„Eigentlich ist das alles ganz einfach mit der Religionsfreiheit“
Ein gefährdetes Menschenrecht - Interview mit dem Experten Heiner Bielefeldt
Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Katholische Deutsche Bischofskonferenz arbeiten an einem ausführlichen Bericht zur Religionsfreiheit weltweit. Prof. Dr. Heiner Bielefeldt ist Mitglied in der dafür zuständigen Arbeitsgruppe. Im Interview erklärt er, warum Zahlen, Rankings und Superlative beim Thema Religionsfreiheit problematisch sind.
Warum legen die Kirchen ihr Augenmerk auf Religionsfreiheit und nicht auf Christenverfolgung, wie es andere kirchliche Akteure tun?
Heiner Bielefeldt: Christenverfolgung gibt es. Das ist unbestritten. Wer sich aber genauer mit diesem Phänomen beschäftigt, kann nicht ausblenden, dass auch Angehörige anderer Religionen verfolgt werden. Die Kirchen wären unglaubwürdig, wenn sie sich nur für verfolgte Christen einsetzten. Deswegen legt der Bericht den Fokus auf das Menschenrecht Religionsfreiheit, und das gilt für Menschen aller Religionen und auch für diejenigen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen.
Dann schützt das Recht auf Religionsfreiheit auch Atheisten?
Bielefeldt: Ja, genau. Es geht bei diesem Menschenrecht nicht nur um Religion im engeren Sinne, sondern auch um den Schutz von Menschen, für die nicht-religiöse Weltanschauungen sinnstiftend sind.
Wo bleibt da die christliche Solidarität? Wäre es nicht naheliegender, wenn sich die Kirchen vor allem auf verfolgte Christinnen und Christen in aller Welt konzentrieren würden?
Bielefeldt: Natürlich können Glaubensgemeinschaften beschließen, sich nur für die Interessen ihrer eigenen Anhänger einzusetzen. Ich wünsche mir aber nicht, dass gegen Antisemitismus nur Juden kämpfen und gegen Islamophobie allein Muslime. Das ergibt keinen Sinn. Vielmehr sollten alle Kräfte für dieses gemeinsame Menschenrecht gebündelt werden.
Können Sie Beispiele nennen, wo sich verschiedene Kräfte für die Religionsfreiheit zusammengetan haben?
Bielefeldt: Im UN-Menschenrechtsrat hat sich einmal eine Vertreterin der Baha’i, deren Glaubensgemeinschaft im schiitisch dominierten Iran massiv und brutal verfolgt wird, sehr eindrücklich gegen die Schiitenverfolgung in Malaysia und Indonesien ausgesprochen. Das war beeindruckend. Eindrücklich war auch, als sich Christian Solidarity Worldwide zusammen mit dem Verband der britischen Humanisten für einen Atheisten in Indonesien einsetzte, der angeblich den Islam beleidigt hatte. Solche Formen der Zusammenarbeit sind nur möglich, wenn man die Menschenrechte als gemeinsamen Bezugsrahmen definiert und sich nicht nur für die Interessen der eigenen Glaubensgemeinschaft stark macht.
Was genau heißt Verfolgung?
Bielefeldt: Im Bereich der Religionsfreiheit bleibt der Begriff unscharf, weil es sehr viele Dimensionen gibt. Das können Alltagsschikanen sein, allgemeine Diskriminierung, es gibt historische Marginalisierungen und so weiter. Von Verfolgung würde ich allenfalls reden, wenn es sich um schwere, gezielte und systematische Repressionen durch Regierungen oder quasi-staatliche Akteure handelt. Deswegen plädiere ich sehr dafür, dass man den Begriff nicht inflationär verwendet und auch nicht isoliert. Man sollte eher von „Bedrängung und Verfolgung“ sprechen.
Warum geht der Bericht der beiden Kirchen so sparsam mit Zahlen um?
Bielefeldt: Politik und Medien arbeiten gern mit Zahlen. Was aber lässt sich denn wirklich konkret zählen? Die Zahl der Inhaftierten vielleicht oder die Getöteten. Damit ist aber noch nichts über andere Formen von Übergriffen gesagt. Wer ist zum Beispiel betroffen, wenn Hakenkreuze auf Grabsteine geschmiert werden? Ist es der Tote, sind es seine Hinterbliebenen, geht es um die lokale Gemeinde oder um alle Juden?
Das gleiche muss man sich fragen bei Stereotypen über eine bestimmte Religionsgemeinschaft, die in Schulbüchern wiedergegeben werden. Wessen Religionsfreiheit wird da missachtet? Die der jeweiligen Schülerinnen und Schüler in der Klasse, geht es auch um ihre Familien, oder die ganze Religionsgemeinschaft?
Von solchen Phänomenen kann man nicht auf ein ganzes Land oder sogar auf die ganze Welt schließen. Ich bin immer sehr skeptisch, wenn jemand Zahlen zur Religionsfreiheit nennt. Verletzungen und Einschränkungen von Religionsfreiheit sind so vielschichtig und komplex. Da lassen sich seriöse Zahlen nicht leicht erheben.
In den Schlagzeilen taucht immer wieder die Behauptung auf, dass Christinnen und Christen weltweit die am meisten verfolgten Gläubigen seien. Würden Sie dem zustimmen?
Bielefeldt: Ich würde nicht das Gegenteil behaupten, halte solche Superlative aber für fragwürdig. Zum einen ist das Christentum nun mal die größte Religionsgemeinschaft weltweit. Die Baha’i dagegen sind eine sehr kleine Religionsgemeinschaft, werden in ihrem eigentlichen Herkunftsland, dem Iran, aber massiv verfolgt. Manchmal ist die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft umstritten. Gehören die Ahmadiyya, die in Pakistan massiv verfolgt werden, zum Islam? Sie selbst sehen sich eindeutig als Muslime, und das sollte man respektieren, sie werden aber vielerorts ausgegrenzt. Und dann sind manche Formen der Verfolgung eher abstrakt wie zum Beispiel antisemitische Verschwörungstheorien, die in raunendem Tonfall Misstrauen säen – manchmal sogar ohne Juden direkt zu nennen.
Und schließlich gibt es innerhalb der Christenheit unterschiedliche Grade von Betroffenheit. Oft sind evangelikale Freikirchen stärker betroffen als traditionelle Kirchen. Nehmen wir Russland und vergleichen mal die Situation der Russisch-orthodoxen Kirche und die der Zeugen Jehovas, die sich ja ebenfalls als Christen verstehen. Gegen diese gibt es seit 2017 einen Gerichtsbeschluss, wonach die ganze Gemeinde aufgelöst wird. Wie will man das alles quantitativ berechnen? Deswegen ist Vorsicht geboten bei Superlativen wie der von der am meisten verfolgten Religionsgemeinschaft.
„Repression lässt sich nicht auf zählbare Ereignisse reduzieren.“
Und was halten Sie von Rankings, mit denen deutlich gemacht werden soll, in welchen Ländern es besonders schlimm für Christinnen und Christen ist?
Bielefeldt: Seriöse Rankings sind ein Ding der Unmöglichkeit. Repression kann sehr feingliedrig sein. Das lässt sich nicht auf zählbare Ereignisse reduzieren. Auch darf man das Thema nicht auf die sogenannten A-B-C-Themen beschränken, also auf Apostasie (Abwendung von einer Religion; Anmerkung d. Red.), Blasphemie und Konversion. Das wird der Komplexität des Gesamtphänomens nicht gerecht.
Ich habe mir solche Rankings angeschaut: Eine Studie kam einmal zu dem Schluss, dass die Situation in Indien schlimmer sei als in Saudi-Arabien. Da ist etwas gewaltig schiefgelaufen. Denn in Saudi-Arabien haben die Machthaber alles brutal im Griff. In Indien dagegen herrscht trotz zunehmender Repression immerhin Pluralismus. In einem anderen Ranking, in dem die Humanisten die Situation der Freidenker weltweit beschrieben haben, stand Deutschland so ungefähr auf einer Ebene mit der Türkei. Das ist schlicht absurd.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Kirchen in Deutschland im Hinblick auf die Religionsfreiheit im eigenen Land?
Bielefeldt: Auf institutioneller Ebene gibt es in Deutschland sicher noch ein paar Baustellen, wie zum Beispiel den konfessionellen Religionsunterricht an den Schulen, bei dem die großen Konfessionen bevorzugt werden. Die größeren Probleme sehe ich aber auf gesellschaftlicher Ebene, denn die Sensibilität für die Bedeutung von Religionsfreiheit geht mehr und mehr verloren.
Woran machen Sie das fest?
Bielefeldt: Als vor zehn Jahren die religiös motivierte Beschneidung von Jungen diskutiert wurde, war ich schockiert, wie lapidar über Fragen der Religionsfreiheit gesprochen wurde. Als sei sie ein Relikt aus alten Zeiten, das irgendwie in die Menschenrechte mit reingerutscht ist. Diese Entwicklung macht mir Sorge. Zwar gibt es in Deutschland noch einen hohen Respekt vor der Rechtsprechung. Doch dieses Vertrauen kann auch schwinden. Wir müssen ernsthaft für die Religionsfreiheit eintreten, wenn sie nicht wegbrechen soll.
Welche potenziellen Mitstreiter haben die Kirchen in Sachen Religionsfreiheit?
Bielefeldt: Ich begrüße immer unkonventionelle Konstellationen. Zum Beispiel gibt es Parallelen zwischen dem Datenschutz, der ärztlichen Schweigepflicht und dem Beichtgeheimnis. Menschen und Institutionen, denen diese Prinzipien wichtig sind, können sich zusammentun, um diese zu schützen. Oder das starke Interesse an ökologischen Fragen kann mit den Rechten indigener Völker zusammengedacht werden. An solchen Bündnissen fehlt es noch. Da wünsche ich mir mehr Kreativität.
Gibt es Ihrer Erfahrungen nach auch Bereiche, in denen Bewusstsein für Religionsfreiheit wächst?
Bielefeldt: Eigentlich ist das mit der Religionsfreiheit ganz einfach. Es braucht nicht viel, um Menschen von dem schlüssigen Konzept der Menschenrechte zu überzeugen. Denn es geht um Menschenwürde und Freiheit. Wer einmal selbst Verletzungserfahrungen gemacht oder sie bei anderen Menschen mitbekommen hat, dem wird die Dringlichkeit dieser Rechte deutlich. Die Menschenrechte leben von der Urevidenz der Menschenwürde.
Deswegen finde ich es auch nicht schwierig, in interkulturellen Kontexten über Religionsfreiheit oder Menschenrechte zu sprechen. Es ist auch keine Frage der Bildung, um das zu verstehen. Das Verständnis für Religionsfreiheit funktioniert intuitiv. Intuition ist aber nicht eindimensional. Deswegen muss man ab und zu die Dinge systematisieren und sortieren. Und genau das machen die beiden Kirchen in ihrem Religionsfreiheitsbericht.
Das Interview führte Katja Dorothea Buck
Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Bielefeldt ist Theologe, Philosoph und Historiker und lehrt Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von Juni 2010 bis Oktober 2016 war er Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats