Kirche mit Hoffnung
4. Der Weg: Beteiligungskirche werden
4.1. Künftige Perspektiven kirchlicher Arbeit
4.1.1. Die weitreichenden Sparmaßnahmen, Stellenabbau und Umstrukturierungen drohen die Frage nach der künftigen Perspektive kirchlicher Arbeit zu verdrängen. Sie wird jedoch unausweichlich, wenn das Sparpotential erschöpft ist. Schon jetzt können Aufgaben nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr wahrgenommen werden. Eine grundlegende Verständigung über die Konzentration der Kräfte und die Prioritäten der Arbeit erscheint erforderlich. "Leitlinien künftiger kirchlicher Arbeit" sind nur insofern sinnvoll, als sie dazu einen Beitrag leisten können.
4.1.2. Wenn es zutrifft, daß mit Leitlinien die Kirche auch auf eine veränderte Situation in der Gesellschaft reagiert, um sich der Anforderungen an ihre Arbeit neu bewußt zu werden (vgl. S. 7), dann werden sich mit der Situation auch die Leitlinien verändern müssen. Für die überschaubare Zeit müßte die Handlungsperspektive kirchlicher Arbeit nach unserer Überzeugung vorrangig auf eine "Beteiligungskirche" ausgerichtet sein. Das gilt nicht erst heute, aber heute besonders, und für die Zukunft ist es unausweichlich. Unter "Beteiligungskirche" verstehen wir, daß Kirche zunehmend daran erkennbar wird, daß nicht einige wenige, sondern möglichst viele zu ihrer Arbeit beitragen.
Dabei übersehen wir nicht, daß die Bindung zur Kirche unterschiedlich intensiv sein kann. Ebenso unterschiedlich kann auch das Beteiligungsverhalten sein. Schon bloße Zugehörigkeit ist heute unter Umständen ein Zeichen innerer Beteiligung. Aber auch die Beteiligung aus der Distanz, oder die Bereitschaft zu aktiver Mitarbeit ohne die Absicht einer förmlichen Mitgliedschaft sind keine Seltenheit. Diese Unterschiede auf Grund persönlicher Entscheidungen sind gerade auch in einer "Beteiligungskirche" zu respektieren.
4.1.3. Dennoch wird sie insgesamt mehr als bisher und bis in ihr Erscheinungsbild hinein davon geprägt sein müssen, daß ihre Arbeit von ihren Mitgliedern getragen wird. Das gilt für Haupt-, Neben- und Ehrenamtliche gleichermaßen. Es entspricht der reformatorischen Erkenntnis vom Priestertum aller Getauften. Beteiligung bedeutet damit nicht, daß die einen an andere abgeben von dem, was eigentlich ihnen zusteht, und darüber möglichst auch noch die Verfügung behalten wollen. Beteiligung ist ein partizipatorisches Geschehen. Es gründet in der Überzeugung, daß die, die teilhaben am Reich Gottes, sich auch am Dienst ihrer Kirche beteiligen werden. Mit ihrer Beteiligung nehmen sie wahr, was ihnen zukommt.
Daraus folgt jedoch auch, daß von einer "Beteiligungskirche" nur dann die Rede sein kann, wenn die Kirche ihren Gliedern weit mehr als bisher Gelegenheit zu verantwortlicher Beteiligung gibt, sie dazu ermutigt und auch befähigt. Was dies bedeutet und warum es heute unerläßlich erscheint, möchten wir im folgenden beispielhaft verdeutlichen.
4.2. Gemeinde in der Region
4.2.1. Die Zukunft der evangelischen Kirche in Deutschland wird sich in den Gemeinden entscheiden. Sie sind die Basis kirchlicher Arbeit. Sie bleiben der vorrangige Ort, wo christlicher Glaube gelebt und bezeugt wird. Nach wie vor bietet die Ortsgemeinde für die kirchliche Sozialisation enorme Chancen. "In ihr kann Glauben am Wohnort gelernt und praktiziert, Beteiligung in entscheidenden Lebensphasen erlebt und die Erfahrung christlicher Gemeinde vermittelt werden." (7) Die Ortsgemeinde gewährleistet die Präsenz der Kirche Jesu Christi dort, wo die Menschen leben. Sie nimmt Anteil an ihrem Alltag und begleitet sie in den Tiefen wie bei den Festen ihres Lebens. Die Ortsgemeinde bietet die Möglichkeit der Beteiligung bei relativ niedriger Zugangsschwelle.
Mit ihrer parochialen Struktur ist sie die "am meisten vertraute und am längsten erprobte Organisationsform kirchlicher Arbeit".(8) Nachdem sich dieses Gliederungsprinzip über Jahrhunderte bewährt hat, verliert es heute zunehmend an Selbstverständlichkeit. Die Defizite der Parochie zu benennen, bedeutet nicht einfach, ihr Ende zu fordern. Aber es gilt, ihre Grenzen und das Ende eines Strukturmonopols zu erkennen.
4.2.2. Die Ortsgemeinden haben durch Mitgliederschwund häufig eine erhebliche personelle Ausdünnung erfahren. Manche sind inzwischen so klein geworden, daß sie kaum mehr in der Lage sind, für ihren Einzugsbereich die kirchlichen Grundfunktionen eigenständig und ausreichend zu gewährleisten. Regelmäßige Gottesdienste, seelsorgerliche Begleitung, gemeindepädagogische Angebote vorrangig für Kinder und Jugendliche, sind gewissermaßen die ekklesiologischen Mindestanforderungen, wenn Kirche in der Parochialstruktur präsent sein soll. Auch diakonische Hilfeleistungen und gesellschaftliche Diakonie sowie die den Ältesten obliegende Mitverantwortung für die Kirchgemeinde gehören zu den unaufgebbaren Aufgaben, für die Regelungen gefunden werden müssen, wenn sie von der Gemeinde selber nicht wahrgenommen werden können.
Durch Verlust an Mitgliedern und Finanzen geschwächte Ortsgemeinden können diese Anforderungen heute oft nicht mehr erfüllen. Diese Entwicklung wird durch den unvermeidlichen Sparzwang noch verstärkt. Eine so weitgehend reduzierte Parochialgemeinde hat die Tendenz, sich auf sich selbst zurückzuziehen. Sie sucht Stärkung nach innen und ist sich damit zunehmend selbst genug. Im gleichen Maße verliert sie an Bedeutung im öffentlichen Bewußtsein. Sie wird zur Randerscheinung und wirkt nicht selten wie eine in sich geschlossene Gesellschaft. Damit hört sie auf, offene, einladende und gewinnende Gemeinde zu sein.
4.2.3. Zwischen der Parochie und dem Pfarrer (oder der Pfarrerin) besteht schon dem Begriff nach geschichtlich eine enge Verbindung. (9) Ihm war ein territorial umgrenzter Bezirk mit seiner Bevölkerung zur geistlichen Versorgung zugewiesen. Er stand damit für die Kirche am Ort: Wo der Pfarrer ist, da ist die Kirche. Dieses Verständnis hat sich weithin bis heute in der Gemeinde wie in der Kommune erhalten. Reformatorisch ist es deswegen nicht.
Zudem werden die kleiner gewordenen Gemeinden immer weniger damit rechnen können, daß sie einen Pfarrer oder auch einen hauptamtlichen Mitarbeiter bzw. eine Mitarbeiterin nur für sich allein beanspruchen können, selbst wenn dies nach missionarischen Erfordernissen gerade nötig wäre. Auch die Mitarbeiter müssen sich auf diese Situation einstellen. Die Präsenz der Kirche am Ort entscheidet sich damit künftig weniger an der Residenz des Pfarrers als vielmehr an der Existenz der Gemeinde. Diese Einsicht wächst unter dem Druck der Verhältnisse, aber sie entspricht auch ursprünglicher reformatorischer Überzeugung.
4.2.4. Wenn Kirche am Ort erfahrbar bleiben soll, wird es darum mehr noch als bisher auf die Christen selbst ankommen. Es bleibt die unaufgebbare Aufgabe der Gemeinde am Ort, daß dort, wo Christen wohnen, Zeugnis, Fürbitte und Gemeinschaft geschehen und Lobpreis und Anbetung Gottes nicht verstummen.
Eine Gemeinde, die ihre Kirchentüren zumeist verschlossen hält und die über den nächsten Gottesdienst kaum noch informiert, kann den Eindruck schwer entkräften, daß bei ihr nichts Wesentliches mehr stattfindet, daß sie mit der Beteiligung von Fremden und damit mit Wachstum schon nicht mehr rechnet.
Gottesdienste haben den gleichen Wert, auch wenn sie von Ältesten oder anderen geeigneten Gemeindegliedern gestaltet werden. Sie sind deshalb keine Ersatzveranstaltungen, weil ein Pfarrer nicht verfügbar ist. Wohl aber hängt viel davon ab, ob der oder die Pfarrerin bereit sind, solche Gottesdienste durch Ermutigung und Zurüstung zu fördern. Empfehlenswert ist auch, dafür besondere Ordnungen zu entwickeln, um ihre Bedeutung als reguläre Versammlungen der Gemeinde am Ort ohne Pfarrer auch bei kleiner Teilnehmerzahl zur Geltung zu bringen.
Es kommt also mehr noch als bisher auf die Gemeinden selber an. Das muß von ihnen nicht nur bejaht werden; die Arbeit muß von ihnen zunehmend auch selbst organisiert werden. Das tragende Gerüst lebendiger Gemeindearbeit werden die Gemeinden zunehmend selber stellen müssen. Dies gehört zu den Leitlinien künftiger kirchlicher Arbeit. Deshalb ist "Beteiligungskirche" wichtig.
4.2.5. Gewiß ist damit auch die Gefahr der Überforderung und der Vereinzelung verbunden. Umso mehr brauchen die Christen die Begegnung, den Austausch und die Gemeinschaft mit den Nachbargemeinden. Dies führt zunehmend zu gemeinsamer Arbeit innerhalb einer Region. Die Region entwickelt sich zu einer Ebene, in der Kirche erlebbar wird und zugleich überschaubar bleibt. Sie liegt zumeist unterhalb einer institutionalisierten Bezugsgröße wie etwa der des Kirchenkreises.
Durch die Zusammenarbeit in der Region lassen sich die Aufgaben gemeinsam erfüllen, die die Kräfte einer Gemeinde übersteigen (z.B. Kinder- und Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Kirchenmusik, Diakonie, Öffentlichkeitsarbeit). Indem Verantwortung nicht mehr allein beansprucht, sondern mit anderen geteilt wird, kann sie oft überhaupt noch oder wieder wahrgenommen werden. Auch das ist "Beteiligungskirche". Sie ist nicht auf die Ortsgemeinde beschränkt, sondern kann auch in regionalen Strukturen Gestalt gewinnen. Diese Entwicklung sollte bewußt gefördert werden.
Sicher ist die Situation in Großstädten anders als in ländlichen Gebieten. Den Kirchturmhorizont der eigenen Parochie gilt es jedoch hier wie dort zu überwinden. Das erfordert Einsicht, Bereitschaft und Umgewöhnung. Arbeitsteilige Zusammenarbeit braucht auch einvernehmliche Regelungen und verbindliche Absprachen von der Planung bis zur Finanzierung. Das Wissen um die Nachbarn in einer ähnlichen, wenn nicht sogar schwierigeren Situation hilft, den Gemeindebegriff zu entschränken, ohne ihn aufzugeben.
Personaler Bezug und Ortsverbundenheit bleiben wichtig, auch um den möglichen Schattenseiten der Regionalisierung zu entgehen: der Gefahr der Anonymität, der Vereinnahmung und mangelnder Überschaubarkeit. Die Region kann die Gemeinde am Ort nicht ersetzen, aber sie kann sie ergänzen. Wenn die Gemeinde über den eigenen Kirchturm hinaus arbeitet, wächst das Bewußtsein für ihre Weite. Sie wird frei von der Eingrenzung auf die eigene Parochie. Die unterschiedlichen Ebenen der Ortsgemeinde und der Region, des Kirchenkreises und der Landeskirche werden dann nicht mehr in gegenseitiger Konkurrenz, sondern als Netzwerk gesehen, das dem einen und gemeinsamen Auftrag zu dienen hat.
4.2.6 Bei der Zusammenarbeit in der Region ist vorausgesetzt, daß die beteiligten Gemeinden ihre rechtliche Selbständigkeit zunächst behalten. Angesichts fortschreitender Minorisierung werden jedoch auch Zusammenschlüsse nicht zu umgehen sein. Dafür kommen unterschiedliche Modelle in Betracht: Eine Kirchgemeinde wird in eine andere eingegliedert, oder Gemeinden vereinigen sich unter Aufgabe ihres rechtlichen Bestandes zu einer neuen Kirchgemeinde.
Denkbar ist auch der Zusammenschluß mehrer Gemeinden zu einem Gemeindeverband, einem Kirchspiel oder einer Gesamtkirchengemeinde. Welche Bezeichnung auch immer verwendet wird, entscheidend ist in diesem Fall, daß der Zusammenschluß ebenfalls den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts erhält. Er muß vor allem die Chance haben, zu einer eigenen geistlichen Gemeinschaft zusammenzuwachsen und dazu entsprechend ausgestaltet sein. Deshalb braucht er eine eigene Leitung und einen eigenen Haushalt, und er muß sich selber verwalten können. Ihm werden der Pfarrer/die Pfarrerin und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zugeordnet. Dies ermöglicht eine ausgeglichene Versorgung der dem Verband angehörenden Gemeinden, die alle gleichermaßen Anspruch auf den Dienst der Mitarbeiter haben.
4.2.7. Die Regionalisierung gemeindlicher Arbeit braucht zugleich die Bemühung um neue Kristallisationspunkte, an die sich vertraute und unverändert nötige Aufgaben aus den Gemeinden anlagern, die aber nicht mehr parochial ausgerichtet sind. Dies spricht für die Bildung regionaler geistlicher Zentren, die zu Gemeinschaft und Meditation, Zurüstung und Anbetung einladen.
Auch für die kirchlichen Werke stellen sich veränderte Aufgaben. Für die unterschiedlichsten Bereiche kirchlicher Arbeit, ob Ökumene, Mission und Diakonie, Frauen-, Männer-, Kinder- oder Jugendarbeit, stellen sie Arbeitshilfen und Angebote bereit, die vorrangig für den Bedarf der Gemeinden oder für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gedacht sind. Aus unterschiedlichen Gründen gehen die Anregungen jedoch oft an den eigentlichen Adressaten vorbei oder werden von ihnen nicht in Anspruch genommen.
Mit der Verlagerung von Schwerpunktaufgaben aus der Gemeinde in die Region bietet sich die Chance, die Angebote der Werke zielorientierter und effektiver zu nutzen. Das bedeutet Entlastung für die Kräfte am Ort. Die Werke wissen, daß sie wirklich gebraucht werden, wenn ihre Ideen und Erfahrungen gefragt sind. Dies erfordert freilich auch die Bereitschaft, sich bewußt auf die neue Arbeitsebene der Region einzustellen, wie die kirchlichen Werke dies zum Teil bereits tun.
4.2.8. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in der Region stößt dort an ihre Grenzen, wo Kirchenrecht und herkömmliche Organisationsmodelle dafür keinen Spielraum lassen. Man kann nicht für Regionalisierung eintreten und rechtlich alles beim alten lassen wollen. Zumindest Rahmenordnungen sind erforderlich, die Deregulierungen ermöglichen und Experimente zulassen.
Darüber hinaus müßten durch Erprobungsgesetze, die auch das Stellenbesetzungsrecht, das Mitarbeiter- und Pfarrerdienstrecht mit einbeziehen, Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden, um zu flexibleren Arbeitsstrukturen zu kommen, wie sie durch veränderte Prioritätensetzung angesichts der nötigen Konzentration der Kräfte geboten sind.
4.2.9. Einsparungen und Stellenabbau sowie die damit verbundenen Einschränkungen der Arbeit haben zur Folge, daß Gemeinden und Kirchenkreisen von den Landeskirchen zunehmend Aufgaben zugewiesen werden, für die sie auch die finanzielle Mitverantwortung übernehmen müssen. Eine Stärkung der Gemeindekompetenz ist durchaus zu begrüßen. Sie muß jedoch mit einer Stärkung der Finanzkraft der Gemeinden verbunden sein und dazu in einem vertretbaren Verhältnis stehen.
Dazu sollten auch die Gemeinden selber die nötigen Initiativen ergreifen. Wo dies noch nicht üblich ist, wird erneut die Einführung bzw. der verstärkte Einsatz für die Erhebung des Kirchgeldes (Gemeindebeitrag) empfohlen. Gemeindemitglieder, die keine Kirchensteuer zu zahlen haben, erhalten dadurch die Möglichkeit, sich an der Finanzierung der Arbeit ihrer Gemeinde zu beteiligen. Unumgänglich ist jedoch auch ein Finanzausgleich, der nicht nur zwischen Landeskirche und Gemeinde erfolgt, sondern der sich bewußt auch auf die Gemeinden untereinander erstreckt. Es ist kein Geheimnis, daß es nicht nur große und kleine, sondern auch vermögende und arme Gemeinden gibt. Die Bemühungen, hier zu einem Finanzausgleich zu kommen, der diesen Namen auch verdient, kommen oft über Ansätze nicht hinaus. Sie sind jedoch nachdrücklich zu unterstützen.
4.3. Gottes Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
4.3.1. Die Kirche lebt von der Mitarbeit aller ihrer Glieder. Nach reformatorischem Verständnis sind die Christen durch die Taufe dazu berufen, in Wort und Tat für das Evangelium von Jesus Christus einzutreten. Der Auftrag zu Zeugnis und Dienst ist der ganzen Kirche gegeben. Der Erfüllung dieses Auftrags dient aller Arbeit in der Gemeinde. Frauen und Männer arbeiten auf Grund ihrer Begabungen und Fähigkeiten in den unterschiedlichen Aufgaben, Ämtern und Diensten zusammen. Diese stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Sie sind aufeinander angewiesen. Zu Recht sagt die 4. These der Barmer Theologischen Erklärung: "Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes."
4.3.2. Die Mitarbeit in der Kirche und ihren Gemeinden geschieht ehrenamtlich, hauptamtlich oder nebenamtlich. So nötig der Beitrag hauptamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist, so entscheidend ist der freiwillige Einsatz derer, die in keinem Arbeitsverhältnis zur Kirche stehen, sondern sich freiwillig für sie engagieren, ohne dafür entlohnt zu werden. Sie stellen dafür ihre Zeit und ihre Kraft, ihre Erfahrung und ihre Kompetenz zur Verfügung. Ob sie Laien oder Ehrenamtliche genannt werden, ist sekundär; beide Begriffe sind heute nur begrenzt einleuchtend. Unverzichtbar ist das Engagement. Ohne die Beteiligung der Laien gäbe es die Kirche heute nicht. Von ihren Anfängen an ist dies das eigentlich tragende Element ihrer Arbeit. Darum kommt es auf "Beteiligungskirche" an. Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nehmen Aufgaben wahr, die der ganzen Gemeinde gestellt sind. Sie haben damit auch teil an der Verantwortung für Zeugnis und Dienst. Gerade ihre Arbeit hat heute besondere missionarische Bedeutung.
4.3.3. Haupt- und nebenamtliche Arbeit stehen zueinander nicht in Konkurrenz, sondern sie sind aufeinander angewiesen. Sie sind nach 1. Korinther 12,12ff unterschiedliche Funktionen der Kirche als des Leibes Christi. Kein Organ kann ein anderes ersetzen. Neben- und hauptamtliche Arbeit sind darum gleichwertig und unersetzbar. Sie brauchen einander. Haupt- und Ehrenamtliche sind zusammen Gottes Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die kirchliche Wirklichkeit sieht jedoch weithin ganz anders aus. Von engagierten Laien wird darauf kritisch und begründet immer wieder hingewiesen. Zu oft finden sie sich noch in der Rolle von Zuarbeitern, Handlangern oder Helferinnen vor, die ihnen von hauptamtlichen Diensten, vor allem von Pfarrern - oft unbedacht - zugewiesen wird.
Die meisten Landeskirchen - darunter auch die ostdeutschen - , Werke und Verbände haben in den letzten Jahren z.T. umfangreiche Handreichungen, Grundsätze und Leitlinien zum Ehrenamt beschlossen. (10) Sie zeigen einen deutlichen Wandel an. Die Bedeutung ehrenamtlichen Einsatzes für die kirchliche Arbeit soll nicht länger unterschätzt werden. Die Erwartungen nehmen eher zu, seitdem wegen der Sparzwänge auch in den Kirchen Arbeitsplätze abgebaut werden müssen. Weit überwiegend sind es nach wie vor Frauen, die sich zur Mitarbeit bereit erklären.
4.3.4. Den Kirchen ist auch deutlich, daß die Veränderungen in der Gesellschaft Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement auch in der Kirche haben. Neue Formen freiwilliger Betätigung werden gesucht. Laien haben inzwischen auch gelernt, nein zu sagen, wenn sie eine Aufgabe nicht oder nur für begrenzte Zeit übernehmen wollen. Ihr Selbstbewußtsein ist gewachsen. Sie wissen von ihrer Kompetenz und von dem Wert ihres Einsatzes. Insbesondere Frauen sehen sich veranlaßt, mehr Anerkennung und eine Aufwertung der ehrenamtlichen Arbeit zu fordern.
Nach den Leitlinien der Kirchen müßte es inzwischen selbstverständlich sein, daß freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur an der Ausführung der Aufgaben, sondern auch an der Planung und Verantwortung beteiligt werden. Sie haben ein Anrecht darauf, in Dienste, die sie übernehmen, im Gottesdienst eingeführt und daraus auch mit Dank und Anerkennung verabschiedet zu werden. Für Auslagen und Sachkosten müssen ihnen entsprechende Mittel zur Verfügung stehen. Auch der Versicherungsschutz muß gewährleistet sein. Vor allem haben sie einen Anspruch auf die erforderliche Qualifizierung und Weiterbildung für ihren freiwilligen Dienst. Selbst die zumindest partiell früher schon einmal mögliche Freistellung durch Betriebe und Einrichtungen für die ehrenamtliche Mitarbeit in der Kirche wird neu ins Gespräch gebracht unter Hinweis darauf, daß mit dieser Arbeit ein unverzichtbarer Beitrag für das Gemeinwesen geleistet wird.
Frauen und Männer für die freiwillige Mitarbeit in der Kirche zu gewinnen und zu ermutigen, aber auch zu befähigen und zu fördern wird eine der wichtigsten Aufgaben der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den nächsten Jahren sein.
4.3.5. Es fehlt also nicht an Einsichten, sondern an ihrer Umsetzung. Darum klagen Laien nach wie vor über Enttäuschung, Frustration und mangelnde Resonanz. Sie fühlen sich nicht ernst genommen und nicht genügend einbezogen. Ihre Ressourcen und Kompetenzen werden nicht abgefordert. Kirchenleitende Entscheidungen sind nicht nachvollziehbar, weil es an der nötigen Kommunikation fehlt. Sie werden dann schnell als bürokratische Reglementierungen empfunden, die die Bereitschaft zum eigenen Engagement ersticken.
Auch das Gefühl der Überforderung stellt sich ein. Dieser Eindruck wächst, je höher in Kirche und Gesellschaft die Erwartungen an das Ehrenamt geschraubt werden, weil sie gleichermaßen auf die unentgeltliche Mitarbeit angewiesen sind. Nicht jeder muß alles können. Das gilt auch für Laien. Eine Kirche, die von der Vielfalt der Gaben und Fähigkeiten her denkt, die den Menschen von Gott verliehen sind, muß auch haushalterschaftlich damit umgehen.
Damit freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu Handlangern werden, sondern die Aufgaben übernehmen können, für die sie kompetent sind, müssen sie auch vor Überforderung geschützt werden. Noch wichtiger aber ist, daß sie die Gelegenheit erhalten, ihre Kompetenzen zu erproben und weiterzuentwickeln. Ehrenamtliche Mitarbeit in der Kirche braucht heute neben dem biblischen Mandat auch die Chance zur Selbstfindung und Selbstbestätigung. Dazu gehört auch die Möglichkeit, eigene Kenntnisse und Fähigkeiten zu erweitern. Gegenüber der zunehmenden, zumeist erwerbsorientierten Tendenz zur Spezialisierung und Professionalisierung wird sich ehrenamtliche Arbeit sonst schwer behaupten können.
4.3.6. Wer in der Kirche ein Amt übernimmt, tut dies zumeist auf Dauer. Jedenfalls sind dies die Erwartungen, und es ist gängige kirchliche Praxis. Viele sind heute durch Beruf und Familie und gesellschaftliche Verpflichtungen in hohem Maße beansprucht. Auch Christen machen davon keine Ausnahme. Sie müssen einer Vielzahl von Aufgaben gerecht werden. Wegen der beruflich geforderten Flexibilität und Mobilität sind sie nur begrenzt an ihrem Wohnsitz erreichbar. Wenn Menschen immer weniger seßhaft sind, werden Gemeindeveranstaltungen notgedrungen zum Freizeitangebot. Sich daran zu beteiligen, gehört damit zur Freizeitgestaltung. Das verstärkt den Trend zur "Kirche bei Gelegenheit". Auch damit relativieren sich die herkömmlichen Erwartungen an Stetigkeit in Präsenz und Beteiligung, obwohl die Gemeinden auf kontinuierliche Mitarbeit angewiesen bleiben. Wer sich dazu entscheidet, wird dies deshalb heute oft nur partiell, projektbezogen und zeitlich befristet tun können. Mehr als bisher müssen Gemeinden damit rechnen und sich mit ihren Erwartungen, aber auch mit ihren Angeboten darauf einstellen.
4.3.7. Für die künftige Arbeit wird in jedem Fall Entscheidendes davon abhängen, daß freiwillige und unbezahlte Tätigkeit so intensiv geschieht und so normal erscheint, daß sie tatsächlich das tragende Element kirchlichen Lebens bildet. Bis dahin bleibt noch viel zu tun, denn die Umsetzung gewonnener Einsichten zur ehrenamtlichen Mitarbeit erfordert im Grunde eine Umorientierung.
Sie besagt, daß sich - erst recht angesichts der nicht zu übersehenden Umbruchsituation - die kirchliche Arbeit zwangsläufig verändern muß. Wir können nicht so weiterarbeiten wie bisher: immer noch mit vollem Programm, nur mit weniger hauptamtlichen Kräften, dafür ergänzt durch Ehrenamtliche. Dies kann keine tragfähige Zukunftsperspektive sein. Wo die Konzentration der Kräfte unvermeidlich ist, sind die Prioritäten und Strukturen der Arbeit neu zu bestimmen.
Wir werden uns dabei auch auf gewöhnungsbedürftige Lösungen einstellen müssen. Dazu könnte z.B. gehören, daß Älteste über ihre bisherigen Aufgaben hinaus zu Leitern kleiner Gemeinden berufen werden, die auf Grund ihrer geringen Mitgliederzahl mit einem eigenen Pfarrer nicht mehr rechnen können. Es ist ratsam, für unkonventionelle Regelungen rechtzeitig Mut und Phantasie zu entwickeln.
4.3.8. Die derzeitigen drastischen Einsparungen haben dazu geführt, daß ganze Aufgabengebiete ausgedünnt oder völlig aufgegeben werden müssen. Stellen werden reduziert, nicht mehr besetzt oder ganz abgebaut. Hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind nicht mehr wie bisher bezahlbar. Selbst Kündigungen sind nicht mehr ausgeschlossen. Damit gehen auch kirchliche Berufe und Ausbildungsgänge verloren. Viele, die sich bewußt für einen Dienst in der Kirche entschieden haben, müssen den Eindruck gewinnen, sie seien heute überflüssig. Obwohl es Arbeit genug gibt, die Aufgaben eher umfangreicher und die Chancen größer sind als zur Zeit der DDR, können sie nicht mehr beschäftigt werden, weil es an Geld fehlt.
Dies ist belastend auch für die, die noch einen bezahlbaren Arbeitsplatz haben. Manche entscheiden sich von sich aus zum Gehaltsverzicht, um anderen eine Anstellung zu ermöglichen. Um Arbeit und Geld mit anderen zu teilen, werden Teilzeitmodelle unterschiedlicher Art erprobt. Einem vordergründigen marktwirtschaftlichen Denken, daß Leistung sich lohnen muß und darum ihren Preis hat, setzen sie ihre Überzeugung entgegen, daß für die Qualität kirchlicher Arbeit andere Motivationen ausschlaggebend sind.
Letztlich werden die Kirchen jedoch nicht darum herumkommen, sich bei der Festsetzung der Gehälter weniger am Öffentlichen Dienst als an ihrer jeweils eigenen Finanzlage zu orientieren. Gehaltskürzungen sind dann nicht zu umgehen, wie die Erfahrung zeigt. Ob sie ausreichen und mittelfristig nicht doch eine Finanzreform unausweichlich wird, ist offen. Zu den unterschiedlichen Optionen gehören weitergehende Überlegungen wie die, alle hauptamtlichen Dienste von der zuständigen Landeskirche künftig nur mit einem Grundgehalt zu vergüten, das die Gemeinden mit Zulagen ergänzen müssen. Das hätte je nach Dienstumfang und Leistungsvermögen der Gemeinde unterschiedliche Gehälter zur Folge. Für die Bemessung des Arbeitsumfangs wären objektivierbare Kriterien erforderlich, die in Dienstanweisungen eingehen würden und damit auch überprüfbar wären.
4.3.9. Beträchtliche Veränderungen kommen jedenfalls auch auf die zu, deren Stellen erhalten bleiben. Durch Sparmaßnahmen und Stellenabbau verringern sich ja keineswegs die Aufgaben oder der Umfang der Arbeit, eher im Gegenteil. Der verbleibenden Mitarbeiterschaft wird damit in einem immer ausgedehnteren Arbeitsbereich ein ständig höheres Arbeitspensum zugemutet, bis - und das oft sehr bald, - die Grenzen der Belastbarkeit erreicht sind.
Um die Vielfalt und die Gemeinschaft kirchlicher Dienste erhalten zu können, wird von hauptamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Zukunft ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität erwartet werden. Sie müssen in Nachbargemeinden oder in einer ganzen Region Aufgaben übernehmen, die andernorts wegen unbesetzter oder eingezogener Stellen nicht mehr erfüllt werden können. Das erfordert die Bereitschaft, unterwegs zu sein, um Gemeinden und Gruppen fachlich zu beraten und geistlich zu stärken. Diese brauchen mehr denn je ein Netzwerk, das sie miteinander verbindet, sie trägt und instand setzt, ihre Aufgaben am Ort zu erfüllen.
4.3.10. Auf längere Sicht wird sich die kirchliche Arbeit dadurch insgesamt erheblich verändern. Sie wird weniger ortsgebunden sein, und die Einzugsbereiche werden vermutlich noch größer werden. Das führt zu neuen Gemeindemodellen mit einer veränderten Struktur der Ämter und Dienste (z.B. gegliedertes oder geteiltes Pfarramt). Zumindest in den ländlichen Regionen verändern sich mit den Entfernungen auch die Prioritäten. Zugespitzt und bildhaft gesprochen: nicht so sehr der residierende Pfarrer als der reisende Apostel ist dann gefragt. Als qualifizierter Pfarrer, Pädagoge oder Gemeindemitarbeiter fährt er oder sie von Station zu Station und besucht die Christen am Ort. Er oder sie teilt mit ihnen Erfolge und Niederlagen, Hoffnungen und Resignation. Mit seinem (ihrem) Besuch schafft er (sie) Nähe und Verbundenheit. Er (sie) bezeugt ihnen Gottes Gegenwart in seinem Wort, ermutigt sie zu Zeugnis und Dienst und stärkt sie in der Gewißheit, Teil der weltweiten Kirche Jesu Christi zu sein.
Wenn die Zahl hauptamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiter zurückgeht, die Gemeinden noch kleiner werden und noch mehr auf sich selbst gestellt sind, wird ihnen eine moderne Form apostolischen Besuchsdienstes umso wichtiger werden. So außergewöhnlich ist diese Prognose nicht. Was für unsere Verhältnisse noch nicht unmittelbar bevorzustehen scheint, ist in Minderheitskirchen in vielen Teilen der Welt, vor allem bei unseren Nachbarn in Ost- und Südeuropa, längst eine selbstverständliche Ausprägung der Gemeindearbeit. Sie verfügen darin zum Teil über jahrhundertelange Erfahrungen. Auch in dieser Hinsicht wird es Zeit, von der Ökumene zu lernen.
4.3.11. Das hat letztlich auch Folgen für die Anforderungen an die Ausbildungsgänge. Schon heute können die Kirchen jungen Menschen, die über eine qualifizierte Ausbildung verfügen, keinen Arbeitsplatz mehr garantieren. Sie müßten für sie alternative Beschäftigungsverhältnisse entwickeln. Es zeichnet sich ab, daß sich unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über kurz oder lang auch solche finden werden, die ihren kirchlichen Auftrag nicht mehr vollberuflich, sondern nur als Teilzeitbeschäftigung versehen, weil sie sich ihren Lebensunterhalt in einem anderen erlernten Beruf verdienen müssen. Vor allem in Ostdeutschland sollten sich die Kirchen beizeiten darauf einstellen.
4.3.12. Unverzichtbar bleibt das Bewußtsein, daß unter dem Leitbild der Kirche als Leib Christi die kirchlichen Dienste bei aller Verschiedenheit aufeinander bezogen und angewiesen sind. Viele arbeiten engagiert und zielbewußt, aber auf sich gestellt und allein. Die starke Spezialisierung hat diese Entwicklung gefördert und mitunter zur "Versäulung" und Abschottung geführt. Konflikte werden dann schnell als Verteilungskämpfe ausgetragen. Das gewachsene Selbstbewußtsein der Ehrenamtlichen ist für die Hauptamtlichen nicht nur Grund zur Freude; es irritiert sie gelegentlich auch. Es nährt bei ihnen die Befürchtung, daß das Engagement der Laien eine Beschränkung ihrer Arbeitsmöglichkeiten zur Folge haben könnte.
Die gegenwärtigen Strukturveränderungen verstärken unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Verunsicherung und Resignation. Sie bewirken mit- unter auch eine unverkennbare innere Distanzierung von der Institution Kirche. Dieser Entwicklung zu begegnen, sich um Verständnis und Verständigung zu bemühen und im Blick auf den allen gegebenen Auftrag gemeinsam etwas zu wollen, ist auch eine gemeinsame Aufgabe. Besondere Verantwortung kommt dabei den Trägerinnen und Trägern kirchenleitender Funktionen zu. Sie brauchen die Akzeptanz, das Vertrauen und die Solidarität. Ob sie sich darum ausreichend bemühen, ist eine nicht immer leicht zu beantwortende Frage.
4.4. Aufgaben der Landeskirchen
4.4.1. Finanzdefizit und Stellenabbau haben zur Folge, daß die Landeskirchen zunehmend Aufgaben an die Gemeinden und Kirchenkreise übertragen, die sie bisher selber wahrgenommen haben. Mit steigender Verantwortung wachsen die Selbständigkeit wie auch das Selbstbewußtsein der Gemeinden. Mitunter stellen diese bereits die Frage, wozu landeskirchliche Einrichtungen eigentlich noch gebraucht werden. Zu beachten ist auch, daß viele Kirche über ihren unmittelbaren Lebensbereich hinaus in der Öffentlichkeit vor allem in ihrem übergreifenden Reden und Handeln wahrnehmen und Orientierung nicht nur von der Landeskirche, sondern vor allem von der Gesamtkirche erwarten. Damit verstärkt sich die Frage nach der bleibenden Funktion landeskirchlicher Institutionen.
4.4.2. Manche halten die Landeskirchen in Ostdeutschland bereits für ein auslaufendes Modell. Es ist nicht zu übersehen, daß in den Landeskirchen ebenso wie in dem flächendeckenden Prinzip der Parochie auch heute noch nach jahrhundertealten Strukturen gearbeitet wird. Die frühere staatsanaloge Struktur evangelischen Kirchentums tritt in den Landeskirchen besonders deutlich hervor. Sie hat das landeskirchliche Kirchenregiment, aus dem sie hervorgegangen ist, weit überdauert. Insofern ist die Ansicht berechtigt, daß die Landeskirchen inzwischen strukturell geschichtlich überholt sind.
Jedenfalls reicht es nicht mehr aus, daß Landeskirchen sich nur durch ihr Territorium oder ihren Bekenntnisstand, durch geschichtliche Überlieferung oder rechtliche Autonomie definieren. Doch ihr historisches Erbe als Überreste einer früheren politischen Entwicklung ist das eine; davon zu unterscheiden ist die Erkenntnis, daß Landeskirchen mit plausiblen Strukturen auch weiterhin eine durchaus sinnvolle Gliederung für kirchliche Handlungsfelder sind.
4.4.3. Landeskirchen werden in Zukunft allerdings weniger als autarke, souveräne, selbstbestimmte Körperschaften von Bedeutung sein. In einem Netzwerk von Gemeinden, Regionen und Kirchenkreisen werden sie jedoch gebraucht und in sinnvoller Arbeitsteilung mit der Gesamtkirche weiterhin eigenständige Aufgaben zu erfüllen haben. Den Dienst an der Einheit in Verkündigung, Lehre und geistlicher Gemeinschaft innerhalb eines Kirchengebietes wahrzunehmen, das in seiner Ausdehnung einer Landeskirche entspricht, bleibt eine unverzichtbare Aufgabe. Auch die Vertretung gegenüber Staat und Gesellschaft auf der Ebene des jeweiligen Bundeslandes kommt nach wie vor der Landeskirche zu. Aus einsichtigen Gründen hat sie auch die Verantwortung für die Berufung und Anstellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für ihre Aus- und Weiterbildung, für die Umsetzung von Arbeits-, Dienst- und Vergütungsrecht zu tragen.
4.4.4. Wurden diese Aufgaben in der Regel auch bisher schon von den Landeskirchen wahrgenommen, so werden sie offenbar mehr als früher dazu benötigt, um angesichts einer sich weiter pluralisierenden kirchlichen Landschaft einheitsstiftend zu wirken. Diese Funktion, die ebenfalls dem Leib Christi als Leitbild der Kirche verpflichtet ist, ist eine ebenso pastorale wie kirchenleitende Aufgabe. Ohne sie wäre gemeinschaftlich gelebtes Christsein noch mehr in der Gefahr, in eine Vielzahl sich separierender und gegeneinander konkurrierender Gruppen zu zerfallen.
Die derzeitige Entwicklung begünstigt zudem eine neue Form von Kongregationalismus, für den die Gemeinde alles, die Kirche darüber hinaus aber wenig oder nichts bedeutet. Dieses Selbstbewußtsein erwartet nichts mehr "von oben", sondern alles von eigener Aktivität im Ortsbereich. So begrüßungswert die Bereitschaft zu mehr Verantwortung in der Gemeinde ist, so nötig ist ihre Integration in den Organismus der Landeskirche, wenn sie dem Ganzen dienlich sein soll. Nicht weniger hat die Landeskirche auf die selbstgenügsame Passivität mancher Gemeinden zu achten, die ihren eigenen Fortbestand von den Zuwendungen der Zentrale abhängig macht und damit ein Obrigkeitsdenken konserviert, das immer noch vergangenen staatsanalogen Strukturen verhaftet ist.
4.4.5. Natürlich bedarf kirchliche Arbeit der Verabredung und des Einvernehmens und damit auch eines gewissen Ordnungsrahmens. Dies ist Sache der Landeskirche. Sie hat für die nötige Kommunikation zu sorgen. Sie bemüht sich um die Solidarität zwischen den Gemeinden und fordert sie auch ein gegenüber einem stärker werdenden Gemeinde-Egoismus.
Dieser bedient sich gern der gängigen und doch unangemessenen Rede von "denen da oben" und "wir hier unten". Gemeinden und kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind jedoch nicht nur Betroffene, sondern auch Beteiligte, durch Synodalentscheidungen wie auch durch die Inanspruchnahme von Finanzmitteln. Gerade die synodale Verfassung läßt die Distanzierung nicht zu. Vor allem als Vertretung des Laienelements muß die Kompetenz der Synoden eher noch gestärkt werden.
4.4.6. Die Landeskirchen sind mit ihren Aufgaben nicht auf sich allein gestellt. Sie gehören kirchlichen Zusammenschlüssen an, die eine arbeitsteilige und föderative Zusammenarbeit ermöglichen. Angesichts der gegenwärtigen Situation wird den Landeskirchen empfohlen zu prüfen, wieweit sie zu ihrer Entlastung bestimmte Verpflichtungen ganz auf die Gesamtkirche (EKD bzw. EKU und VELKD) übertragen oder untereinander zur Erfüllung ihrer Aufgaben bilaterale oder mehrseitige Vereinbarungen abschließen sollten. Dies kommt z.B. für Ausbildungsstätten, für Medienarbeit, für ökumenische und diakonische Aufgaben in Betracht. Angesichts des zurückgehenden Finanzaufkommens werden die Landeskirchen zu solchen Schritten genötigt sein.