Einstandspflicht hinaus. Denn ein Teil der Ethikratsmitglieder schlägt vor, die Handlungsmöglichkeiten der Ärzte dahingehend zu erweitern, dass es Ärzten möglich sein sollte, einem Patienten bei der Durchführung eines Suizids behilflich zu sein, sofern ein unerträgliches und unheilbares Leiden des Patienten vorliegt, der Patient entscheidungsfähig ist und sein Wunsch zu sterben – nach Beratung und Bedenkzeit – als endgültig anzusehen ist [26]. Daneben wird ebenfalls vorgeschlagen, die gewinnorientiert betriebene Beihilfe zum Suizid unter Strafe zu stellen [27].
Laut dem Bericht der Arbeitsgruppe des Bundesministeriums der Justiz zu „Patientenautonomie am Lebensende“ vom Juni 2004 sollte dagegen nur die strafbewehrte Pflicht des Arztes zur Verhinderung eines Suizids eingeschränkt werden. Es heißt hier: „Eine Ärztin oder ein Arzt ist gehalten, einen Suizid im Rahmen der ärztlichen Möglichkeiten zu verhindern. Entschließt sich eine Patientin oder ein Patient trotz aller ärztlichen Bemühungen nach freiverantwortlicher Überlegung dazu, ihr oder sein Leben zu beenden, so soll keine ärztliche Verpflichtung bestehen, gegen den ausdrücklichen Willen der oder des Betroffenen lebenserhaltend einzugreifen [28].
2.3 Aktivitäten von Sterbehilfeorganisationen und die Debatte darüber
2.3.1 Die Diskussion in Deutschland
Da nach dem ärztlichen Berufsrecht unabhängig vom (Straf-) Recht jede Mitwirkung von Ärzten an Selbsttötungshandlungen unethisch ist, können Sterbehilfeorganisationen in Deutschland keine wirksamen Medikamente zur Selbsttötung durch Ärzte beschaffen, abgesehen davon, dass ein Strafbarkeitsrisiko auch der nichtärztlichen Sterbehelfer nach § 323c StGB im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden kann. Derartige Organisationen können aber in Deutschland beratend tätig sein und die Möglichkeit der Selbsttötung im Ausland vermitteln, indem etwa ein Arzt in der Schweiz vermittelt wird, der das todbringende Medikament verschreibt, und eine Wohnung in der Schweiz, in welcher der Suizid – im Beisein eines ebenfalls vermittelten ehrenamtlichen Sterbehelfers – ausgeführt werden kann.
Aus Anlass der im September 2005 in Hannover erfolgten Gründung der deutschen Sektion einer Schweizer Sterbehilfevereinigung wurden in der Politik die Möglichkeiten einer über die strafrechtlichen Grenzziehungen hinausgehenden gesetzlichen Beschränkung der Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen diskutiert. Das niedersächsische Justizministerium erarbeitete einen Gesetzentwurf zum Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung, dessen Einbringung in den Bundesrat aber an der in Niedersachsen mitregierenden FDP scheiterte. Die FDP wandte sich gegen ein grundsätzliches Verbot der Beratung zum Suizid; lediglich das Verbot einer gewinnorientierten Suizidberatung konnte sie sich vorstellen. Die CDU-regierten Länder Saarland, Thüringen und Hessen brachten daraufhin im März 2006 einen Gesetzentwurf zum Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung in den Bundesrat [29] ein. Obwohl von Politikern des Bundes und der Länder in der Diskussion seitdem immer wieder auf die Notwendigkeit einer solchen gesetzlichen Regelung verwiesen wird, ist der Entwurf jedoch bisher vom Bundesrat nicht verabschiedet und dem Bundestag nicht zur Beratung zugeleitet worden [30]. Nach diesem Gesetzentwurf soll in einem neuen § 217 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden, wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit vermittelt oder verschafft [31]. Von einem solchen Verbot wäre auch die Hilfeleistung von Sterbehilfeorganisationen bei einer Selbsttötung mit andern Methoden als durch Medikamente erfasst. Geschäftsmäßig im Sinne der Vorschrift soll bereits derjenige handeln, der die Wiederholung gleichartiger Taten zum Gegenstand seiner Beschäftigung macht, einschließlich nicht entgeltlicher Hilfeleistung, soweit diese in organisierter oder gleichartig wiederkehrender Form erfolgt. Die individuelle Hilfe beim Sterben, die durch enge Vertraute und Angehörige von Heilberufen im Rahmen medizinischer Behandlung geleistet wird, bleibt im Rahmen der bisher zulässigen passiven und indirekten Sterbehilfe damit weiterhin möglich ebenso wie der bloße Gedankenaustausch über eine Selbsttötung, da dies keine Vermittlung im Sinne der Herstellung konkreter persönlicher Beziehungen zwischen Sterbewilligen und dem Gehilfen zur Selbsttötung und auch keine Verschaffung derartiger Gelegenheiten ist. Mit dem Verbot soll vor allem der möglichen Ausbreitung von Selbsttötungen und dem Entstehen eines Erwartungsdrucks auf schwerkranke und alte Menschen, die Selbsttötung als leichteren Weg in Anbetracht von Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu wählen, sowie der Gefahr der Kommerzialisierung von Selbsttötungen entgegen gewirkt werden. Nach dem „Jahresbericht“ einer schweizerischen Sterbehilfeorganisation haben im Zeitraum seit Eröffnung einer Geschäftsstelle in Deutschland am 26.9.2005 bis zum 31.12.2006 bereits 69 Mitglieder der neugegründeten Sektion Deutschland e.V. ihr Leben mit Hilfe der Vereinigung in der Schweiz beendet.
2.3.2 Suizidbeihilfe in der Schweiz
Im Blick auf die in Deutschland erwogenen rechtlichen Änderungen bezüglich der Suizidbeihilfe ist ein Vergleich mit anderen Ländern instruktiv, in denen eine ähnliche Rechtslage bereits besteht. In den Niederlanden ist sowohl die aktive Sterbehilfe als auch die Suizidbeihilfe unter bestimmten Bedingungen straffrei. Dabei spielt die Suizidbeihilfe eine vergleichsweise geringe Rolle, weil es die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe gibt. Dies ist anders in der Schweiz, in der die aktive Sterbehilfe verboten, die Suizidbeihilfe jedoch möglich ist. Insofern bietet sich im Blick auf die in Deutschland erwogenen rechtlichen Änderungen ein Vergleich mit der Schweiz an. Die dortige Rechtslage hat eine Reihe von Auswirkungen im gesellschaftlichen, politischen und ärztlichen Bereich, die im Folgenden dargestellt werden sollen.
Art. 115 des Schweizer Strafgesetzbuches (StGB) stellt die Beihilfe zum Suizid straffrei, wenn sie nicht aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt. Suizidbeihilfe kann danach durch jede Bürgerin und jeden Bürger geleistet werden und ist nicht auf die Ärzteschaft beschränkt. Art. 115 StGB ist die rechtliche Grundlage für die Entstehung und die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen [32]. Man kann diesen Organisationen beitreten und zahlt einen Mitgliedsbeitrag, mit dem deren Aktivitäten finanziert werden. Dass sie für die Finanzierung ihrer Tätigkeit Beiträge erheben, wird nicht grundsätzlich als im Widerspruch stehend zu der Bestimmung erachtet, dass die Suizidbeihilfe nicht aus selbstsüchtigen Motiven erfolgen darf. Die Organisationen arbeiten nach selbst gegebenen Regeln. Einige Kantone gewähren diesen Organisationen Zugang zu Alters- und Pflegeheimen, was zu kontroversen öffentlichen Diskussionen geführt hat. Besonders umstritten ist der Zugang zu Akutkrankenhäusern. Kritisch wird auch der durch diese Organisationen ausgelöste sogenannte „Sterbetourismus“ aus anderen Ländern diskutiert, in denen die Beihilfe zum Suizid nicht erlaubt ist oder in denen es Sterbehilfeorganisationen nach Schweizer Muster nicht gibt. Die oftmals kurze Frist zwischen Einreise und assistiertem Suizid wirft Fragen auf bezüglich der zureichenden Abklärung des Suizidwunsches. Im März 2008 sorgte eine Sterbehilfeorganisation für Schlagzeilen, die sich auf die Suizidbeihilfe bei Personen aus dem Ausland spezialisiert hat. Sie leistete Suizidbeihilfe mittels eines mit Helium gefüllten Ballons, der zum Erstickungstod des Suizidwilligen führt. Das Motiv für diese Praxis liegt darin, die Suizidbeihilfe von der ärztlichen Verschreibung eines todbringenden Mittels unabhängig zu machen, bei der der Arzt zur Abklärung der Konstanz des Suizidwunsches verpflichtet ist, was bei Personen aus dem Ausland mit großem Aufwand verbunden ist. Insgesamt scheiden in der Schweiz pro Jahr ca. 400 Menschen durch assistierten Suizid aus dem Leben. Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob der Staat über den Art. 115 StGB hinaus weitergehende Rechtsbestimmungen erlassen sollte, die für die Sterbehilfeorganisationen bestimmte Sorgfaltspflichten vorschreiben, insbesondere für die Suizidbeihilfe bei psychisch Kranken und Kindern und Jugendlichen. Die Schweizer Nationale Ethikkommission für den Bereich der Humanmedizin hat solche Rechtsbestimmungen gefordert. Das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hat dies bislang abgelehnt. Der Hauptgrund dafür liegt in der Erwägung, dass mit der Schaffung eigener Gesetze und staatlicher Überwachungsinstanzen für Sterbehilfeorganisationen diese mit einer staatlichen Zertifizierung und Legitimation versehen würden. Das Departement erachtet die bestehenden Gesetze als ausreichend, um Missbräuchen vorzubeugen, und sieht die Kantone und Gemeinden in der Pflicht in Bezug auf die Anwendung des geltenden Rechts. Kritiker sind dagegen der Auffassung, dass das geltende Recht nur eine unzureichende Handhabe biete, weshalb es rechtlicher Regelungen auf Bundesebene bedürfe. Eine Änderung des Artikels 115 StGB wird vom eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement ausdrücklich ausgeschlossen, da die Probleme im Zusammenhang der Suizidbeihilfe nicht aus diesem Artikel resultierten, sondern praktischer Natur seien und die Verhinderung von Missbräuchen beträfen.
Eine wichtige Rolle spielt in der Schweizer Diskussion die Berufung auf die Selbstbestimmung des Suizidwilligen. Teilweise wird die Suizidbeihilfe mit dem Respekt vor der Selbstbestimmung des Suizidwilligen begründet. Befürworter und Gegner der Suizidbeihilfe scheinen sich nach dieser Sicht darin zu unterscheiden, dass die einen die Selbstbestimmung von Suizidwilligen respektieren, während die anderen dies nicht tun. Die Kontroverse um die Suizidbeihilfe scheint sich solchermaßen um Liberalität oder Illiberalität zu drehen. Doch gibt es in der Schweizer Debatte auch Stimmen, die darauf hinweisen, dass der Respekt vor der Selbstbestimmung eines Suizidwilligen in keiner Weise dazu verpflichtet, ihm bei seinem Vorhaben beizustehen. Er bedeutet lediglich, dass man ihn nicht daran hindert. Für die Beihilfe zum Suizid bedarf es daher eines anderen, zusätzlichen Motivs. Man kann die Selbstbestimmung eines Suizidwilligen respektieren, ohne selbst Beihilfe zum Suizid zu leisten. Dieser Punkt verdient Beachtung, damit in dieser Debatte nicht falsche Fronten aufgebaut werden.
Wenn auch Artikel 115 StGB für jede Bürgerin und jeden Bürger der Schweiz die Suizidbeihilfe unter Straffreiheit stellt, so sind doch Ärztinnen und Ärzte in besonderer Weise von diesem Artikel betroffen, und zwar einerseits aufgrund der Verschreibungspflicht für das bei der Suizidbeihilfe verwendete todbringende Mittel und andererseits deshalb, weil sie es in ihrem Beruf in besonderer Weise mit suizidwilligen Personen zu tun haben. Dadurch werden Fragen aufgeworfen, die das ärztliche Ethos betreffen. In der Schweiz ist auf institutioneller Ebene für solche Fragen die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) zuständig, die eine Zentrale Ethikkommission (ZEK) unterhält und über diese arztethische Richtlinien für die Ärzteschaft erarbeitet.
Die Akademie hat ihre Haltung zur Suizidbeihilfe am klarsten in den „Medizinisch-ethischen Richtlinien für die Betreuung von Patienten am Lebensende“ von 2004 formuliert. Danach ist die Suizidbeihilfe kein Teil der ärztlichen Tätigkeit, da sie nicht deren Zielen dient, die als Heilung, Linderung und Begleitung bestimmt werden. Dennoch äußern sich die Richtlinien zu dem „schwer lösbaren Konflikt“, in den ein Arzt geraten kann, wenn ihn ein Patient um Beihilfe zum Suizid bittet. Die Entscheidung eines Arztes, Beihilfe zum Suizid zu leisten, kann nach Auffassung der Richtlinien nur als persönliche Gewissensentscheidung mit Blick auf den individuellen Patienten und dessen besondere Situation getroffen werden. Sie verzichten deshalb darauf, Kriterien dafür aufzustellen, wann die Situation eines suizidwilligen Patienten die ärztliche Suizidbeihilfe gestattet. Müsste doch in diesem Fall befürchtet werden, dass die Entscheidung zur ärztlichen Suizidbeihilfe zu einer Routineentscheidung wird, die sich nicht am individuellen Suizidwilligen, sondern an Anwendungsfällen allgemeiner Regeln orientiert. Die zentrale Aussage lautet daher, dass „die Entscheidung, im Einzelfall Suizidbeihilfe zu leisten, […] als solche zu respektieren“ ist. Diese Formulierung wurde mit Bedacht gewählt. Die Respektierung einer Gewissensentscheidung ist etwas anderes als die Billigung der daraus resultierenden Handlung. Die Richtlinien enthalten sich mit dieser Formulierung jedes Urteils über die Richtigkeit oder moralische Vertretbarkeit der Beihilfe zum Suizid durch Ärztinnen und Ärzte.
Obgleich die Richtlinien die ärztliche Suizidbeihilfe nicht als Teil der ärztlichen Tätigkeit betrachten, erlegen sie Ärztinnen und Ärzten für den Fall einer solchen persönlichen Entscheidung die Verantwortung für die Prüfung bestimmter Mindestanforderungen auf: Danach ist ärztliche Suizidbeihilfe nur zulässig, wenn die Erkrankung des Patienten die Annahme rechtfertigt, dass das Lebensende nahe ist, wenn alternative Möglichkeiten der Hilfestellung erörtert und, soweit gewünscht, auch eingesetzt wurden, wenn der Patient urteilsfähig, sein Wunsch wohlerwogen, ohne äußeren Druck entstanden und dauerhaft ist und wenn dies von einer Drittperson überprüft worden ist, wobei diese nicht zwingend ein Arzt sein muss.
Die Akademie versucht mit diesen Richtlinien eine schwierige Balance zu halten zwischen dem überkommenen ärztlichen Ethos einerseits und der Schweizer Rechtslage andererseits. Freilich ist dies nicht ohne Auswirkungen auf das ärztliche Ethos. Eröffnet doch die eingenommene Position die Möglichkeit, dass ein Arzt einerseits in seiner Funktion als Arzt tätig werden kann und dass er andererseits in einer anderen Rolle von seinen medizinischen Kompetenzen Gebrauch machen kann, und dies in einer gewissen Spannung zu den Zielen, auf die ihn sein ärztlicher Beruf verpflichtet.
Seither gibt es von verschiedenen Seiten Vorstöße dahin, dass die Akademie ihre Haltung in Richtung einer weitergehenden Öffnung ändern und die ärztliche Suizidbeihilfe nicht auf Patienten am Lebensende einschränken solle, sondern Richtlinien und Sorgfaltskriterien auch für Patienten zum Beispiel mit psychischen Erkrankungen erlassen solle. Begründet wird dies unter anderem damit, dass das Schweizer Recht und die Rechtsprechung den Ärztinnen und Ärzten eine zentrale Kontrollfunktion bei der Suizidbeihilfe übertragen habe, weshalb sie sich nicht aus der Verantwortung stehlen dürften. Bislang hält die Akademie an ihrer Haltung fest.
Anzumerken bleibt, dass der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) die Position der Akademie in der Frage der ärztlichen Suizidbeihilfe vorbehaltlos unterstützt [33]. An dieser Stelle zeigt sich, dass Kirchen in einzelnen Ländern gelegentlich die Tendenz haben, sich an der Diskussionslage im eigenen Land und in der eigenen Kirche zu orientieren, ohne das Gespräch mit Kirchen anderer konfessioneller Traditionen oder mit Kirchen in anderen Ländern zu suchen. Der ebenso solidarische wie kritisch-konstruktive Dialog zwischen den Kirchen, mithin die ökumenische Dimension der kirchlichen Existenz, kann demgegenüber vor einer einseitigen Sichtweise bewahren.