Kirche mit Hoffnung
6. Zusammenfassung
Die ostdeutschen Kirchen stehen vermutlich an einer Epochenwende ihrer Arbeit. Nach dem jahrzehntelangen Mitgliederverlust ist Konfessionslosigkeit ein Massenphänomen. Weite Teile der Bevölkerung haben zur Kirche kein Verhältnis mehr. Dazu kommt der Vertrauensverlust der gesellschaftlichen Institutionen, dessen Folgen auch die Kirche zu tragen hat.
Trotz Entfremdung und Enttäuschung gibt es dennoch auch in Ostdeutschland nach wie vor nicht geringe Erwartungen an die Kirche, daß sie zur Bewältigung der vielfältigen Konflikte in der Gesellschaft einen entscheidenden Beitrag zu leisten hat.
Die drastischen Sparmaßnahmen in den Kirchen stehen solchen Erwartungen vielfach entgegen. Infolge des Mitgliederschwundes und stark gesunkener Einnahmen sind sie jedoch unvermeidlich. Ebenso unausweichlich werden jedoch auch weitreichende strukturelle Veränderungen kirchlicher Arbeit.
"Leitlinien künftiger kirchlicher Arbeit" wollen dazu beitragen, daß die Kirche sich unter den gewandelten Bedingungen der Anforderungen an ihre Arbeit neu bewußt wird. Damit nötige Veränderungen nicht in der begrenzten Perspektive kurzfristiger und vordergründiger Entscheidungen stecken bleiben, bedarf es dazu immer wieder auch einer theologischen Vergewisserung des Auftrags der Kirche.
Voraussetzung ihres Dienstes ist die Gewißheit, daß der lebendige Herr niemals aufhören wird, seine Gemeinde zu sammeln. Sie ist zum Zeugnis von Jesus Christus in die Welt gesandt. Darum ist die Kirche Zeugnisgemeinschaft. Sie hat den Menschen mit dem Wort wie mit der Tat zu dienen. Insofern ist sie Dienstgemeinschaft. In der Vielfalt der verkündigenden und diakonischen Dienste ist die Kirche Kommunikationsgemeinschaft, in der alle aufeinander angewiesen sind. Der tragende Grund dieser Gemeinschaft ist jedoch die Gemeinschaft im Gottesdienst und im Gebet.
Kirche ist ohne Mission nicht denkbar. Sie ist dazu da, daß Menschen glauben können. Die Kirche hat die Gottesfrage wachzuhalten. Dieser Aufgabe wegen ist sie unverzichtbar. In der Begegnung mit Distanzierten und Konfessionslosen treffen Christen auf andere Lebenserfahrungen und andere Lebensentwürfe. Indem sie sie achten und sich auf ihre Fragen und Sehnsüchte einlassen, können sie dem Evangelium den Weg bereiten. Mission in Ostdeutschland ist vorrangig Beziehungsarbeit. Persönliche Begegnungen sind dafür unerläßlich.
Dazu wird eine offene, einladende und gewinnende Kirche gebraucht. Wie nötig sie auch für Christen selber ist, zeigt sich an ihrer Sprachlosigkeit, wenn sie über ihren Glauben Auskunft geben sollen. Um das Kommunikationsghetto und die kirchliche Binnenorientierung zu überwinden, ist ein Perspektivenwechsel nötig, durch den die Gemeinden einen Blick dafür bekommen, wie sie von außen wahrgenommen werden.
Eine Leitlinie für die kommenden Jahre sollte sein, daß kirchliche Arbeit vorrangig auf eine "Beteiligungskirche" ausgerichtet ist. Damit ist gemeint, daß die Kirche zunehmend daran erkennbar wird, daß ihre Arbeit von ihren Mitgliedern getragen wird. Beteiligung ist ein partizipatorisches Geschehen. Es gründet in der Überzeugung, daß die, die teilhaben am Reich Gottes, sich auch am Dienst ihrer Kirche beteiligen werden.
Die Gemeinden sind die Basis kirchlicher Arbeit. Die Präsenz der Kirche am Ort entscheidet sich künftig jedoch weniger an der Residenz der Pfarrer als an der Existenz der Gemeinde. Das tragende Gerüst lebendiger kirchlicher Arbeit werden die Gemeinden zunehmend selbst stellen müssen. Da sie durch den Mitgliederschwund die Mindestanforderungen an eine eigenständige kirchliche Versorgung oft nicht mehr gewährleisten können, wird die Zusammenarbeit in der Region unerläßlich. Gemeinsam lassen sich Aufgaben erfüllen, die die Kräfte einer Gemeinde übersteigen. Darum ist "Beteiligungskirche" wichtig.
Haupt- und nebenamtliche Arbeit sind in der Kirche gleichwertig und unersetzbar. Von den Anfängen an ist freiwilliger und unentgeltlicher Einsatz die eigentlich tragende Ebene kirchlicher Arbeit gewesen. Auch insofern kommt es auf "Beteiligungskirche" an. Laien erfahren dies jedoch zu wenig. Immer noch wird ihnen eher die Rolle von Zuarbeitern, Handlangern und Helferinnen zugedacht. In den Kirchen fehlt es nicht an Einsichten, was sich verändern müßte, sondern es fehlt an ihrer Umsetzung.
Die Umsetzung erfordert ein Umdenken. Durch Sparmaßnahmen und Stellenabbau nimmt die Arbeit in einem Umfang zu, der weder von haupt- noch von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch zu bewältigen ist. Angesichts der unvermeidlichen Konzentration müssen die Prioritäten und die Strukturen der Arbeit neu bestimmt werden.
Sie wird zunehmend weniger ortsgebunden sein können. Die Einzugsbereiche werden vermutlich noch größer werden. Das führt zu neuen Gemeindemodellen und veränderten Strukturen für Dienste, Ämter und Werke. Von hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität erwartet werden müssen. Eine moderne Form apostolischen Besuchsdienstes ist für viele Kirchen weltweit - auch in Europa - längst eine durchaus gewohnte Arbeitsform. Hier liegen ökumenische Erfahrungen bereit, die es wert sind, für die eigene Situation geprüft zu werden.
Angesichts der Entwicklung in Ostdeutschland halten manche die Landeskirchen nicht nur wegen ihrer staatsanalogen Struktur, sondern auch wegen der wachsenden Selbständigkeit der Gemeinden für ein auslaufendes Modell. Es reicht nicht mehr aus, wenn Landeskirchen sich nur durch ihr Territorium und ihre Geschichte, durch ihren Bekenntnisstand oder durch ihre rechtliche Autonomie definieren. In einem Netzwerk mit Gemeinden, Regionen und Gesamtkirche werden sie jedoch weiterhin gebraucht und eigenständige Aufgaben zu erfüllen haben. Da die Pluralisierung der kirchlichen Landschaft offenbar weiter zunimmt, ist das einheitsstiftende Mandat der Landeskirchen heute von besonderem Gewicht.