Bedford-Strohm: Militärische Gewalt wird den Konflikt nicht lösen
Frankfurt a.M. (epd). Der evangelische Theologe Heinrich Bedford-Strohm beobachtet den Krieg im Nahen Osten in seiner Funktion als Vorsitzender des Weltkirchenrats. Vor wenigen Tagen traf er sich mit dem Hohen Präsidialausschuss für kirchliche Angelegenheiten in Palästina, mit den Eltern der als Geisel festgehaltenen 23 Jahre alten palästinensischen Studentin Layan Nassir sowie mit ärztlichem Personal, das in Gaza im Einsatz ist. Wegen der Sicherheitslage fanden die Treffen nur digital statt. Die Berichte der Menschen nennt Bedford-Strohm „schockierend“.
epd: Wie sehen Sie als kirchenpolitischer Beobachter die aktuelle Situation im Nahen Osten? Wie vermitteln Sie zwischen den verschiedenen Seiten?
Heinrich Bedford-Strohm: Ich fühle mich als Deutscher mit meiner persönlichen Geschichte sowohl den Menschen in Israel als auch in Palästina nahe. Es ist für mich wichtig, die Retraumatisierung, die durch die Angriffe der Hamas am 7. Oktober ausgelöst wurde, zu verstehen und verständlich zu machen. Viele Israelis haben ihr Vertrauen in die Sicherheit verloren. Viele haben sich sicher gefühlt durch eine hochgerüstete Armee und haben jetzt das Gefühl, dass es diese Sicherheit nicht gibt, selbst nicht in dem Land Israel, das viele Jüdinnen und Juden angesichts ihrer Geschichte und des weltweiten Antisemitismus als ihre Lebensversicherung bezeichnen. Genauso müssen wir als Kirchen die jetzige Situation durch den Krieg im Gaza-Streifen in ihrer Drastik verstehen und uns nahegehen lassen. Dazu diente unser Besuch.
Was hören Sie von Ihren Partnern über die Situation in Gaza?
Die Berichte aus Gaza sind schockierend. Das Leid dort ist kaum zu beschreiben, und die Rechtlosigkeit ist tiefgreifend. In Gesprächen mit Ärzten in Gaza haben wir beschrieben bekommen, wie Kinder massiv unterernährt sind, wie Mütter ihre Babys nicht ausreichend ernähren können. Ein Kinderarzt eines christlichen Krankenhauses erzählte von einem der letzten Tage, an dem er 310 Kinder untersucht hat, 105 davon waren unterernährt. Viele Ärzte leben selbst in Zelten und wechseln ihren Standort, je nachdem, wo die israelische Armee gerade Bombardierungen ankündigt. Eine andere Person hat in einem Gespräch sehr bitter gesagt: „Wir wollen auch keine Gebete mehr, wenn kein Handeln folgt, wenn niemand verhindert, was hier passiert.“
Die Drastik und emotionale Wucht in den Berichten erschüttern mich. Bei den Familien der Geiseln auf der israelischen Seite ist ebenfalls nur Verzweiflung. Deswegen fordern wir als Weltkirchenrat dringend einen Waffenstillstand und eine Freilassung aller Geiseln, um diesen Wahnsinn zu stoppen.
Wie bewerten Sie die aktuelle Eskalation?
Die massiven Bombardements in Gaza sind aus meiner Sicht durch nichts mehr zu rechtfertigen, auch nicht durch das Recht auf Selbstverteidigung. Der terroristische Überfall der Hamas am 7. Oktober war grausam und in jeder Hinsicht inakzeptabel, aber Israels militärische Gegenreaktion hat jede Verhältnismäßigkeit hinter sich gelassen. Das Leid, das dadurch verursacht wird, schreit zum Himmel. Ich halte es für eine ganz wichtige Aufgabe des Weltkirchenrats, das Leid auf beiden Seiten sichtbar zu machen.
Empathie bewährt sich dann, wenn sie nicht nur denjenigen gilt, bei denen sie spontan da ist, sondern auch denjenigen, die auf der anderen Seite stehen. Die 102-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer hat kürzlich gesagt: „Es gibt kein christliches, kein arabisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut.“ Dieser eindrucksvolle Satz gilt auch für menschliches Leid. Dass wir uns gerade in Deutschland den Nachfahren der Menschen, die im Holocaust ermordet wurden, besonders nahe fühlen, kann uns nicht davon abhalten, gegen die Gewalt und das Unrecht zu protestieren, das Palästinensern im Gaza-Streifen und auf der Westbank angetan wird.
Man wagt es kaum zu fragen, aber haben Sie eine Perspektive für eine Lösung?
Der erste Schritt muss ein sofortiger Waffenstillstand sein, um die humanitäre Versorgung in Gaza zu sichern und die israelischen Geiseln freizubekommen. Die internationale Gemeinschaft muss ihren Druck hier verstärken. Langfristig ist eine Zwei-Staaten-Lösung für mich der einzige gangbare Weg. Das palästinensische Volk bekäme einen eigenen Staat, und die Rechte aller würden respektiert. Ein gerechter Frieden, der auf internationalem Recht basiert, ist der Schlüssel für eine sichere Zukunft beider Völker.
Wie realistisch ist dieser Traum in der aktuellen Situation?
Im Moment scheint dieser Traum noch fern. Man muss ja die Frage stellen, wohin der Krieg führen soll. Und die Antwort ist aus meiner Sicht: Seine Fortsetzung führt nur zu einem andauernden Blutbad. Der einzige Weg zu einer langfristigen Sicherheit, die ich mir für die Menschen in Israel genauso sehr wünsche wie für die in Palästina, ist ein gerechter Frieden, der den Hass auf beiden Seiten überwindet. Dass die brutalen Morde der Hamas-Kämpfer am 7. Oktober auf palästinensischer Seite nur noch mehr Leid verursacht haben, sehen wir jetzt. Wenn man umgekehrt auf israelischer Seite allein auf militärische Gewalt setzt, wird man immer neue Hamas-Kämpfer produzieren. Die Gewaltspirale geht immer weiter. Damit muss endlich Schluss sein!
epd-Gespräch: Franziska Hein