Ernährungssicherung und Nachhaltige Entwicklung
I. Vorbemerkungen
1. Zum Anlass des Textes – Problemanzeigen
Die Landwirtschaft ist die wichtigste ökonomische Aktivität des Menschen, obwohl sie in entwickelten Ländern nur noch einen Bruchteil der wirtschaftlichen Wertschöpfung ausmacht. Die Produktion von Nahrungsmitteln und die damit verbundene Nutzung des Landes und die Arbeitsleistung der dort Tätigen unterscheiden sich in zwei Aspekten grundlegend von industriellen Tätigkeiten und Dienstleistungen: Sie sind einerseits unmittelbar mit der Natur verbunden und von ihr abhängig, andererseits befriedigen sie mit ihren Ergebnissen ein existentielles Grundbedürfnis der Menschen: die Nahrung. Auf die Sicherung der Ernährung kann kein ökonomisches System verzichten. Die Primärprodukte der Landwirtschaft sind Pflanzen und Tiere, die grundlegenden Ressourcen sind von den Umweltmedien Wasser, Boden und Luft existenziell abhängig. Auf welche Weise die verfügbaren Ressourcen jedoch genutzt, ausgebeutet oder bewahrt und erneuert werden, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab: dem jeweiligen politischen System, der Agrarverfassung und den Besitzverhältnissen, den ökonomischen Bedingungen, dem Wissen um die Vorgänge in der Natur und dem technischen Können, schließlich der Einstellung der Menschen zur Natur. All diese Faktoren bestimmen in der Summe, wie die Menschen mit der ihnen anvertrauten Schöpfung umgehen.
Der vorliegende Text wurde geschrieben, weil wir die Sorge teilen, dass weder das gegenwärtige System der Landwirtschaft noch einige der wichtigsten Trends in seiner Entwicklung nachhaltig und zukunftsfähig sind. Ein großer Teil der Weltbevölkerung hat die Ressourcen und damit die Fähigkeit verloren, für sich selbst sorgen zu können. Diese Menschen sind von einem äußerst instabilen Wirtschaftssystem abhängig geworden, einem System, das zugleich immer weniger Menschen benötigt, um sich selbst zu reproduzieren. Jede Region aber, in der das Überleben ihrer Bewohnerinnen und Bewohner davon abhängt, dass Nahrungsmittel von außerhalb gekauft werden, muss Jahr für Jahr eigene Produkte und Dienstleistungen exportieren und sich damit auf Gedeih und Verderb den Risiken extrem instabiler Weltmärkte aussetzen. Der Prozess der Modernisierung hat zunehmend zu einer Entbäuerlichung und zu einer Verstädterung der Weltgesellschaft geführt. Es muss gefragt werden, ob dieser Prozess, wenn auch mit einzelnen Maßnahmen zur Reduzierung der Anpassungskosten, weiter fortgesetzt werden soll oder ob ihm grundlegende Alternativen gegenübergestellt werden können. Bei diesen Diskussionen muss das Leitbild der nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklung verstärkte Beachtung finden.
Im Blick auf die derzeit stattfindenden internationalen Verhandlungen zu Fragen von Weltwirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung möchte die vorliegende Schrift einen Beitrag zur kritischen Diskussion leisten und damit Anstöße für nötige Reformen geben. Dabei konzentriert sich der Text auf den globalen Problemzusammenhang von Ernährungssicherung und nachhaltiger Entwicklung; andere Fragen wie die derzeit stattfindende Umstrukturierung der Landwirtschaft in mittel- und osteuropäischen Ländern werden hier nicht eigens thematisiert.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es notwendig ist, die Landwirtschaft weltweit unter den Leitbildern der Nachhaltigkeit und der Regionalität zu stärken und Bäuerinnen und Bauern ein Auskommen auf ihrem Land zu sichern. Hierzu ist es sinnvoller, auf Erfahrungen und traditionelles Wissen über Sorten, Anbaumethoden und Bodenschutz aufzubauen, als den in den Industriestaaten vorherrschenden Landbaumethoden weiter Vorschub zu leisten. Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben sich seit Jahrzehnten immer wieder mit den hier angesprochenen Problembereichen befasst:
- Die EKD-Denkschrift „Neuordnung und Landwirtschaft" von 1965 argumentiert noch ganz auf BRD (West)- und EWG-Hintergrund für den „Landwirt als Unternehmer" und für die Abkehr von einer Subventionspolitik, die Überproduktion und Verdrängungswettbewerb fördert. Umweltschutz kam nur als eine zu vergütende und nicht produktionsrelevante Landschaftsschutz-Leistung der Landwirtschaft in den Blick. Der weitere internationale und entwicklungspolitische Zusammenhang wurde in der Denkschrift noch nicht angesprochen; die EWG war zu dieser Zeit in der Bilanz auch noch kein Agrar-Exporteur.
- Die EKD-Denkschrift „Landwirtschaft im Spannungsfeld" von 1984 war Folge der Diskussion über entwicklungspolitische, ökologische und agrarsoziale Konsequenzen der ständig steigenden Agrar-Importe und -Exporte der EWG, die durch eine pointierte Schrift von „Brot für die Welt" ausgelöst worden war; die Arbeitsmaterialien von „Brot für die Welt" waren 1981 unter dem Titel „Hunger durch Überfluss – Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen" erschienen. Die Denkschrift diskutiert drei Dimensionen nachhaltiger Entwicklung, ohne diesen Begriff zu verwenden: unter dem Begriffspaar „Wachsen und Weichen" werden agrarsoziale Fragen angesprochen, „Ökologie und Ökonomie" verweist auf das Spannungsfeld von Rentabilität und Umweltschutz, und „Hunger und Überfluss" thematisiert entwicklungspolitische Probleme. Die Forderungen der Denkschrift nach einer sozial, generativ, ökologisch und international verträglich gestalteten Agrarpolitik kommen den Forderungen der heutigen Nachhaltigkeits-diskussion schon sehr nahe.
- Die Erklärung der gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung und des Deutschen Bauernverbandes vom Januar 1989 fordert unter dem Titel „Neuordnung der Agrarpolitik als gesellschaftliche Aufgabe" stärkere soziale, ökologische, siedlungsstrukturelle und entwicklungspolitische Komponenten der EG-Agrarpolitik sowie den Abbau von Agrarsubventionen, die Gewährung von Handelsvorteilen für den Export der Entwicklungsländer und deren Schutz vor Importen zur Förderung eigener Agrarproduktion, ebenso gleichberechtigte Beteiligung der Entwicklungsländer an der Ausgestaltung fairer Weltagrar- und Handelsbeziehungen.
- Im November 1989 hat der Ausschuss für den Dienst auf dem Lande (ADL) der EKD eine Stellungnahme zum Thema „Europäischer Binnenmarkt und der Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" vorgelegt. In dieser Schrift wird qualitatives statt quantitatives Wachstum für den EG-Raum, die Integration des Ziels der Bewahrung der Schöpfung in Agrarförderprogramme und landwirtschaftliche Betriebskonzepte, die Abkehr von der Exportorientierung und die Sicherung der Fähigkeit zur Selbsternährung für jedes Land – etwa durch Importzölle – gegen das proklamierte Ziel eines deregulierten Welt-Agrarmarktes gefordert.
- Die Stellungnahme des ADL der EKD von 1993 zur „Bio- und Gentechnologie in der Landwirtschaft" kritisiert unter anderem das Versprechen der Gentechnologie, Hunger und Armut in den Ländern des Südens zu beenden, und benennt dagegen die Gefahren völliger Abhängigkeit von Saatgut-Entwicklern und -Eigentümern durch die Patentierung von gentechnisch veränderten Organismen. In der Schrift wird auch vor der Dominanz einer kapitalintensiven Landwirtschaft gewarnt.
- Das Gemeinsame Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz von 1997 mit dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" erklärt ausdrücklich in Aufnahme der Forderungen nachhaltiger Entwicklung die Vernetzung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Problematik zum Ziel der Bewusstseinsbildung für eine christliche Weltgestaltung. Es fordert eine stärkere ökologische Ausrichtung der Landwirtschaft, die Abkehr vom rein quantitativen Wachstum und – zur Wahrnehmung der Verantwortung für die „Eine Welt" – eine Aufwertung der Entwicklungspolitik sowie ein verbessertes Mitspracherecht der armen Länder in internationalen Wirtschaftsgremien.
In der bereits erwähnten Denkschrift der EKD von 1984 „Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen – Ökologie und Ökonomie, Hunger und Überfluß" wird begründet, warum die evangelische Kirche zu diesen Fragen Stellung nimmt: Kirche und Theologie bringen sich als Gesprächspartner ein, um aus dem christlichen Glauben Beurteilungskriterien und Entscheidungshilfen zu entwickeln und die Intentionen biblischer Zeugnisse sinngemäß deutlich zu machen. „Die Kirche kann dazu beitragen, die Gewissen zu schärfen, Umkehrbereitschaft zu wecken und neue Handlungsimpulse zu geben. Sie verkündet den Glauben an Gott, den Schöpfer und Erhalter dieser Welt, der den Menschen als sein Ebenbild beauftragt hat, die Erde zu bebauen und zu bewahren und nicht nur zu eigenen Zwecken zu nutzen. Die Bibel sagt: ‘Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass der ihn bebaue und bewahre’ (1. Mose 2). In unserer Zeit technischen Fortschritts ist oft zu einseitig das ‘Bebauen’ und zu wenig das ‘Bewahren’ herausgestellt worden. Dadurch wurde einer technisch-ökonomischen Naturbeherrschung Vorschub geleistet, die die Gesamtzusammenhänge zu wenig beachtete. Im Glauben an Gott den Schöpfer gilt es jedoch, die doppelte menschliche Verantwortung neu zur Sprache zu bringen, die durch die Gottesebenbildlichkeit und die Mitgeschöpflichkeit des Menschen gegeben ist. Verantwortung vor Gott schließt auch die Bereitschaft zur weltweiten Solidargemeinschaft ein." Es kommt darauf an, im einzelnen zu prüfen, inwieweit sich aus dem Glauben an Gott, den Schöpfer, Versöhner und Befreier Kriterien für das Handeln ergeben. Dies geschieht im Zusammenspiel von Sach- und Problemanalyse einerseits, der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Ziel- und Wertvorstellungen und biblischen Kriterien andererseits.
Die Denkschrift nennt die folgenden Kriterien, die auch dieser Studie zugrunde liegen:
- Mitgeschöpflichkeit;
- Dienst an der Schöpfung statt ausbeuterische Herrschaft über die Natur und die Menschen;
- verantwortliche Haushalterschaft;
- Mitmenschlichkeit und Solidargemeinschaft untereinander, mit den kommenden Generationen und mit der Kreatur;
- freie Entfaltungsmöglichkeiten und gerechte Anteilhabe sowie
- Eintreten für gesellschaftlich Schwache.
Es fällt schwer zu erkennen, dass einige Strukturmerkmale der Landwirtschaft, die offenkundig diesen Überfluss produziert hat, nicht zukunftsfähig sind. Diese Strukturen können sowohl in Form einer plötzlichen Katastrophe als auch – was wahrscheinlicher ist – als Summe kleiner und kleinster Veränderungen zusammenbrechen. Als gefährdet betrachten wir Strukturen, durch die – unabhängig von der konkreten Betriebsverfassung – die Landwirtschaft nach dem Vorbild der industriellen Produktion organisiert und ihre Entwicklung durch folgende Elemente gekennzeichnet ist:
- Ständige Verminderung des Einsatzes von Arbeitskräften;
- Steigerung des Einsatzes von Kapital, vor allem auch von Fremdkapital;
- Steigerung des Ertrages pro eingesetzter Ressourcen- und Arbeitseinheit;
- Steigerung des technischen Niveaus der Produktionsmittel;
- ständige Erhöhung der Arbeitsteilung innerhalb der landwirtschaftlichen Produktionskette und Trennung von eigentlicher Produktion, Vermarktung und Verarbeitung;
- Spezialisierung auf wenige Produkte, im Extremfall auf ein Produkt.
Schließlich entspricht die Vernichtung der Arbeitsplätze auch in sozialer Perspektive nicht dem Prinzip nachhaltiger Entwicklung, und die permanente Produktion von Überschüssen verletzt das Kriterium der Nachhaltigkeit in ökonomischer Hinsicht, da sie nur durch aggressive Exportstrategien fortsetzbar ist. Regionale Zusammenbrüche hat es bereits gegeben – im Zeitalter der Globalisierung wandert das Kapital auch kurzfristigen komparativen Kostenvorteilen hinterher.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Problemkonstellation, die im vorliegenden Text angesprochen wird, ist die landwirtschaftliche Produktion im sogenannten „non-food"-Bereich. Da es sich betriebswirtschaftlich rechnet, werden oft Industrierohstoffe oder Futtermittel statt Nahrungsmittel auf guten Böden angebaut, obwohl die Ernährung der Region durch Produkte dieser Region nicht gesichert ist. Ökonomische Mechanismen geraten hier in Konflikt mit dem Ziel der Nachhaltigkeit. Für manche Regionen ist der „non-food"-Bereich allerdings derzeit die einzige Möglichkeit, die landwirtschaftliche Produktion und damit auch deren ökologische Funktionen sowie die Sicherung der Arbeitsplätze im primären Sektor zu erhalten.
Es gibt jedoch Ansätze, die Zukunftsfähigkeit der Ernährungssicherung zu gewährleisten. Der vorliegende Text ist ein Plädoyer dafür, sich mit diesen Wegen konstruktiv auseinanderzusetzen. Dabei geht es jedoch um nicht weniger als eine grundlegende Korrektur der politischen und ökonomischen Steuerungsinstrumente in der Landwirtschaft, die seit Ende des 19. Jahrhunderts eindimensional auf Produktions- und Produktivitätssteigerung ausgerichtet sind. „Nachhaltige Entwicklung" und „Ernährungssiche-rung" werden in den fachlichen Diskussionen noch immer überwiegend als voneinander getrennte Probleme behandelt. Der folgende Text will auch zur Überwindung dieser Trennung beitragen und zeigen, dass keines dieser Ziele ohne die Beachtung des anderen erreicht werden kann.