Ernährungssicherung und Nachhaltige Entwicklung
II. Klärung der Begriffe
2. Was bedeutet Nachhaltige Entwicklung?
Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit, dauerhaft umweltgerechte Entwicklung - gleichgültig, wie der englische Ausdruck „sustainable development" übersetzt wird, die Bezeichnungen haben sich im politischen Alltag etabliert. Die Begriffe sind positiv besetzt, und sofern sie abstrakt verwendet werden, ist ihnen allgemeine Zustimmung sicher. Das gilt etwa für die Definition der Brundtland-Kommission, die nachhaltige Entwicklung als eine Entwicklung beschreibt, „die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können." Diese Begriffsbestimmung findet sich in ähnlicher Weise auch in der Agenda 21, die als Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert von mehr als 170 Staaten akzeptiert wurde. In der Präambel der Agenda 21 aus dem Jahre 1992 heißt es: „Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt in ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum sowie eine fortschreitende Schädigung der Öko-Systeme, von denen unser Wohlergehen abhängt." Damit die Menschen und die Umwelt besser geschützt werden, plädiert die Agenda 21 für eine „globale Partnerschaft, die auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtet ist".
Diese Definition ist jedoch sehr weit und allgemein gefasst. Der Begriff Nachhaltigkeit enthält zumindest die folgenden ethisch-normativen Aspekte:
- Die ökologische Dimension im Begriff der Nachhaltigkeit bezeichnet die Notwendigkeit der weltweiten Beachtung von Rückkopplungen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen an die natürlichen Lebensgrundlagen, die erhalten werden sollen. Ressourcenschonung und Prävention sind zukunftsbezogene Teilaspekte von Nachhaltigkeit und bezeichnen die Sorge für menschenwürdige Lebensbedingungen für zukünftige Generationen.
- Soziale Gerechtigkeit und Partizipation als Gegenwartsaspekte von Nachhaltigkeit schließen die Sicherung der Grundversorgung für alle Menschen und die Teilhabe aller an den Gütern der Erde in der Gegenwart mit ein.
- Die politische beziehungsweise entwicklungspolitische Dimension von Nachhaltigkeit meint ein weltweites Entwicklungskonzept für alle Staaten und Länder, insbesondere auch zugunsten von Entwicklungsländern, das dem internationalen und interkulturellen Zusammenleben, der Gerechtigkeit und dem Frieden dient.
Der Dissens beginnt, wenn man versucht, den Begriff nun inhaltlich zu füllen, denn wenn das Leitbild der Nachhaltigkeit in konkrete politische Maßnahmen übersetzt werden soll, müssen zuvor Teil-Ziele definiert und beschlossen werden. Es gibt eine außerordentlich große Spannbreite bereits hinsichtlich der Frage, auf welche Gegenstandsbereiche sich der Begriff beziehen soll. Ein „enges" Verständnis will den Begriff der Nachhaltigkeit ausschließlich im Bereich der Ökologie verortet wissen. Im anderen Extrem erscheint Nachhaltigkeit als umfassende regulative Idee, an der alle globalen und innergesellschaftlichen Entwicklungen geprüft werden können.
Es hat sich jedoch ein gewisser Konsens herausgebildet, dass sich das Leitbild der Nachhaltigkeit zumindest auf die drei Ziel-Dimensionen von Schutz der Umwelt, Effizienz der Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit beziehen muss. Eine nachhaltige Entwicklung - ob einer Nation als Ganze oder eines kleineren Gemeinwesens - ist nur dann möglich, wenn die einseitige Ausrichtung auf eines der drei Ziele vermieden wird. So bedeutsam die Erhaltung unserer Umwelt ist, sie muss letztlich doch in Einklang mit den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen gebracht werden. Gleichermaßen darf aber auch die Erreichung wirtschaftlicher Ziele nicht auf Kosten der ökologischen Zustände und des sozialen Ausgleichs gehen.
Ein solch neuer Konsens über die Notwendigkeit, sich um nachhaltige Entwicklung zu bemühen, ist um so wichtiger, weil bisher nicht thematisierte Teile des ethischen Grundkonsens, auf den Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen sind, in den letzten Jahren schleichend verloren gehen und unter den veränderten gesellschaft-lichen Bedin-gungen neu gefunden werden müssen. Nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz und durch wirtschaftliche Globalisierung und neue Kommunikationstechniken werden die Rolle der Politik und des Staates, die Bedeutung der Wirtschaft und der Industrie, die Bedeutung von Arbeit und schließlich auch die Verantwortung des Einzelnen für das Gemeinwesen neu diskutiert und sind neu zu bestimmen. Dem Verhältnis zwischen armen und reichen Ländern kommt hier eine Schlüsselfunktion zu. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung hat gerade deshalb eine Chance, Teil eines neuen gesellschaftlichen Grundkonsenses zu werden, weil er Inter-pretationsspielräume zu seiner Umsetzung bietet und somit erst einmal eine breite Plattform für viele Interessengruppen in der Gesellschaft darstellt. Gleichzeitig kann der Begriff der Nachhaltigkeit auf eine Weise eingeführt werden, dass er ethische Werte ergänzt, die in Politik und Gesellschaft allgemein akzeptiert sind.
Das heißt aber auch, dass der Begriff ein Minimum an Inhalten mit sich trägt, die nicht aufgegeben werden dürfen. Im Bereich der Umwelt geht es dabei zunächst um die Erhaltung der Ökosysteme und der Artenvielfalt. Erneuerbare Ressourcen dürfen nur in dem Maße verbraucht werden, in dem sie sich neu bilden; nicht erneuerbare Ressourcen nur in dem Maße, in dem in Zukunft die so erzielten Dienstleistungen oder das entsprechende Produkt durch erneuerbare Ressourcen erstellt werden können. Auch darf die Aufnahmekapazität der Umweltmedien – Wasser, Boden, Luft – für Abfälle jeglicher Art nicht überschritten werden. Die Zeitmaßstäbe menschlicher Eingriffe müssen denen der Natur angepasst sein. Gefahren und Risiken für die menschliche Gesundheit sind zu vermeiden. Schließlich müssen Mittel zur Beseitigung vieler Altlasten bereitgestellt werden.
„Nachhaltige Entwicklung" darf jedoch, wie bereits gesagt, nicht auf ökologische Ziele verkürzt werden. Ein unverzichtbarer Punkt ist die intergenerationelle und die intragenerationelle Gerechtigkeit und Solidarität. Ohne Gerechtigkeit und Solidarität kann es keine nachhaltige Entwicklung geben. Die Armut von morgen und die Gefährdung menschenwürdigen Lebens in der Zukunft durch ökologische Schäden darf nicht gegen die Armut und Marginalisierung von heute ausgespielt werden, und umgekehrt. Damit ist auch deutlich, dass es bei nachhaltiger Entwicklung nicht nur um ökologische Schadensbegrenzung geht. Wir sollten es unserer Gesellschaft zumuten, Konsum- und Lebensstile kritisch zu reflektieren. Wir müssen über die Frage nachdenken, ob es nicht besser sein könnte, Produktion und Konsum bestimmter Güter und Dienstleistungen wieder vorrangig lokal oder regional und nicht global zu organisieren. Wir müssen darüber nachdenken, was die derzeitige globale Einkommens- und Vermögensverteilung, die geografische Aufteilung der Welt in Gläubiger und Schuldner für die Möglichkeit der Verwirklichung einer nachhaltigen Entwicklung bedeutet. Nachhaltigkeit für den Bereich der Landwirtschaft könnte dann gegeben sein, wenn sie umweltfreundlich, ökonomisch tragfähig, sozial gerecht und kulturell angepasst ist sowie von einem ganzheitlichen Verständnis ausgeht. Außerdem müsste sie einen deutlichen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers in der Welt leisten. Mit anderen Worten: Bei „nachhaltiger Entwicklung" geht es um weitreichende Veränderungen von Politik, Wirtschaft und Konsumstilen, für die es allerdings bisher kaum einen ernsthaften Willen zur Umsetzung gibt. Dies bedeutet, dass der Gedanke der nachhaltigen Entwicklung vor allem auch Eingang in Bildungsprogramme und Ausbildungspläne finden muss.
Viele der zu hinterfragenden Parameter für Politik, Wirtschaft und Kultur haben den europäischen Wohlstand, die weitgehende Überwindung der Armut in den reichen Ländern des Nordens und die weitreichende soziale und rechtliche Absicherung erst ermöglicht. Es sind gerade einige dieser Errungenschaften westlicher Zivilisation und bestimmte wirtschaftliche Paradigmen von Markt und Wachstum, die unter den Bedingungen der Globalisierung und mit dem ethischen Postulat einer globalen und intergenerationellen Gerechtigkeit nicht mehr ohne weiteres vereinbar sind.
Die Forderung nach Nachhaltigkeit kommt daher einer „Quadratur des Kreises" nahe. Zwischen den drei Ziel-Dimensionen besteht eine gegenseitige Abhängigkeit. Keines der drei Ziele kann verfolgt werden, ohne die beiden anderen ebenfalls zu beachten. Dabei wird es immer wieder zu Zielkonflikten kommen – gerade dann, wenn die Landwirtschaft angesprochen wird, die wie kaum ein anderer Bereich im Zentrum widersprüchlicher Interessen steht.
3. Was bedeutet Ernährungssicherung?
Die Versorgung der wachsenden Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln und vor allem auch die Befriedigung der wachsenden Ernährungsansprüche konnte in der Vergangenheit noch relativ einfach bewerkstelligt werden, weil ein großer Teil der Produktionszuwächse durch Ausdehnung der Anbauflächen, Bewässerungsflächen und Verbreitung von Hochertragssorten mit dem dazugehörigen Technologiepaket erfolgte. Doch diese Möglichkeiten der Ertragssteigerung sind weitgehend ausgeschöpft:
- Weitere Bodenreserven für den Ackerbau sind nur noch in Einzelfällen vorhanden; die letzten Reste des nicht genutzten Landes werden dringend für den Naturschutz benötigt.
- Die leicht zu erschließenden Süßwasserreserven sind voll genutzt; die weitere Ausdehnung der Bewässerungslandwirtschaft geht mit einer exponentiellen Steigerung der Investitionskosten für die Wasserbeschaffung einher und führt aufgrund der Nutzung immer tieferer Grundwasserschichten zu einer erheblichen Schädigung der Ressourcen.
- Die Hochertragssorten sind in ihrer weiteren Ertragsfähigkeit durch die von ihnen selbst hervorgerufenen Krankheitsprobleme begrenzt und zum großen Teil durch die Einkreuzung mit robusteren lokalen Sorten auf ein vernünftiges Maß zurückgeschnitten. Die Wachstumsraten der Ertragssteigerungen bei den Hauptnahrungsmittelkulturen vor allem in den Entwicklungsländern sind von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zurückgegangen. Auch bei intensiver Düngung und chemischem Pflanzenschutz nehmen die Erträge oftmals nicht mehr sonderlich zu.
Auch die Sicherheit von Nahrungsmitteln ist häufig nicht gewährleistet, wie Lebensmittelskandale in Europa zeigen – etwa BSE bei Rindern und Dioxine in Geflügelprodukten. Insbesondere wurde durch die BSE-Seuche deutlich, dass die Abkehr von natürlichen Ernährungsprozessen – hier die Fütterung von Pflanzenfressern mit Tierkadavern - zu schwerwiegenden Erkrankungen führen kann. Eine solche „Kreislaufwirtschaft" ist jedoch keine einmalige Entgleisung: So werden im Süden der USA Rinder mit nahrhaftem Hühnerdung, die Hühner wiederum mit Tiermehl aus der Rinderschlachtung gefüttert.
Politisch ist das Konzept der Ernährungssicherung dadurch in Verruf gekommen, dass vor allem die sogenannten „protektionistischen Agrarstaaten", wie die EU und Japan, die Produktion ihrer Überschüsse und die starke Förderung ihrer Landwirtschaft sowie den Außenschutz einzelner Agrarmärkte pauschal damit gerechtfertigt haben, dass sie angeblich der Ernährungssicherung dienen. Darunter wurden dann Sicherheitsreserven an nationaler Vorratshaltung verstanden, um eine gewisse Zeit der Krise im Falle von Krieg oder anderen einschneidenden Ereignissen zu überstehen. Diese Politik der EU hat wegen ihrer riesigen Agrarüberschüsse durch die Subventionierung ihrer Agrarexporte andere Märkte gezielt erobert und so den Begriff der Ernährungssicherung als Grundlage ihrer Überschusspolitik in Verruf gebracht.
Eine große Rolle spielte das Konzept hingegen in der Entwicklungsländerdiskussion. Hier geht es um die Sicherung der Ernährung sowohl auf individueller Ebene, auf der Haushaltsebene, auf der Ebene der Beziehungen der verschiedenen Mitglieder unterschiedlichen Alters und Geschlechts innerhalb des Haushaltes sowie auf der regionalen, der nationalen und der internationalen Ebene. Bei der Food and Agricultural Organisation (FAO) existiert eine Kommission zur Welternährungssicherung, die den Begriff definiert als „physischen und wirtschaftlichen Zugang zu Nahrungsmitteln in angemessener Menge für alle Mitglieder eines Haushalts, ohne dass das Risiko besteht, dass dieser Zugang verloren geht" . Dieses Konzept umfasst insbesondere die Beurteilung der Verwundbarkeit des Zugangs zu Nahrungsmitteln. Dabei wird zwischen chronischer und vorübergehender Ernährungsunsicherheit unterschieden.
Die Analyse und die Ernährungssicherungspolitik, die auf einer solchen Begriffsfassung aufbaut, gründet zunächst vor allem in einer soziologischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Armutsgruppen, ihrer ökonomischen und sozialen Rolle in der Gesellschaft, und der Verteilung der physischen Produktion und der Geldmittel. Mit einer grundlegenden Arbeit von Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie aus dem Jahre 1998, der eine umfassende Analyse zu Hunger und Politik durchgeführt hat, verbindet sich das Konzept der Ernährungssicherung heute zunehmend mit der Kategorie der „Entitlements" (Anspruchsrechte). Amartya Sen definiert diese Anspruchsrechte als die Gesamtheit der Rechte und Möglichkeiten einer Person, die unterschiedlichen Güter, über die sie verfügt, in der Gesellschaft einzusetzen. Mit anderen Worten: Anspruchsrechte beziehen sich auf das, was eine Person produzieren, kaufen oder leihen kann, was sie besitzt oder was die sozialen und staatlichen Regeln ihr erlauben, damit zu tun. In dieser Betrachtungsweise gibt es im wesentlichen vier unterschiedliche Anspruchsrechte auf Nahrungsmittel:
- handelsbezogene Anspruchsrechte: was ein Individuum an Nahrungsmitteln kaufen kann, mit den Waren und dem Bargeld, das es besitzt;
- produktbezogene Anspruchsrechte: das Recht, das zu besitzen, was man mit den eigenen Ressourcen produziert;
- eigenarbeitbezogene Anspruchsrechte: die aus dem Einkommen der eigenen Arbeitskraft bezogenen Anspruchsrechte, um auf dem Markt einzukaufen;
- vererbte oder übertragene Anspruchsrechte: das Recht, das zu besitzen, was einem freiwillig gegeben wird durch Übertragungen, Geschenke oder Spenden durch andere, inklusive dem Transfer des Staates für soziale Sicherheit, Nahrungsmittelhilfe und Pensionen.
Der Mangel dieses Ansatzes liegt allerdings darin, dass die Dimension der Umwelt und die Frage nach der angepassten technologischen Entwicklung ausgeklammert sind. Die Zerstörung der Fruchtbarkeit der Böden oder der natürlichen Balancen zwischen Schädlingen und Nützlingen kann die Ernährungs- und Erwerbsgrundlage ganzer Gebiete und großer Bevölkerungsschichten erheblich erschüttern. Das Gleiche gilt aber auch für globale technologische Entwicklungen, wie etwa die Verlagerung der Produktion von tropischen Rohstoffen, Früchten und Gewürzen in die Fermenter gentechnisch veränderter Mikroorganismen der Fabriken des Nordens. Die Gefährdungen, die von diesen Substitutsentwicklungen für die Weltmärkte und Absatzchancen der Länder des Südens ausgehen, vor allem für die Beschäftigungs- und Wachstumseffekte in den insgesamt noch stark exportorientierten Landwirtschaften vieler Entwicklungsländer, sind sehr groß. Hier zeigt sich, dass teilweise die Gefährdung der Ernährungssicherung sehr stark von globalen Trends ausgeht, die von guter Regierungsführung oder bewussten nationalen Politiken nur schwer ausgeglichen werden können.
Technologien haben in sich schon Verteilungswirkungen, die sich nicht nur im Beschäftigungseffekt erschöpfen. Verschiedene Technologien eignen sich für unterschiedliche Betriebsgrößen und kommen daher den verschiedenen Produzentengruppen auf unterschiedliche Weise zugute. Hochertragssaatgut kann zwar betriebsgrößenneutral und auch beschäftigungswirksam sein, es entwickelt aber seine volle Produktivität nur im Zusammenhang mit dem vollständigen Paket begleitender Maßnahmen, wie zum Beispiel intensiver Düngung, Bewässerung, Pflanzenschutz und großflächigem Anbau. Diese Ausgaben bewegen sich vor allem im Bereich der variablen Kosten, doch bedingen sie zumindest einen Kapitalaufwand für den Ankauf der Inputs, der vorfinanziert werden muss; bis zur Ernte vergeht in der Regel ein Vierteljahr. Die Überbrückung dieses Vierteljahres und die hohe Anfälligkeit der Hochertragssorten für Widrigkeiten bei Wetter und Schädlingen kann bedeuten, dass verwundbare soziale Gruppen schnell in unüberbrückbare und existenzgefährdende Verschuldungskreisläufe geraten.
So suchen Kleinbauern in Asien, Afrika und Lateinamerika intensiv nach Alternativen zu den anfälligen Hochertragssorten. Diese Programme werden z.B. im südlichen Afrika mit „Seed Security" – Saatgutsicherheit – bezeichnet. Darunter wird verstanden, dass nicht nur die Verfügbarkeit von Saatgut zum richtigen Zeitpunkt, die Finanzierbarkeit und der Zugang zu den anderen Betriebsmitteln, die zu dem Saatgut konditioniert sind, gewährleistet sein muss, sondern es geht auch um die Angepasstheit des gesamten Technologiepakets, das in dem Saatgut selbst inkorporiert ist, in die sozialen und ökologischen Bedingungen vor Ort, in die bäuerlichen Betriebssysteme und ihre Vermarktungsformen.
Wichtig ist auch die Stärkung der Stellung von Frauen in der Gesellschaft. Denn häufig sind es die Frauen, die das Land bestellen, die Ernte einbringen und einen Teil der Ernte für die nächste Aussaat auswählen. Die Sicherung der Ernährung der Familie hängt daher elementar vom Wissen der Frauen über widerstandsfähiges Saatgut ab. Dennoch haben Frauen in vielen Kulturen keinen angemessenen Anteil an Entscheidungsprozessen.
Vor allem im Blick auf die problematischen Trends zum gentechnisch veränderten Saatgut, auf das Patente bestehen, so dass der Nachbau gebührenpflichtig wird, und das von multinationalen Konzernen weltweit vertrieben wird, bedeutet die Entwicklung einer eigenen Saatgutbasis Sicherheit vor Willkür. Auf der Grundlage von verbesserten alten Landsorten und mit der Fähigkeit der Bauern, solche bewährten Linien mit Hilfe von Züchtern und Wissenschaftlern, die ihnen beratend zur Seite stehen, zu robusten und einigermaßen ertragsfähigen anspruchslosen Hofsorten weiterzuentwickeln, kann ein großer Schritt vorwärts in Richtung Stabilität und Ernährungssicherung gemacht werden.
In der Periode zwischen 1960 und 1990 haben die Entwicklungsländer ihre Getreideproduktion um 100 Prozent ausdehnen können, hauptsächlich auf der Grundlage der Anwendung von Wissenschaft und Technik im Rahmen der Entwicklung ganzer Technologiepakete. Mit dieser Entwicklung gingen aber auch Tendenzen der stärkeren Einseitigkeit der Anbaustruktur einher. Die Verbesserung der Erträge um 100 Prozent bedeutete in Asien eine Ausdehnung der Bewässerungsfläche um 60 Prozent und der synthetischen Düngung auf Stickstoffbasis um 2000 Prozent. 33 Prozent der Produktionszuwächse können auf die verbesserten Sorten und 66 Prozent auf den Einsatz von Betriebsmitteln zurückgeführt werden, die die Umwelt verändern: ein Drittel auf die Intensivierung der Bewässerung, ein Drittel auf den Einsatz der Agrarchemie.
Die Ausdehnung von Monokulturen, der Einsatz der Agrarchemie und die Intensivierung der Bewässerung führten zu enormen ökologischen Nebeneffekten, wie etwa die Eutrophierung und Verschmutzung des Süßwassers und der Meere, die Bodenerosion und die Abnahme der Agrobiodiversität. Ein Vergleich zwischen der Energieeffizienz in der Getreideproduktion von Agrarsystemen mit intensivem externen Betriebsmitteleinsatz und extensiver Betriebssysteme in Bangladesch, Kolumbien, China, Philippinen, USA und Großbritannien zeigt deutlich, dass im Durchschnitt die extensiven Agrarsysteme eine fünfmal höhere Energieeffizienz aufweisen (1,34 kg/MJ) als betriebsmittelintensive Betriebs-systeme (0,28 kg/MJ). Auf den Philippinen ist ausgerechnet worden, dass der Übergang von traditionellen Systemen der Reisproduktion zum modernen Anbau einen Energieaufwandszuwachs von 3000 Prozent benötigte, dem ein zusätzlicher Ertrag von 116 Prozent gegenübersteht.
Schon vor über 15 Jahren wurde gezeigt, dass die gesamten bekannten Ressourcen fossiler Energie auf der Welt kaum ausreichen würden, um die bestehende Bevölkerung mit dem gleichen Energieaufwand zu ernähren, den die Ernährungssysteme der Industriestaaten erfordern. Es ist eindeutig, dass die Entwicklung auf dem Pfad zu immer intensiveren Betriebsmitteleinsätzen so nicht weitergehen kann. Die Zukunft der Welternährung kann auf diesem Weg nicht garantiert werden.
In den letzten Jahrzehnten gab es unter dem Zwang der Strukturellen Anpassungsprogramme (SAP) von Weltbank und Internationalem Währungsfonds einen erheblichen Druck auf die Regierungen der Entwicklungsländer, ihre Interventionen in die Wirtschaft zu reduzieren, selbst in den Gebieten, wo die Risiken des Marktversagens groß sind oder wo eine Notwendigkeit für staatliches Handeln im Grunde vorlag. Im Streit darüber, wer effizienter sei, der Markt oder die Regierung, hat man sich bisher sehr stark in Richtung marktwirtschaftlicher Regelungen entschieden. Das Misstrauen in Regierungen ist groß, denn ihre Marktinterventionen haben oft die Anreizstrukturen und Preise sehr stark verzerrt, wovon die am meisten verwundbaren sozialen Gruppen oft am wenigsten profitiert haben. Neuerdings führen auch die Verträge der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation; WTO), die Liberalisierung der Kapital- und Produktmärkte, der Abbau der Agrarunterstützung und die Weltmarktintegration dazu, dass es für Regierungen immer schwieriger wird, als Interessenvertreter für gefährdete Armutsgruppen ausgleichend tätig zu werden.
Selbst die Rolle des Staates als Verteidiger der Eigentumsrechte und als Garant für stabile Rahmenbedingungen der Produktion und des Austausches ist durch die Zwänge der Deregulierung in vielen Entwicklungsländern gefährdet. Wenn effiziente rechtsstaatliche Bedingungen fehlen, wird die Frage, ob jemand seine Ernährungsbedürfnisse stillen kann, oft eine Frage der Verteilung der Macht, sowohl innerhalb der Haushalte, als auch der Gemeinschaft, der Region und der Nation. So wird Ernährungssicherung in Zeiten der globalen Liberalisierung zunehmend zu einem politisch sensiblen Konzept, mit dem der weiteren Aushöhlung der Rolle der Regierungen gegenübergetreten werden kann. Als sogenanntes „nicht handelsbezogenes Anliegen" wird Ernährungssicherung in den kommenden WTO-Agrarverhandlungen von vielen Entwicklungsländern vordringlich vorgetragen. Sie wollen verhindern, dass wichtige Programme, die der armutsorientierten ländlichen Entwicklung und der Ernährung der Armen dienen, unter „nicht-marktkonforme" oder „protektionistische" Maßnahmen fallen, die nach WTO-Regeln abzuschaffen sind, oder dass die Subventionen, die in diese Programme fließen, der Abbauverpflichtung für Unterstützungen anheim fallen.