Impulse zur Kasualkultur II: Rechtfertigung der eigenen religiösen Geschichte durch Kontakt zur Kirche
Der Zusammenhang von Kirchenmitgliedschaft und Inanspruchnahme kirchlicher Angebote ist überwiegend nicht mehr plausibel. Gerade im Blick auf die Taufe, die derzeit notwendiges Kriterium für Kirchenmitgliedschaft in Deutschland ist, ist diese Beobachtung gravierend. Zugleich zeigt die aktuelle KMU6, dass Menschen Kontakt zu Religiosität vornehmlich über Kontakt zu Kirchen erlangen. Dabei sind 5% der sog. „Kirchlich-Religiösen“ konfessionslos, bei den „Religiös-Distanzierten“ sind es 18%.
Die Taufquote lag bis 2020 relativ stabil, mit leicht sinkender Tendenz, bei 70%, brach pandemiebedingt in der Folge deutlich ein, mit „Nachholeffekten“ in 2022. Taufbereitschaft ist in älteren Alterskohorten höher als bei Jüngeren; sie sinkt in Partnerschaften deutlich, wenn ein Partner konfessionslos ist. Trotz dieser Effekte sinkt die Taufbereitschaft langsamer als Religiosität im Allgemeinen. Dies könnte darauf hindeuten, dass es besonders plausibel sein könnte, Christsein als Lebensstil zu profilieren gegenüber der Taufe als Integration in ein Religionssystem. Gerade in einer minderheitlichen Kirche drängt dieser Lebensstil auf Anerkennung. Die Taufe ist eine Möglichkeit, diese Anerkennung zu erhalten – durch eine community gemeinschaftlichen Feierns auf Zeit, durch die Symbolpolitiken des Kirchlichen in Gestalt von Kirchraum, Talar und Urkunde.
Aktuelle Kasualkultur als Herausforderung der regionalen Kirchenentwicklung
Der Praktische Theologe Christian Albrecht fragte bereits angesichts einer Evaluation von Segenshochzeiten 2022, ob Kirche perspektivisch einen „religiösen und spirituellen public service“ überhaupt einhalten könne. Die Frage betraf die Dichte, die Breite und die Dauerhaftigkeit solcher Formate und ist anhaltend aktuell.
Die faktische Abkehr vom normativen Sonntagsgottesdienst ist mindestens strukturell noch nicht vollzogen: Um Engagierte zu entlasten, sind dauerhaft vorgesehene Finanzierungsmöglichkeiten zur Förderung des kirchlichen Wandels als Grundaufgabe kirchlichen Handelns vonnöten. Findungskompetenz bezieht sich gegenwärtig und zukünftig eben genau nicht allein auf Innovationspotenzial, sondern wird das „neue Normal“, um als Kirche mit Menschen in Kontakt mit Religion zu kommen. Die Daten der KMU6 zeigen eindrücklich, wie sehr grundlegende Reformen der Kirche erwartet werden, und zwar unabhängig davon, ob Menschen sich einer verfassten Kirche hoch oder lose verbunden fühlen: 80% stimmen zu, wenn es darum geht, Grundlegendes zu verändern.
Diese „neue Normalität“ wird auch in einer kleiner werdenden Kirche vielfältig und divers verfasst sein. Sie wird auf unterschiedliche Bindungslogiken ebenso eingehen wie auf den Umstand, dass die konkreten Akteure und Rahmenbedingungen an einem Ort über Schwerpunktsetzungen im kirchlichen Leben sowie eine Grundausrichtung an traditioneller oder gegenwartshermeneutischer Ausrichtung maßgeblich mitentscheiden.
Erprobungen finden perspektivisch weniger im Bereich der liturgischen Formen statt, weil es hier schon viel Wissen gibt, das sich zunehmend vernetzt. Der zentrale und auch dringliche Erprobungsraum ist das Thema Ressourcen: Wofür wird wer bereit sein, was zu investieren?
Das initiale Engagement von Haupt- und Ehrenamtlichen verschleiert den nötigen Personaleinsatz. Die Evaluation von #deineTaufe in 2023 hat gezeigt, dass die Kampagnenarbeit meist zusätzlich zum „Tagesgeschäft“ erledigt wurde. In Kooperationen, gemeindeübergreifenden Projekten und konzertierter Themenkommunikation wird in einer kleiner werdenden Organisation viel stärker und auf der Basis ehrlicher Daten gefragt werden müssen, was prioritär sein soll.
Der Rückbau des Kirchraums am Ende „besonderer Aktionen“ geht am Ende in der Regel ganz schnell. Weshalb werden keine Spuren zugelassen? Warum darf eine Gottesdienstgemeinde am Sonntag nichts davon sehen, spüren oder hören, was am Tag zuvor geschah? Profitieren christliche Lebensformen etwa auch davon, dass sie sich möglichst gut voneinander abgrenzen? Wird sich eine Rückwirkung des neuen Kasualformats mit seiner Ereignisorientierung, Serialität in der Fläche und hohen Sichtbarkeit im öffentlichen Raum auf das traditionelle Kasualangebot der örtlichen Kirchengemeinden ausmachen lassen?
Der von vielen Menschen geschilderte lange Entscheidungsweg hin zur Taufe lässt danach fragen, ob und wie Kirchen hier Kontaktpunkte definieren und bespielen können oder ob die situative Wachheit und öffentliche Kommunikation solcher Formate im guten Sinne ausreichen, damit Menschen sich auf den Weg in eine Kirche machen. Dies wird eine Kirche sein, von der sie für ihre eigenen Religionsproduktivität Haltung, Impuls und Orientierung erwarten.