Was können wir von Dietrich Bonhoeffer lernen?

Sehr vieles, sagt der Theologe und ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber

Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland neben einer Bronzebüste von Dietrich Bonhoeffer

­Wolfgang Huber, ehemaliger Vorsitzender des ­Rates der EKD, neben einer Bronzebüste von­ Dietrich Bonhoeffer. Huber hat 2019 ein Buch über den evangelischen Theologen und Widerstandkämpfer veröffentlicht. Er meint:„Bonhoeffers Vorbild kann uns helfen, die Zeichen unserer Zeit wahr­zunehmen, bevor es zu spät ist.“

„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

So lauten die bekanntesten Worte, die von Dietrich Bonhoeffer überliefert sind. Mit ihnen endet das wichtigste geistliche Gedicht des 20. Jahrhunderts. Das Gedicht war das letzte Zeichen der Liebe zu seiner Braut Maria von Wedemeyer. Diese Liebe blieb ebenso Fragment wie das Leben des Berliner Theologen, das am 9. April 1945 durch einen Justizmord ein jähes Ende fand. Im Konzentrationslager Flossenbürg wurde Bonhoeffer nach einem standgerichtlichen Verfahren umgebracht. Mit 39 Jahren starb er als Opfer von Adolf Hitlers Rachsucht gegen die Verschwörer des 20. Juli. Er ahnte ­dieses Ende; aber für ihn war es zugleich ein Beginn.

Jesus als fester Anker

In der Gewissheit, dass der gewaltsame Tod sein Leben nicht zunichtemachte, zeigte sich sein Gott­vertrauen. Bonhoeffer orientierte sich an Jesus – seiner Menschlichkeit, seinem Kreuzestod, seiner Aufer­stehung. Darin fand er einen festen Anker. Dass Bonhoeffers Tod ein Beginn war, bestätigte sich darüber hinaus in einer Weise, die er selbst nicht ahnen konnte. Denn sein Leben gewann ­eine Ausstrahlung, die über alles, was er hatte bewirken können, weit hinausgeht.

Weil er sich aus Glaubens­überzeugung und Gewissenspflicht dem Widerstand gegen Hitler anschloss, ­wurde er schon bald nach ­seinem Tod als Märtyrer gewürdigt. Die Briefe, Aufzeichnungen und Gedichte aus der Haft, die nach seinem Tod ver­öffentlicht wurden, entfalten bis ­heute eine weltweite Wirkung. In ­vielen ­Ländern der Erde – von ­Japan bis ­Brasilien, von Südafrika bis ­Polen – wird er als Vorbild ge­achtet. Sein Beispiel ermutigt zum Widerstand gegen ungerechte Regime, zum Eintreten für den ­Frieden, zur Zivilcourage im Ringen um den richtigen politischen Weg. In China lesen Angehörige der politischen ­Opposition in der Gefängniszelle seine Briefe aus der Haft; in vielen Kirchen der Welt ermutigt er zu neuen Formen der christlichen Existenz.

Auch Bonhoeffer haderte mit seinem Schicksal

In seinem letzten Gedicht findet das Gottvertrauen in schwierigster Zeit einen ebenso starken wie behutsamen Ausdruck. Natürlich haderte er mit seinem Schicksal; in der Einsamkeit der Gefängniszelle war er oft der Verzweiflung nahe. Aber ­seine ­Glaubensgewissheit half ihm, vor Schwierigkeiten nicht zu kapitulieren, Enttäuschungen produktiv zu verarbeiten und der Todesangst zu trotzen.

Von Anfang an stand er in ­klarer Opposition zu Hitlers Herrschaft und beteiligte sich schließlich aktiv am politischen Widerstand. Mehrfach verließ er Deutschland, um sich ­neuen Erfahrungen auszusetzen. ­Italien, Spanien, die USA, Großbri­tannien waren Länder, in denen er sich ­längere Zeit aufhielt. Aber er kehrte immer wieder zurück, selbst als dies lebensgefährlich wurde.

Im Sommer 1939 fielen die ­Würfel. Er wurde in die USA eingeladen, wo man ihm anbot, auf Dauer zu bleiben. Doch über die Möglichkeit des Exils erschrak er zutiefst. Es kam ihm wie ein Verrat an seinen Freunden, an seiner Fa­milie und an den von ihm ausgebildeten Pfarrern vor. Wie sollte er nach dem Krieg am Wiederaufbau Deutschlands mitarbeiten, wenn er den Krieg nur aus der Ferne miterlebt hätte?

Er war entschlossen, den Kriegsdienst in Hitlers Wehrmacht zu verweigern – nicht weil er ein prinzipieller Pazifist war, sondern weil er die Beteiligung an einem ­offenkundig ungerechten Krieg ablehnte. Doch dann öffnete ihm sein ­Schwager Hans von Dohnanyi den Weg zu einer Tätigkeit im militärischen Geheimdienst der deutschen Wehrmacht. In dieser Funktion ­stellte er nicht nur seine internationalen Verbindungen in den Dienst der „Feindaufklärung“. Viel wichtiger war, dass er seine Kontakte für die ­Widerstandsgruppe nutzte, die sich in ­seiner Berliner Dienststelle bildete. Ihr wuchs schnell eine Schlüsselrolle für die Zusammenarbeit zwischen dem militärischen und dem zivilen Widerstand gegen Hitler zu.

Trotz allem die kommende Generation im Blick

Offiziell war er Mitglied des mili­tärischen Geheimdiensts, im Ver­borgenen Angehöriger der Ver­schwörung gegen den „Führer“. Das allein kann einen Menschen schon in Atem halten. Dennoch richtete sich Bonhoeffers Blick über die Forderungen des Tages hinaus. Die Flucht vor der Verantwortung kam für ihn nicht infrage. Nicht wie er sich ­„heroisch aus der Affäre ­ziehen“, ­sondern wie „eine kommende Generation weiterleben“ könne, war für ihn die entscheidende Frage. Wie sollte Deutschland nach dem er­hofften ­Ende der Naziherrschaft aussehen? Wie ließ sich erreichen, dass Menschen in ihrem Lebensrecht wie in ihrer Freiheit ­gleichermaßen geachtet wurden? ­Fragen dieser Art ließen ihm keine Ruhe.

Er motivierte andere, sich damit zu beschäftigen. Er selbst bearbeitete sie, solange er sich noch frei be­wegen konnte, in einem Manuskript, das grundlegenden Fragen der Ethik gewidmet war. Er schärfte vor allem die Verantwortung für fremdes wie für das eigene Leben ein. Lebte er in ­unserer Zeit, würde er auch den nachhaltigen Umgang mit der Natur hervorheben und darauf drängen, dass wir durch unsere Lebensge­staltung nicht den Lebensraum derer zer­stören, die nach uns kommen. Der Klimawandel ist eine Herausforderung, auf die man Bonhoeffers Einsichten praktisch anwenden kann.

Hoffnung auf Erneuerung des Glaubens und der Kirche

Ebenso wichtig war ihm die ­Frage nach der künftigen Gestalt der ­Kirche. Sie bedrängte ihn besonders in der Einsamkeit der Gefängnis­zelle. Die Kirche verfehlte nach seiner Überzeugung ihren Auftrag, ­solange sie nur um sich selbst kreiste und in der Selbstverteidigung befangen blieb. Es kam darauf an, ein Wagnis für andere einzugehen. Vor allem das Schicksal von Jüdinnen und Juden stand Bonhoeffer bei einer solchen Forderung vor Augen. Der Glaube konnte nicht länger auf die fromme Innerlichkeit beschränkt bleiben oder auf das Weltbild vergangener Zeiten gestützt werden. Bonhoeffer verstand den Glauben als eine Haltung, die das Leben bestimmt. Eine solche Erneuerung des Glaubens und der Kirche gehörte zu den großen Hoffnungen, die zeit seines Lebens uneingelöst blieben.

Diese Hoffnung kann uns heute beflügeln. Sie begründet das Ein­treten für nachhaltige Entwicklung, für die Überwindung von Armut und die Bekämpfung des Hungers in der Welt. Eine „Kirche für andere“ in Bonhoeffers Sinn steht auf der Seite von Menschen, die in ihrer Freiheit bedroht sind und um Leib und ­Leben fürchten müssen. Sie wendet sich ­denen zu, die vereinsamen und Angst vor der Zukunft haben. Sie hilft ­Menschen, zuversichtlich zu leben und getröstet zu sterben.

Bonhoeffers Leben blieb Fragment. Doch es ist erstaunlich, wie viel in diesem Leben Raum hatte. Die Leidenschaft für die Musik, die Lust am Spiel, die Kunst der Freundschaft und die Sehnsucht nach Liebe gehörten genauso dazu wie das Wirken für Kirche und Theologie, für die Ermutigung junger Menschen und für die Ausbildung künftiger Pfarrer.

Den Opfern beistehen

Der Politik so viel Platz in seinem kurzen Leben einzuräumen, hatte er nicht geplant. Es waren die Umstände der Zeit, die dazu nötigten. Er wollte den Staat an seine Aufgabe erinnern, für ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen. Er erkannte die ­Notwendigkeit, den Opfern unter dem Rad von Unfrieden und Ungerechtigkeit beizustehen. Er erlebte, dass es in bestimmten Situationen nicht reicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Dann gilt es, dem Rad selbst in die Speichen zu greifen.

Wir leben in anderen Zeiten. Doch Bonhoeffers Vorbild kann uns helfen, die Zeichen unserer Zeit wahr­zunehmen, bevor es zu spät ist: Wenn die demokratischen Institu­tionen der Lächerlichkeit preisge­geben werden, ist Widerstand angesagt, nicht ­Kumpanei. Wenn die Möglichkeiten einer freien Gesellschaft genutzt werden, um gegen Minderheiten ­Stimmung zu machen, ist Parteinahme nötig, nicht Gleichgültigkeit. Wenn Antisemitismus um sich greift, gilt auch heute Bonhoeffers berühmter Satz: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“

Wolfgang Huber (für chrismon)


Wolfgang Huber ist Professor für ­Theologie in Berlin, Heidelberg und ­Stellenbosch (­Südafrika). Er war  Vorsitzender des ­Rates der EKD­ und Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-­Brandenburg-schlesische Ober­lausitz sowie Mitglied im Deutschen ­Ethikrat. Als Theologe setzt er sich vor allem mit ethischen Fragen auseinander. 2019 erschien von ihm das Porträt „­Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit“ (C.H. Beck).

Dieser Beitrag erschien zuerst im chrismon-Heft April 2020 und auf chrismon.de.