„Migration, Flucht und Menschenrechte“
Theologische Reaktion von Johann Hinrich Clausen zum Schwerpunktthema der EKD-Synode 2024
− Es gilt das gesprochene Wort −
Es mag einem Hamburger erlaubt sein, mit einer meteorologisch-nautischen Metapher zu beginnen. Also: Was tut man, wenn der Wind sich dreht und nicht von hinten die Segel füllt, sondern einem ins Gesicht schlägt? Dreht man bei, hält man Kurs, oder versucht man, hin und her zu kreuzen? In der Tat, der Wind hat sich gedreht: 2024 ist nicht 2015. Damals gab es bei aller Kritik viel Bereitschaft, Asylsuchenden und Flüchtlingen zu helfen. Die evangelische Kirche konnte ihren Beitrag leisten und mit anderen Menschen und Organisationen Beziehungen aufbauen. Heute trifft unser Engagement für eine menschenwürdige Gestaltung von Migrationen auf scharfen Gegenwind.
Das liegt offensichtlich an der Wucht der rechten Revolte, die ihre Erfolge in Deutschland und Europa fremdenfeindlicher Agitation verdankt. Oder ist dies ein Symptom einer Krise, deren Ursachen tiefer liegen? Deutschland ist ein verunsichertes Land. Wir denken, empfinden, reden, handeln nicht mehr aus einer Position der Stärke, als der Exportweltmeister, der sich Gastfreundlichkeit leisten kann (weil er sie braucht). Unsere Verunsicherung hat viele Facetten, real politische und ökonomische, aber auch emotionale und seelische. Denn wir müssen uns fragen: Was haben wir, wenn wir nicht immer mehr haben? Wenn wir neue Probleme nicht mit mehr Geld lösen können? Wenn wir weniger haben und werden, verfügen wir trotzdem noch über innere Kräfte wie Zuversicht und Gewissheit? Um tolerant und gastfreundlich zu sein, müssen wir selbstsicher sein. Dass wir so angefasst streiten, hat auch mit einer geistlichen Krise zu tun. Hier zeigt sich: Wenn wir über Migration sprechen, geht es nie nur um „die da“, sondern immer auch um uns selbst.
Heimatverlust prägt auch die Geschichte des Protestantismus
Was kann mein Beitrag sein? Ich bin kein Migrationsexperte, komme nicht aus der sozialen Arbeit. Aber ich habe ein Buch geschrieben, in dem ich die Bibel als ein „Buch der Flucht“ vorstelle, das von Anfang bis Ende von Heimat, Heimatverlust, Heimatsuche und neuen Heimaten erzählt. Gibt es ein Fazit all dieser Erzählungen, habe ich mich gefragt und bin auf ein Begriffspaar gekommen. Es klingt nach einem Gegensatz, meint aber die wechselseitig Ergänzung zweier biblischer Tugenden: Nächstenliebe und Nüchternheit. Es entwickelt sich in der Bibel ein universales Ethos der Barmherzigkeit, das aber nur mit Besonnenheit in die Tat umgesetzt werden kann.
Eigentlich müsste ich eine Fortsetzung schreiben: Denn Heimatverlust und Heimatsuche prägen auch die Geschichte des Protestantismus, weshalb er sich von Beginn an migrationsdiakonisch engagiert hat – mit Nächstenliebe und Nüchternheit. Denken Sie an die Flucht vor religiöser Verfolgung im 16., 17. und 18. Jahrhundert, die Landflucht und Massenauswanderung im 19. Jahrhundert, die Vertreibungen im 20. Jahrhundert, dann die Flucht aus der DDR, Wirtschafts- und Bürgerkriegszuwanderungen bis heute. Unser Engagement, Migration menschenwürdig zu gestalten, ist also keine Moralmode, wie gelegentlich behauptet wird, sondern eine unserer kirchlich-diakonischen Hauptaufgaben seit jeher – eine lange Geschichte der Nächstenliebe und Nüchternheit. Die Erinnerung daran mag uns in unserer akuten Verunsicherung stärken.
Nun haben wir den so kundigen wie engagierten Vortrag von Petra Bendel gehört, in dem sie an die normativen Grundlagen der Asylpolitik erinnert hat. Diese geraten im politischen Kampf schnell in Vergessenheit. Ich habe mich beim Zuhören gefragt, warum die Asylfrage so wichtig ist, wo sie doch rein zahlenmäßig nicht der einzige Faktor heutiger Migrationen darstellt. Mir scheint, dass die Asylfrage unabhängig von den Zahlen unsere Haltung zu allen Migrationsformen prägt. Deshalb ist es unerlässlich, an dieses Grundrecht zu erinnern. Das ist kein Anzeichen für einen Hypermoralismus, der uns gelegentlich unterstellt wird. Vielmehr ist die Asylfrage der Prüfstein dafür, ob wir bereit sind, uns in der Migrationspolitik an humanen Standardszu halten. Gegen Verunsicherung kann prinzipielle Orientierung helfen. Das ist besonders wichtig für all diejenigen, die in diesem Feld arbeiten. Sie brauchen unsere Anerkennung und Unterstützung, weil sie das, was im Grundgesetz steht, in die Tat umsetzen und dafür nicht selten angefeindet werden.
Allerdings genügt es nicht, sich im Kreis von Gleichgesinnten über das normativ Gebotene zu verständigen. Man muss sich der ganzen Gesellschaft stellen. Wir müssen zeigen, dass wir auf drängende Fragen eine einleuchtende Antwort geben. Dazu müssen wir diese Fragen ernstnehmen. Wenn eine verunsicherte Gesellschaft fragt: „Können wir das?“, reicht es nicht zu sagen: „Wir müssen das.“ Ehrlich müssen wir uns austauschen über Belastungen und Überlastungen, über konkrete Probleme und enttäuschte Erwartungen, europäische Verständigungen und Nicht-Verständigungen, über Ängste und legitime Sicherheitserwartungen der Bevölkerung. Da wir als evangelische Kirche nur dann etwas von anderen fordern sollten, wenn wir bereit sind, einen eigenen Beitrag leisten, müssen wir ehrlich sagen, worin dieser heute bestehen kann, sind wir doch nicht mehr die Kirche von 2015. Und wir müssen uns die Grenzen unseres politischen Einflusses bewusst halten. Sich voreinander ehrlich zu machen, muss das Engagement nicht schwächen – im Gegenteil, es kann zu neuer Urteilsfähigkeit und Handlungssicherheit führen.
Kirche als Anwältin der Sachlichkeit
Wenn die evangelische Kirche sich in der Öffentlichkeit zu Wort meldet, herrscht häufig die Erwartung: „Jetzt kommt die Moral!“ Aber wir können auch anders. Gerade wenn viele in der Politik und öffentlichen Meinung Panik schieben – wofür es durchaus Gründe gibt –, kann die evangelische Kirche eine andere Rolle einnehmen: zum Beispiel denen widersprechen, die Verfassungsprinzipien leichtfertig zur Disposition stellen. Man wirft uns gelegentlich vor, wir würden uns über das Recht stellen. Dabei ist es jetzt unsere Aufgabe, an den Wert geltender Grundrechte zu erinnern. Eine weitere Aufgabe besteht für uns darin, gemeinsam mit anderen der Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen. Es gibt eine etablierte, erkenntnisreiche Migrationswissenschaft, nur werden deren Ergebnisse zu wenig beachtet. Es herrsche „kein Mangel an Information“, so Hein de Haas, vielmehr bestehe das Problem in „der bewussten Weigerung, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen“. Darin sind die politisch Verantwortlichen allerdings nichts Besonderes, sondern bloß ein Spiegel der Gesellschaft.
Als eine Stimme der Vernunft und eine Anwältin der Sachlichkeit kann die evangelische Kirche gemeinsam mit anderen darauf aufmerksam machen, dass Migrationen an sich kein Krisenphänomen sind, sondern normaler Teil der Moderne, nämlich ein anderes Wort für „Entwicklung“. Ihre wichtigste Triebfedern sind wirtschaftliche Interessen – bei denen, die hier einwandern, und bei denen, die hier schon leben. Denn die Migration von Arbeitskräften ist Teil des wirtschaftlichen Prozesses, Voraussetzung unseres Wohlstands und Lebensstils. Zur geforderten Sachlichkeit gehört auch, dass man Ängste und Sicherheitserwartungen ernst nimmt, nüchtern Strategien gegen neue Formen von Gewalt wählt, die langfristig zum Erfolg führen, anstatt mit hektischen Maßnahmen Erwartungen zu schüren, die man am Ende enttäuscht.
Gefährdete Gruppen im Blick
Sachlichkeit und Normativität sind keine Gegensätze. Darauf weist der sprechende Titel des immer noch sehr lesenswerten „Gemeinsamen Wortes der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“ von 2021 hin: „Migration menschenwürdig gestalten“. Genau darum geht es, Migration zu gestalten und dabei die Menschenwürde der Betroffenen zu wahren. Worum sollte es sonst gehen, wenn wir nicht unsere Lebensweise gefährden und uns selbst fremd werden wollten? Deshalb besteht unsere Aufgabe darin, echte Sachprobleme ernsthaft und kontrovers zu diskutieren – und niemand würde sagen, dass das europäische Asylsystem gut funktioniert –, ohne schwache, gefährdete Menschengruppen zu stigmatisieren. Wenn in uns das in der Asyl-Debatte nicht gelingt, dürfen wir nicht überrascht sein, wenn bald die Gruppe der Menschen mit Behinderungen dran ist und danach die nächste Gruppe.
Ob wir mit einer biblisch fundierten Doppelbotschaft von Nächstenliebe und Nüchternheit Wirkung entfalten werden? Da kann man natürlich skeptisch sein. Zu stark sind die skandalisierbaren Bilder, zu mächtig die rein emotionalen Botschaften der Ausgrenzung. Sachlichkeit hat enge Grenzen. Aber erst sie befähigt uns, unvoreingenommen auf neue Nachbarn zuzugehen.
Und darin liegt meine eigentliche Hoffnung: Auch in der Migrationspolitik liegt alles an der Begegnung. Ich war im Frühjahr ein paar Tage im Krankenhaus. Wer hat mich gepflegt? Es waren nicht Schwester Müller und Pfleger Meier. Begegnungen jedoch sind nicht immer harmonisch, müssen es gar nicht sein. Denn in ihnen sollen auch Missverständnisse geklärt und Konflikte gelöst werden. In einer guten Kultur der Migrationen können wir uns in der Begegnung miteinander darüber verständigen, wie wir zusammenleben wollen. Deshalb empfehle ich Ihnen zum Schluss die erneute Lektüre des „Gemeinsamen Wortes“ sowie eines kleinen Heftes, an dem ich als Vertreter unserer Kirche mitgewirkt habe. In 15 Thesen haben unterschiedlichste Institutionen und Organisationen zu formulieren versucht, wie kulturelle Integration gelingen kann – damit sich der Wind irgendwann wieder dreht.
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